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Trauerrede Mertens März

Trauerrede auf Christoph März
von Prof. Dr. emer. Volker Mertens

Der einsame Menschenfreund

Herr Dekan, Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende, liebe Gäste!

Wir betrauern einen bedeutenden Forscher, einen liebenswürdigen Kollegen – ich betrauere obendrein einen Freund.

Ich kenne Christoph März seit fast zwanzig Jahren. Getroffen habe ich ihn auf dem Internationalen Mediävistischen Colloquium im Jahre 1987. Dahinter verbirgt sich ein Kreis von älteren und jüngeren Mediävisten aus vielen Ländern, der vor mehr als dreißig Jahren von Karl Bertau und Helmut (Ivar) Brackert gegründet wurde und sich seither jedes Jahr für eine Herbstwoche in den verschiedenen Ländern trifft. Ich bin seit 1980 dabei. Christoph März kam zum ersten Mal zu uns, als wir in Cap Coz in der Bretagne tagten, organisiert hatte das Treffen unser französischer Kollege René Perennec, selbst Bretone. Christoph hatte gerade seine Dissertation über den spätmittelalterlichen esoterischen Lyriker Heinrich Frauenlob veröffentlicht, aber er sprach über etwas Französisches, einen Lai der hochmittelalterlichen Autorin Marie de France. Er reagierte auf eine für ihn typische Weise auf den Genius loci, nahm elegant die implizite Herausforderung an: Die Verserzählungen beruhen auf bretonischen Quellen. Er zeigte seine Fähigkeit, genaue Textlektüre mit der Eröffnung weiter literarischer und mythischer Dimensionen zu kombinieren. Ein Tüfftler, ja, aber mit viel Phantasie. Ein sehr gelungener Einstand war das in unserem Kreise. Ich selbst fand damals, wie auch später, sein Interesse am Lied des späten Mittelalters in seinen textlichen wie musikalischen Erscheinungsformen als besonders konkordant mit meinen Neigungen. Auf diese Thematik kamen wir bis in die jüngste Zeit immer wieder zurück, sie verband in besonderer Weise seine philologischen und hermeneutischen Kompetenzen in Literatur und Musik. Wir blieben im Gespräch, trafen uns auf Konferenzen. Über gemeinsame Fachinteressen und die Liebe zur Musik stellte sich langsam Vertrautheit her.

Es hat lange gedauert, bis wir zum freundschaftlich kollegialen Du übergingen. Wir schätzten einander von Anfang an, hatten ähnliche Interessen und Fragestellungen, lieben beide die Musik – aber es war etwas um ihn, das Distanz zu wünschen schien – auf die freundlichste Art. Was war der Grund dafür, habe ich mich bald gefragt. Nicht Arroganz, aber auch nicht übertriebener Respekt für den immerhin 20 Jahre Älteren und mittlerweile Arrivierten. Beides war ihm fremd. Er war selbstkritisch, aber selbstbewusst, was seine Intellektualität und seine Arbeit anging. Er erkannte an, war aber durchaus kritisch. Ich hatte bis zum Schluss, immer wieder einmal das Gefühl, er wolle einem nicht lästig fallen und hielt deshalb das Gespräch eher kurz. Er hielt jeden Menschen für etwas Besonderes, worauf weder er noch der andere sich etwas einzubilden hätten. Seine Zurückhaltung beruhte auf einer hohen Wertschätzung der Individualität. Das gab den Momenten der Zugewandtheit und Offenheit viel Wärme und Freundlichkeit. Verletzend war er nie, selbst, wenn er sich ärgerte. Ein einsamer Menschenfreund. Verstellen konnte und wollte er sich nicht, er war kein Taktierer und kein Kämpfer – außer für  die Sache. Er glaubte, oder hoffte zumindest, dass gesunder Menschenverstand sich ohne durchsetze und war enttäuscht, wenn das nicht der Fall war. Seine Unbeirrbarkeit habe ich sehr bewundert. Er habilitierte sich zu einem Zeitpunkt, in dem Stellen rar waren. Er gehörte keiner Seilschaft an, seine Vorträge waren nicht auf die gängigen Turns geturnt. So bewarb er sich wieder und wieder, landete auf Listen, aber andere wurden vorgezogen. Er gab nicht auf, was ich wahrscheinlich getan hätte. Er glaubte an sich und seine Fähigkeiten, etwas zur Forschung beitragen zu können, was nur er konnte und was – wie sich bald zeigte – bedeutsam war und ist. Das habe ich bald gespürt.

Als dann die FU ihn berief, war das ganze Fach erleichtert.  Alle hatten es ihm schon längst gewünscht. Und er ergänzte in glücklicher Weise die vorhandenen Kompetenzen, war aber zugleich anschlussfähig. Dann kam der Stellenabbau, wie er extern und intern gewollt war. Die Ältere Literatur wurde zurückgeschnitten, das glückliche Gleichgewicht geriet aus dem Lot. Und seine Krankheit griff ihn an. Er war tapfer, sehr tapfer, machte weiter. Besorgten Nachfragen entgegnete er "geht schon, geht schon." Unsere academic comnumity fördert nicht eben, sich Sorgen zu machen um den anderen. Ich habe die Signale hinter dem "Du brauchst dich nicht um mich zu kümmern" zu schnell überhört. Dass nach der schweren gesundheitlichen Krise jetzt wirklich alles besser sei, wollte ich zu gern glauben. Er allerdings auch. Noch Mitte September sagte er zu meiner Frau, die vor 1 ½ Jahren lebensgefährlich erkrankt war: "Wir beide gehören zu denen, die es geschafft haben". So meinte ich es auch. Christoph März war ein Exempel dafür, das man dem anderen Menschen nur nahe kommen kann, wenn man Geduld hat – die wir in unserer Umtriebigkeit zu wenig aufbringen.

Es gab wenige Menschen, die er Freunde nannte. Ich bin froh, dass ich dazu gehörte. Wir waren, kurz bevor er zum ersten Mal so schwer und lebensgefährlich stürzte, bei einem jüngeren Kollegen zu Gast, der zwei kleine Söhne hat. Als einer der Jungen fragte: "Seid ihr Brüder oder Freunde?", lachten wir beide. Christoph sagte darauf: "Brüder – nein. Freunde" – er zögerte etwas – "Freunde, ja!" Und zu meiner Abschiedsvorlesung im Juli dieses Jahres schrieb er mir seine sehr freundschaftliche Briefkarte, die etwas von Einsamkeit verriet, die um ihn blieb. Ich habe sie sehr bewegt jetzt wieder gelesen.

Seine wissenschaftlichen Beiträge waren immer eine Freude zu lesen. Nicht nur ihrer gedanklichen Originalität wegen, sondern auch, weil sie so frisch und sprachbewusst formuliert sind. Hohles terminologisches Geklingel war ihm zuwider. Er hielt es mit Johann Gottfried Herder. "Nun hat man eine Menge von Wörtern im Munde, von deren keinem man die Sache gesehen ... alle diese Worte, sind sie bei dir in diesem Augenblicke dasselbe, was sie bei den Künstlern waren, die sie ihren Werken einflößten? Was sie bei den gerührten Betrachtern waren, die sie lebendig vom Kunstwerk abrissen und gleichsam erfanden? Nun tote entschlafene Letternseele..."

Letternleichen sind die Wörter nie bei Christoph März. Er schwenkt keine Fahnenwörter, das war ihm zu vulgär. Er schrieb weder das ritterliche Germanistische der alten Schule noch die antragsähnliche Prosa der neuen, die mit ihren buzz words mehr gruppendynamische als erhellende Funktion hat.

Man muss und kann seine Texte sehr aufmerksam lesen – sie lohnen es: sie überraschen, sie erfreuen mit ihren gedanklichen Finessen und ihres Sprachwitzes. Christoph März war sehr kritisch, v. a. aber selbstkritisch, seinen Einfällen gegenüber wie der Weise, wie er sie aussprach und niederschrieb. Wenn ich ihn lese, überlege ich, ob mir das Formulieren nicht manchmal zu schnell von der Hand geht und ich werde kritischer mir selbst gegenüber.

Seine Publikationen haben ein gemeinsames Zentrum: das im weitesten Sinn Musikalische. Darum weist natürlich die intensive Beschäftigung mit dem spätmittelalterlichen Lied, sein Herzensthema. Aber auch der althochdeutschen Literatur hat er sich auf eine "musikalische" Weise genähert, über seine Sensibilität für die sprachliche, klangliche Seite. So konnte er der Metrik, eine Disziplin, die nicht nur die Studenten fürchten, neue Dimensionen abgewinnen – sein Aufsatz heißt daher "Eine Wissenschaft zwischen Zählung und Schwärmen". Ich will hier nicht seine  Veröffentlichungen im Einzelnen würdigen, muss aber – in Bekräftigung dessen, was Nicola Zotz gesagt hat, sein Opus magnum ansprechen. Es heißt im charakteristischem Understatement: Die weltlichen Lieder des Mönchs in Salzburg. Texte und Melodien hg. und kommentiert.

Dahinter verbirgt sich die wichtigste Publikation zum spätmittelalterlichen Lied der jüngeren Forschungsgeschichte. Die Erarbeitung der schwierigen Überlieferung, die singuläre Kombination von philologischer Kompetenz und musikwissenschaftlicher Disziplin stellt nicht nur unsere Kenntnisse eines der wichtigsten spätmittelalterlichen Liedautoren auf eine neue Grundlage. Christoph März erhellt die Existenzform des Liedes zwischen Mündlichkeit und verschiedenen Schriftlichkeiten, die Beziehungskomplexe  verschiedener literarischer Schichten, die Übernahme französischer Anregungen. Das Buch ist mehr als eine Fundgrube, es ist ein Modell und wird für lange Zeit beides bleiben. "Eine ganz unglaubliche Leistung", sagt eine Kollegin, die als Spezialistin auf diesem Gebiet gilt. Ich kann dazu anmerken, dass ich selbst einmal den Plan  verfolgt habe, mich über spätmittelalterliche Lyrik zu habilitieren, aber das Ganze nicht in den Griff bekam und den leichteren Weg zu Hartmann von Aue wählte.

Der Liedkunst galten auch die jüngsten Bemühungen von Christoph März. Er hat die Revision der Oswald-von-Wolkenstein-Ausgabe für die Altdeutsche Textbibliothek noch fertig stellen können. Eine große Neuausgabe mit Melodien war in Angriff genommen, ein Antrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft in Arbeit. Sie hätte für Oswald das sein sollen, was die Habilschrift für den Mönch von Salzburg bietet, der Musikwissenschaftler Lorenz Welker aus München wollte mitarbeiten – die Sichtung des Nachsatzes wird ergeben, wie weit die Vorarbeiten geschehen sind. Wichtig wäre die Edition, da über Oswald viel geschrieben wird, die philologischen Grundlagen jedoch dringend unter den neuen Fragestellungen aufgearbeitet werden mussten.

Das weite große Forschungsgebiet von Christoph März, das er auch in der Lehre engagiert vertreten hat, ist die althochdeutsche und frühmittelhochdeutsche Literatur. Eine Otfriedübersetzung war lange in Arbeit, wie weit sie seiner Selbstkritik standgehalten hat, ist mir nicht bekannt. Übersetzen ist ja ein unabschließbarer Prozess, immer  fallen einem noch präzisere, evokativere Formulierungen ein, wie ich aus eigener freudvoll-leidvoller Erfahrung weiß.

Walther von der Vogelweide, dem Christoph März eine Studie gewidmet hat, beklagt seinen Kollegen Reinmar:

Owê, daz wîsheit unde jugent,

des mannes schoene noch sîn tugent

nicht erben sol, sô in der lîp erstirbet!

Mit Christoph März sind uns große Hoffnungen verloren, aber ein reicher Besitz bleibt: Nein, mein Freund von der Vogelweide hat nicht recht: des mannes wîsheit kann erben, bleibt in den Schriften, ihren Ergebnissen, ihrer nie stereotypen Formulierungskunst.

Und die tugent – die menschlich schönen Eigenschaften, sie bleiben in unserer Erinnerung. Liebenswürdigkeit und Aufrichtigkeit, Originalität und Unaufdringlichkeit, diese seltene Kombination werde ich, werden wir sehr vermissen.

Das Leben ist nur dann ein Zufallsgenerator der Begegnungen, wenn wir sie nicht annehmen. Ich dankbar dafür, dass wir uns gekannt und gemocht haben.