In Gottfried Kellers Novellenzyklus Das Sinngedicht wird in einer Versuchsanordnung der Streit zwischen den beiden Kulturen des naturwissenschaftlichen Erklärens und des hermeneutischen Verstehens ausgetragen. Übersehen wurden dabei bislang die gattungspoetologischen Implikationen dieses als Erzählstreit ausgetragenen Konflikts. Keller verteidigt eine Gattunspoetik der Novelle, die offene Versuchsanordnungen ermächtigt und sich selbst als ein - auch anthropologisch fundiertes - wildes Erzählen situiert. Gegen die zeitgenössische szientistische, auf einen restriktiv geschlossenen Experimentbegriff aufbauende Novellenpoetik wird hier das Einzelne, Überraschende, Zufällige und Phänomenale ins Recht gesetzt. Auch die Thematik des Wilden und seiner Kultivierung sowie die des Menschenexperiments und ihrer Dokumentation in Lebensbüchern und Beispielgeschichten lässt sich von daher erhellen.