Einladung zum 3. AVL-IC : Katja Haustein "Feeling for the Sense" — Takt und die Kunst der Interpretation.
Takt, wenn überhaupt verhandelt, wird leicht abgetan als ein veraltetes Konzept. Elitär, reaktionär, ein Instrument des bildungsbürgerlichen Machterhalts und der sozialen Abgrenzung, so haben Sartre, Bourdieu und Foucault den Begriff definiert. Takt ist all das. Er kann aber auch, und das möchte ich in meinem Vortrag zeigen, als ein Mittel zum Ausgleich von Unterschieden verstanden werden, als distanzierte Form der Aufmerksamkeit und Fürsorge. Takt ist ‚der ewig wache Respekt vor der anderen Seele‘, schrieb Helmuth Plessner 1924. Er entzieht sich Konventionen und Klassifizierungen, erklärte Adorno 1951. Er ermöglicht Rollenspiel und Verführung, betonte Truffaut 1968. Er ist eine Quelle der vorsätzlichen Richtungslosigkeit und der Lust, sagte Barthes 1977, womit er auch meinte: die Lust an der Interpretation. Um eben diese Verbindung zwischen Takt und Auslegung soll es in meinem Vortrag gehen. Ich skizziere zunächst die Geschichte des Begriffs, um dann zu rekonstruieren, wie Takt – verstanden als eine individuelle und intuitive Abweichung von allgemeinen Grundsätzen und gesellschaftlichen Normen – zu einer Schlüsselkategorie der modernen und zeitgenössischen Hermeneutik werden konnte. Anhand einer Reihe von Lesebegegnungen mit Autoren wie Truffaut, Gadamer und Marielle Macé zeige ich, wie Takt an Bedeutung gewinnt, wenn in Krisenzeiten traditionelle Umgangsformen ihre Wirkung verlieren, und alternative Kommunikationsweisen entwickelt werden müssen. Letztendlich geht es mir darum zu erkunden, wie wir miteinander – aber auch mit Texten, Bildern und Kunstwerken – umgehen sollen, um zugleich den Takt als zentrale ethische und ästhetische Kategorie zu etablieren.
Biogramm: Katja Haustein lehrt Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of Kent. Nach dem Studium am Peter Szondi Institut und einer Promotion in Cambridge war sie Max Weber Fellow am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und British Academy Research Fellow in Cambridge. Zu ihren Veröffentlichungen gehören Regarding Lost Time: Photography, Identity, and Affect in Proust, Benjamin, and Barthes (Oxford: Legenda, 2012) und Alone with Others: An Essay on Tact in Five Modernist Encounters (Cambridge UP, 2023).
Zeit & Ort
02.07.2025 | 18:00 c.t. - 20:00
Freie Universität Berlin
Raum: KL 32/202
Habelschwerdter Allee 45
14195 Berlin