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Lüge und Manipulation in der antiken griechischen Literatur

Vortragsankündigungen


16.06.    Demagogie und Demokratie. Zur rhetorischen Verführbarkeit bei Thukydides (Maximilian Knade)

In Krisenzeiten feiern Demagogen Hochkonjunktur. Keine Zeit bietet sich besser an, um das zu beobachten, als die des ersten demokratischen Experiments der Geschichte. Dieses finden wir in der griechischen Antike, die bereits um Figuren wusste, die durch manipulative Reden versuchten, die Massen zu verführen.

Einer der ersten Politiker, der von der Geschichtsschreibung mit dem Wort δημαγωγός (dēmagōgos) bezeichnet wurde, war Kleon aus Athen. Dieser wurde nicht nur zur Zielscheibe der Komödie, sondern genießt auch bei Thukydides keinen guten Ruf. Der Historiker, der sonst auf seine wissenschaftliche Methode bedacht zu sein scheint, ließ sich hier zu starken Beurteilungen hinreißen. So sei Kleon der „gewalttätigste aller Bürger“, der dennoch hochangesehen beim Volk war.

Untermauert wird diese Charakterisierung von einer zentralen Textstelle in Thukydides’ Werk, der Debatte um das Schicksal der abtrünnig gewordenen Mytilenier. Thukydides schreibt Kleon hier eine Rede zu, in der dieser für eine gnadenlose Bestrafung argumentiert, intellektuelles Abwägen verunglimpft und vor einem bloß „abgestumpftem Zorn“ warnt.

Im Vortrag wollen wir die Mytilenische Debatte rekonstruieren und Kleons Werdegang im Peloponnesischen Krieg nachzeichnen. Wir wollen festmachen, wie er mit der politischen Gemeinschaft interagierte. Was können wir über das Wesen der Demagogie lernen? Was über die Gefahren für Demokratien in Krisenzeiten? Und welche persönlichen Gründe könnte Thukydides gehabt haben, Kleon in solch ein schlechtes Licht zu rücken?

 

23.06.    Schmeichelei als Manipulation. Plutarchs „Wie man den Schmeichler vom Freund unterscheiden kann“ (Michelle Marú)

Sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene erfolgt Manipulation normalerweise durch die Erregung unangenehmer Emotionen wie Furcht, Traurigkeit und Wut. Eine andere und vielleicht gefährlichere Art von Manipulation wird jedoch durch angenehmes Lob ermöglicht: die Schmeichelei. Der Gelehrte Plutarch aus Chaironea untersucht dieses Phänomen in Quomodo adulator ab amico internoscatur (Wie man den Schmeichler vom Freund unterscheiden kann). In dieser Schrift, die seinen moralphilosophischen Schriften (Moralia) zugeordnet wird, expliziert Plutarch, unter welchen Bedingungen übelgesinnte Menschen die komplexe Kunst (τέχνη | téchnē) der Schmeichelei ausüben. Die größte Gefahr der Schmeichelei bestehe laut Plutarch darin, dass sie der Freundschaft enorm ähnele. Freundschaft und Schmeichelei nicht scharf trennen zu können, „macht die wahre Freundschaft verdächtig“ (Plut. Mor. 51a), was impliziert, dass man Freundschaften aus Versehen zerstören kann, wenn man sich eigentlich von einem Schmeichler befreien will.

Plutarch veranschaulicht durch medizinische, kulinarische, zoologische und pflanzliche Metaphern sowie durch Beispiele aus der Geschichte der griechisch-römischen Antike die charakteristischen Merkmalen der Schmeichelei, die sie von der Freundschaft unterscheiden. Er nennt auch Persönlichkeitsmerkmale, die die meisten Menschen zu leichten Opfern der Schmeichelei machen. Wie ein guter Arzt diagnostiziert er nicht nur diese Merkmale, sondern empfiehlt konkrete „Heilmittel“ bzw. Ratschläge, wie man sich vor der Schmeichelei hüten und wahre Freunde erkennen kann. In Plutarchs Unterscheidung der Freundschaft von der Schmeichelei spielen Konzepte wie Redefreiheit/Freimütigkeit (παρρησία | parrhēsía), Nachahmung (μίμησις | mímēsis), Selbstgefälligkeit/Selbstliebe (φιλαυτία | philautía) und Selbsterkenntnis (Γνῶθι σεαυτόν | gnōthi seautón) eine fundamentale Rolle, die uns vielleicht den Schlüssel geben können, heute übliche Manipulationstechniken effektiv zu konfrontieren.

 

30.06.    Alle Dichter lügen? Zum Verhältnis von Dichtung und Wahrheit in Hesiods Theogonie (Christian Vogel)

Bereits in der Antike wurde gesagt, Hesiod habe den Griechen ihre Götter „geschenkt“. In seiner Theogonie erzählt er die Entstehung der Welt und der göttlichen Ordnung. Doch wie viel von diesem Erzählten ist wirklich wahr? Gleich zu Beginn seiner Dichtung nennt Hesiod eine bemerkenswerte Quelle für sein Wissen: die Musen, göttliche Wesen, die ihn inspirieren. Doch bevor sie ihm die Geschichte über die Entstehung der Welt vermitteln, sagen sie etwas Unerwartetes: „Wir wissen, Lügen zu reden, genauso wie Wahres zu sagen.“

Diese überraschende Aussage wirft grundlegende Fragen auf: Was bedeutet es, wenn eine Erzählung, die als wahr dargestellt wird, sich selbst als möglicherweise lügnerisch bezeichnet? Wie lässt sich zwischen Wahrheit und Fiktion unterscheiden, wenn beide Elemente miteinander verwoben sind? In diesem Vortrag gehen wir diesen Fragen nach und betrachten, welche Bedeutung die ambivalente Musenrede für das poetische Selbstverständnis Hesiods hat. Verbirgt sich im Mythos vielleicht doch mehr Wahrheit, als der antike Vorwurf „Alle Dichter lügen!“ zunächst vermuten lässt?

 

07.07.    Manipulation durch Götter. Zeus’ trügerischer Traum in der Ilias (Jonas Sültmann)

Bereits im Proömium der Ilias findet sich der folgende programmatische Satz: Διὸς δ’ ἐτελείετο βουλή – „und es erfüllte sich der Wille des Zeus“. Auch wenn es in modernen Darstellungen des antiken Stoffs – etwa im Film ‚Troja‘ von Wolfgang Petersen – nicht immer den Anschein erweckt, ist die Handlung der Ilias ohne die Götter nicht denkbar. Allen voran ist es Zeus, der Göttervater, der die Geschicke der Menschen lenkt, diese im Kampf entweder überleben oder sterben lässt, sich an ihrem kriegerischen Treiben bisweilen ergötzt – und sie für seine eigenen Zwecke sogar schamlos manipuliert!

Bereits zu Beginn des zweiten Buches der Ilias nimmt Zeus entscheidenden Einfluss auf das Kriegsgeschehen. Nachdem es im griechischen Heer zu einem folgenschweren Streit zwischen Agamemnon, dem Oberbefehlshaber, und Achill, dem besten Krieger, gekommen ist, gerät der griechische Feldzug ernstlich in Gefahr: denn Achill ist so entrüstet über Agamemnons Verhalten, dass er den Griechen seinen Dienst versagt, die nunmehr auf ihren besten Mann verzichten müssen. Infolgedessen kann der grollende Achill mithilfe seiner göttlichen Mutter dem Göttervater ein Versprechen abringen: Agamemnon soll Achills Fehlen im Kampf schmerzlich erfahren und bereuen, dass er seinen wichtigsten Krieger derart gekränkt hat. Damit Agamemnon in dieser Ausnahmesituation seine Männer (ohne Achill!) überhaupt kämpfen lässt, muss Zeus auf einen Trick zurückgreifen: Er manipuliert Agamemnon mithilfe eines Traums…

Diesen Teil der Iliashandlung zeichnet die Vorlesung detailliert am Text nach. Im Zentrum der Veranstaltung soll dabei nicht nur die Frage stehen, auf welche Weise Agamemnon von Zeus manipuliert wird. Aus einer philologischen Perspektive werden wir ebenfalls auf zahlreiche Merkwürdigkeiten dieses Plots eingehen – und uns fragen, inwieweit dies mit der Entstehung der Ilias zusammenhängen könnte.

 

14.07.    Wahrheit oder List? Täuschen und Selbsttäuschung bei Sophokles (Gregory Dikaios)

Was geschieht, wenn der Mensch der Wahrheit beraubt wird – oder sich selbst von ihr abwendet?

In meinem Vortrag untersuche ich verschiedene Formen der Täuschung (ἀπάτη), der bewussten Lüge (ψεῦδος), der List (δόλος) sowie der Intrige (μηχανή), also der gezielten Täuschung.

Im Zentrum stehen die vom athenischen Dichter Sophokles verfassten Tragödien Aias und Philoktet; sie erzählen von tragischen Figuren, die Opfer raffinierter Manipulation werden – nicht zuletzt durch Odysseus, den einfallsreichen (πολυμήχανος) Taktiker.

Darüber hinaus interessiert mich die Selbsttäuschung als tragische Verblendung, wie sie Ödipus erleidet: Was geschieht, wenn ein Mensch aufrichtig irrt – und wann, wie und mit welchen Folgen wird die Wahrheit offenbar? Auch gezielte Zurückhaltung der Wahrheit spielt eine Rolle – etwa bei Orest, der in Sophokles’ Elektra aus taktischen Gründen seinen Tod vortäuscht und selbst seine Schwester zunächst nicht in dieses Vorhaben einweiht.

Ein zentraler Aspekt meiner Analyse gilt der tragischen Ironie als dramaturgischem Mittel indirekter Kommunikation zwischen Bühne und Publikum: Während die Figuren im Dunkeln tappen, hat das Publikum die Wahrheit längst durchschaut – und wird so zum stillen Zeugen ihrer Täuschung und ihres tragischen Scheiterns. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür findet sich ebenfalls in Sophokles’ Elektra: Als die Titelfigur vom angeblichen Tod ihres Bruders Orest erfährt, nimmt sie die Nachricht als wahr an und beklagt ihn in großer Verzweiflung – während das Publikum, das um die Wahrheit weiß, ihr Leiden mitfühlt und der Auflösung der dramatischen Szene entgegenfiebert.

Untersuchen wir also, wie Lüge, Wahrheit und Intrige in den Tragödien des Sophokles miteinander verbunden sind.