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Marlene Streeruwitz - Samuel Fischer-Gastprofessorin im Wintersemester 2001/2002

Marlene Streeruwitz

Marlene Streeruwitz

Im Wintersemester 2001/2002 lehrte die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz als Samuel Fischer-Gastprofessorin für Literatur am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft.

Frau Streeruwitz bot ein Seminar mit dem Titel Subjekt. Prädikat. Objekt. Gebrauch, Nutzen und Begriff von Texten im Alltag an, in dem sowohl Pro- als auch Hauptseminarscheine erworben werden konnten.

 

Kurzvita

Marlene Streeruwitz, geboren 1950 in Baden bei Wien, studierte zunächst Jura und dann Slawistik und Kunstgeschichte in Wien. Sie arbeitete als Redakteurin für eine Öko-Zeitschrift und verfaßte Hörspiele für diverse Rundfunksender sowie grotesk-amüsante Theaterstücke für wichtige Bühnen des deutschsprachigen Raums. Ihre makaberen Dramen versteht sie als Kampfansagen an die klassischen Autoren wie Shakespeare und Goethe, deren Stücke sie als »Langeweile des Phallus zwischen den Orgasmen« bezeichnete.

Außerdem veröffentlichte Frau Streeruwitz Lyrik sowie in jüngerer Zeit mehrere Romane. Ihr theoretisches Werk (Tübinger und Frankfurter Poetikvorlesungen) dreht sich um die Frage, was Schreiben für Frauen bedeutet. Hier analysiert sie, wie Frauen um ihre Identität ringen in einer Gesellschaft, in der Sprache seit Jahrhunderten patriarchal besetzt wird. Marlene Streeruwitz’ Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis 1996 und dem österreichischen Würdigungsstaatspreis für Literatur 1999.

 

Publikationen

Romane:
  • Lisa’s Liebe.
    Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1997.

  • Verführungen. 3. Folge. Frauenjahre.
    Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1997.

  • Nachwelt. Ein Reisebericht.
    Frankfurt am Main (S. Fischer) 1999.

  • Majakowskiring.
    Frankfurt am Main (S. Fischer) 2000.
 

Theaterstücke:
  • Waikiki-Beach. Und andere Orte. Die Theaterstücke.
    Frankfurt am Main (S. Fischer) 1999.

    • Waikiki-Beach. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1992.
    • Sloane Square. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1992.
    • Ocean Drive. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1992.
    • Brahmsplatz. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1993.
    • New York. New York. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1993.
    • Elysian Park. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1993.
    • Bagnacavallo. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1993.
    • Tolmezzo. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1994.
    • Dentro. Frankfurt am Main (S. Fischer) 1999.
    • Baccaleone. Frankfurt am Main (S. Fischer) 1999.
 

Poetikvorlesungen:
  • Sein. Und Schein. Und Erscheinen. Tübiner Poetikvorlesungen.
    Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1997.

  • Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen. Frankfurter Poetikvorlesungen.
    Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1998.

  • Zukunft? Zukunft. 10. Tübinger Poetikvorlesung. Mit Zoë Jenny, Yoko Tawada und anderen.
    (Konkursbuch) 2000.
 

Sonstiges:
  • Frühstück und Gewalt. Prosa und Szenen. Mit Jürgen Wertheimer.
    (Konkursbuch) 1997.

  • Hexenreden. Mit Gisela von Wysocki und Birgit Vanderbeke.
    (Wallstein) 1999.

  • Und. Sonst. Noch. Aber.
    (edition selene) 1999.

  • Und. Sonst. Noch. Aber ... Texte II. 1997-2000.
    (edition selene) 2000.

  • Und. Überhaupt. Stop.
    (edition selene) 2000.



Informationen im World Wide Web

 

Medienecho

  • 1. Dezember 2001, »Kurier«:
    apa: »Streeruwitz erhält Gastprofessur in Berlin«.

  • 5. Dezember 2001, »Berliner Zeitung«:
    ddp: »Marlene Streeruwitz wird Gastprofessorin an der FU«.

  • 5. Dezember 2001, »die tageszeitung«:
    o. A.: o. T.
    http://www.taz.de/pt/2001/12/05/a0142.nf/text.

  • 6. Dezember 2001, »Der Tagesspiegel«:
    Meike Fessmann: »›Hansi und Goldi‹. Marlene Streeruwitz’ Auftakt als Berliner Gastprofessorin«.
    http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/05.12.2001/ak-ku-4413943.html.

  • 6. Dezember 2001, »Süddeutsche Zeitung«:
    Lothar Müller: »›Die Hamsterlüge‹. Marlene Streeruwitz gegen das Dirndl und den Rest der Welt«.

  • 6. Dezember 2001, »Frankfurter Rundschau«:
    FR: »Marlene Streeruwitz und der Text im Alltag«.

  • 22. Dezember 2001, »Frankfurter Rundschau«:
    Marlene Streeruwitz: »›Vom Leben der Hamster in Schuhschachteln‹. Was die Kleintierhaltung mit Nationalismus und Krieg gemein hat – Eine Aufklärung«.

  • 6. Januar 2002, »Der Tagesspiegel«:
    Meike Fessmann: »Ihr Schneckenhaus steht überall«.
    http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/05.01.2002/ak-ku-229012.html.

  • 6. Januar 2002, »Die Welt«:
    o. A.: »Karrieren in Berlin«.
    http://www.welt.de/daten/2002/01/06/0106b02306227.htx.

  • 8. Januar 2002, »Hamburger Abendblatt«:
    Barbara Möller: »›Innenwelt-Protokolle in Stakkato-Prosa‹ – Hesse-Preisträgerin Marlene Streeruwitz hält heute ihre erste Vorlesung in Berlin«.

  • 8. Januar 2002, »Hamburger Abendblatt«:
    BaM: »Mit viel Erfolg gescheitert«.

  • 15. Januar 2002, »Berliner Zeitung«:
    Eva Corino: »›Die Macht der Katalogseite‹ – Marlene Steeruwitz ist Samuel-Fischer-Gastprofessorin«.
    http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/
    .bin/dump.fcgi/2002/0115/feuilleton/0020/index.html
    .

  • 06. Februar 2002, Sendung »Kulturzeit« in »3sat«:
    o.A. (Interview): »›Die Hamsterlüge‹ – Wie der 11. September unsere Sprache verändert hat«.
    http://www.3sat.de/kulturzeit/themen/28822/index.html.

  • 22. Februar 2002, Sendung »Der Rede wert« im »SWR2«:
    Marlene Streeruwitz: »›Vom Leben der Hamster in Schuhschachteln‹. Was die Kleintierhaltung mit Nationalismus und Krieg gemein hat – Eine Aufklärung«.
 

Bericht

Nach Vladimir Sorokin (Rußland), V. Y. Mudimbe (Congo), Kenzaburo Oe (Japan), Scott Bradfield (USA) und Sergio Ramírez (Nicaragua) kam Marlene Streeruwitz (Österreich) als sechste Samuel Fischer-Gastprofessorin für Literatur im Wintersemester 2001/02 ans Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin. Die unter anderem mit dem »Hermann Hesse Preis«, dem »Walter Hasenclever Preis«, dem »Mara Cassens Preis« und dem österreichischen »Würdigungsstaatspreis für Literatur« ausgezeichnete Autorin war die erste deutschsprachige Inhaberin der Gastprofessur.

Frau Streeruwitz bot ein Seminar an, Subjekt. Prädikat. Objekt. Gebrauch, Nutzen und Begriff von Texten im Alltag, das sich aus einer feministischen Perspektive der Analyse verschiedener Formate literarischer und populärer Kultur widmete: politische Reden, Nachrichtensendungen, Filme, Fernsehmagazine, Werbung, TV-Serien, Liebesromane, Comics und Computerspiele. Als theoretische Ergänzung wurden Schriften von Elias Canetti, Simone de Beauvoir und Susan Sontag herangezogen.

Frau Streeruwitz wählte eine Reihe von Gegenständen, die sich allesamt unter dem erweiterten Begriff »Text« fassen lassen, also als ideologische Arrangements lesbare kulturelle Produkte, die sie gemeinsam mit den Studierenden untersuchte. Dabei stellte die Autorin eigene, über das jeweilige Thema verfaßte Arbeiten vor und diskutierte die Beiträge von TeilnehmerInnen des Kurses mit dem gesamten Seminar.

In ihren eigenen Beiträgen geht Marlene Streeruwitz stets von persönlichen Erfahrungen aus. Beispielsweise von einem einsamen Fernsehabend im Berliner Hotel »Intercontinental«, in dessen Verlauf sie zwischen einer Inszenierung von Arthur Schnitzlers »Anatol«, einer »Sissy«-Verfilmung und einem Softporno hin- und herzappte und auf diese Weise auf den ersten Blick äußerst verschiedene Filme ineinander schnitt.

Frau Streeruwitz entwickelt in diesem Zusammenhang eine Poetik des Pornofilms. »Auch der einfachste Porno ist immer noch ein Text«, behauptet sie, insofern es sich um eine keineswegs zufällige Auswahl von Zeichen handelt. Der Erzähler hinter der Kamera fungiere nicht nur als stellvertretender Voyeur, sondern geradezu als ›Autor‹. Er etabliere eine männliche ›Autorenfunktion‹. Wie jeder Text verlange auch der Pornofilm von seinen Rezipienten, in diesem Fall von den Zuschauern, eine Art ›Ko-Autorschaft‹, die immer auch eine »Komplizenschaft« sei.

Eine solche ›Komplizenschaft‹ sei in vergleichbarer Weise beispielsweise auch in einem TV-Gespräch zwischen dem Fotomodell Verona Feldbusch und der »Emma«-Herausgeberin Alice Schwarzer deutlich geworden. Feldbusch habe hier einen vordergründigen »Sieg« erringen können, indem sie als diejenige aufgetreten sei, die »die Männer besser versteht«. Dank ihrer ›Komplizenschaft‹ mit der Männersprache, dank ihres »antrainierten Mannes« in ihr selbst, dank ihres Wissens über die ›Mächtigen‹ sei eine Frau in der Lage, an deren Macht teilzuhaben. Das Verhältnis einer solchen Frau zu den Männern sei daher ein eigentlich homoerotisches. (Gleich in der ersten Seminarsitzung kam es zu einer regen Diskussion mit den TeilnehmerInnen, zu denen auch Alice Schwarzer zählte.)

Was bedeutet es dagegen, als Frau zu lesen? Wenn wir lesen, überantworten wir uns also stets an eine Autoreninstanz, die eigentlich männlich konnotiert sei. Auch Frauen werden also genötigt, überwiegend männlich fabrizierte Texte zu entschlüsseln und deren »Leerstellen« (wie es in der Rezeptionsästhetik heißt) zu überbrücken. Sie sind dazu gezwungen, einen, so Streeruwitz, »Lesemann« zu entwickeln. Die Gefahr für sie bestehe darin, daß »immer irgendetwas hängenbleibt« bzw. daß die lesende Frau Elemente oder Ideologeme der männlich codierten Texte übernehme. Frau Streeruwitz’ Kritik versteht sich letztlich auch als Frage an die Curricula der Bildungseinrichtungen.

Wie wir lesen, hat mit unserer Lesebiographie bzw. mit unserem Bildungsweg zu tun. Eine Frau, die sich den – männlichen – Kanon aneignen will, müsse gleichsam intellektuell »zum Mann werden«. Streeruwitz: »Der Text der Klassik ist immer eine Erzählung der Männer füreinander.« Frauen verfügen noch nicht über ein vergleichbares »Archiv« von Erzählungen. »Frauenliteratur«, in der weibliche Erfahrungen wie Gebären, Stillen oder weibliche Orgasmen zur Sprache kommen, werde als »Bewältigungsliteratur« abgetan.

Die männliche Autorität über den literarischen Kanon sei indes nicht nur diskursiv und strukturell gegeben, sondern auch direkt und durch konkrete Persönlichkeiten. Das »Literarische Quartett«, insbesondere die Rolle Marcel Reich-Ranickis kritisierte Frau Streeruwitz als Institution patriarchaler Autorität über Literatur. Reich-Ranicki sei (wie auch andere Großkritiker) nicht imstande, weibliche Texte zu entschlüsseln, er reagiere mit Ekel und Aggression – wie Streeruwitz anhand ihres eigenen Werkes »Verführungen« ausführte.

Das Programm, das Frau Streeruwitz vorschlägt, besteht also einerseits in einer Kritik männlicher Texte und andererseits in der Ausbildung weiblicher Lektürestrategien (»Lesefrau«).

Weitere Themen des Seminars von Frau Streeruwitz waren unter anderem: die »Jedermann«-Inszenierungen auf den Salzburger Festspielen, der Film »The Man Who Was Not There« der Cohen-Brüder, das »Dirndl« und die Volksmusik. Frau Streeruwitz schlug den TeilnehmerInnen vor, sich mit eigenen Texten an einem Schweizer Volksmusik-Wettbewerb zu beteiligen. Bei aller Kritik an einer männlich dominierten Sprache hält Marlene Streeruwitz indes am österreichischen Dialekt fest, sie plädiert geradezu für ein lokal gefärbtes, »multizentrales Deutsch« und gegen die ›Normierung‹, für die der »Duden« stehe.

Marlene Streeruwitz, geboren 1950 in Baden bei Wien, studierte zunächst Jura und dann Slawistik und Kunstgeschichte in Wien. Sie arbeitete als Redakteurin für eine Öko-Zeitschrift und verfaßte Hörspiele für diverse Rundfunksender sowie grotesk-amüsante Theaterstücke für wichtige Bühnen des deutschsprachigen Raums. Ihre makaberen Dramen versteht sie als Kampfansagen an die klassischen Autoren wie Shakespeare und Goethe, deren Stücke sie als »Langeweile des Phallus zwischen den Orgasmen« bezeichnete. Heute bezeichnet Marlene Streeruwitz ihre Theaterarbeit als »gescheitert«. Das zeitgenössische Regietheater gebe der Textarbeit der Autoren immer weniger Raum. – Neben Theaterstücken veröffentlichte Frau Streeruwitz Lyrik sowie in jüngerer Zeit mehrere Romane. Ihr theoretisches Werk (Tübinger und Frankfurter Poetikvorlesungen) dreht sich um die zentrale Frage, was Lesen und Schreiben für Frauen bedeutet.

Das Seminar und die Arbeit an der Universität als Mittelpunkt der Samuel Fischer-Gastprofessur für Literatur von Marlene Streeruwitz wurden ergänzt durch eine Reihe weiterer Veranstaltungen und Aktivitäten: Am 4. Dezember 2001 fand die traditionelle Begrüßungs-Veranstaltung am Institut für AVL statt – als literarische Lesung, Dialog mit Prof. Dr. Gert Mattenklott und Diskussion mit dem Publikum. – Am selben Tag folgte eine Publikums-Veranstaltung im »Grünen Salon« der »Volksbühne« am Rosa-Luxemburg-Platz. Frau Streeruwitz hielt einen Vortrag mit dem Titel »Vom Leben der Hamster in Schuhschachteln«, in welchem sie patriarchale Erziehungsmethoden am Beispiel der Kleintierhaltung kritisierte. (Der Text des Vortrages wurde in der »Frankfurter Rundschau« abgedruckt.) – Am 1. Februar 2002 hielt Frau Streeruwitz einen Vortrag in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, in dem sie ihre in Berlin geäußerten Gedanken zum Thema fortführte.

Das Interesse der Medien am Berlin-Aufenthalt von Marlene Streeruwitz war bemerkenswert. Neben zahlreichen Meldungen und Berichten führten diverse Zeitungen, Radio- und Fernsehsender Interviews und brachten ausführlichere Beiträge: z.B. »Der Tagesspiegel«, »Hamburger Abendblatt«, »Frankfurter Rundschau«, »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »Berliner Zeitung« und 3sat »Kulturzeit«. Der Sender Freies Berlin widmete Frau Streeruwitz eine Sendung in der Fernsehreihe »Profile« sowie eine Ausgabe des frauenpolitischen Hörfunk-Magazins »Zeitpunkte«.

Oliver Lubrich,
Berlin, 25. März 2002