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Wer sind wir? Konzepte des 'Selbst' in der Antike

Vortragsankündigungen


17.11.    Wie erkenne ich mich selbst – und warum sollte ich das tun? Platons Einstieg in die Philosophie (Christian Vogel)

„Erkenne dich selbst“ (γνῶθι σαυτόν) lautet der berühmteste der delphischen Sprüche des Gottes Apollon. Platon greift diesen Leitsatz wiederholt in seinen Dialogen auf, um auf das Fundament allen Erkennens und Handelns aufmerksam zu machen. So lässt er Sokrates im Dialog Phaidros bemerken, wie lächerlich es doch sei, anderes verstehen zu wollen, ehe man sich selbst erkannt habe. Doch warum sollten wir diesen delphischen Rat überhaupt befolgen? Was ist überhaupt dieses „Selbst“ – und wie kann man etwas erkennen, das man doch selbst ist?

Diese Fragen stehen im Zentrum des platonischen Alkibiades I, eines Dialogs, der in der Antike über Jahrhunderte als ideale Einführung in die Philosophie galt. Der junge, ehrgeizige Alkibiades, kommender politischer Shootingstar Athens, trifft auf Sokrates, der ihm eröffnet, dieser könne seine Ziele ohne sokratische Hilfe niemals erreichen. Neugierig lässt sich Alkibiades auf das Gespräch ein – und erlebt, wie sein bis dahin unerschütterliches Selbstvertrauen ins Wanken gerät. Schritt für Schritt lernt er, warum Selbsterkenntnis unverzichtbar ist: Worin liegt ihr Nutzen? Was ist der Mensch? Worauf kommt es an, wenn man sich selbst erkennen will?

Der Vortrag zeigt, wie Sokrates Alkibiades auf einen neuen Weg führt – und worin dieser Weg der Selbsterkenntnis besteht. Er macht sichtbar, weshalb die Frage nach dem eigenen Selbst der Schlüssel zu gelingendem Handeln ist und warum spätantike Philosophen keinen besseren Einstieg in Platons Denken und in die Philosophie überhaupt kannten.

 

24.11.    „Der Sieg über sich selbst“: Wer besiegt wen? Selbstbeherrschung und Selbstsorge bei Platon und Aristoteles (Gregory Dikaios)

Einem Mythos des Aisopos zufolge (Πῆραι δύο), trägt jeder Mensch zwei Reisesäcke – einen vor sich und einen hinter sich. Im vorderen befinden sich die Fehler der anderen, im hinteren die eigenen. So sieht man leicht die Schwächen des Menschen, der vor einem geht, schwer aber die eigenen, die man auf dem Rücken trägt. Mit anderen Worten: Die Frage des Selbst und der Selbsterkenntnis ist keine einfache.

Das Thema des Selbst wird unter anderem in Platons Politeia behandelt. Dort entwirft Sokrates mit seinen Gesprächspartnern ein Paradigma einer gerechten Stadt und eines gerechten Menschen, um zu verstehen, was Gerechtigkeit im Leben bedeutet. Indem man den Menschen mit dem Ideal eines Gerechten vergleicht, kann man erkennen, ob er gerecht ist oder nicht – und zugleich, ob man selbst gerecht lebt. Selbsterkenntnis entsteht hier also durch den Vergleich mit einem objektiven Maßstab.

Am Anfang des letzten platonischen Werks, der Nomoi, finden wir eine weitere Beschreibung des Selbst: Der Kreter nennt den größten Sieg den über sich selbst, während es das Schändlichste sei, sich selbst zu unterliegen. Jeder Mensch ist also mit sich selbst in einem inneren Ringen konfrontiert – er siegt, wenn er sich überwindet, und verliert, wenn er sich selbst erliegt.

Ein Beispiel für diesen inneren Konflikt findet sich bei Aristoteles in der Akrasia (Unbeherrschtheit): jemand weiß, was richtig ist, handelt aber nicht danach. Schon das Wort Akrasia – von ἀ- (nicht) und κρατεῖν (beherrschen) – verweist auf diesen inneren Widerstreit. Aristoteles beschreibt diesen Zustand nicht als dauerhaft, sondern als eine Art „Epilepsie“ der Seele.

Lassen Sie uns die platonische und aristotelische Perspektive des Selbst und des inneren Kampfs betrachten!


 01.12.    Das (un)verwandelbare Selbst. Hermes’ Kraut und der gedopte Odysseus vor Kirke (Benjamin Wallura)

Die homerischen Epen Ilias und Odyssee halten eine Menge ungeklärter Rätsel bereit. Ganz besonders rätselhaft, insbesondere die Geschichte ihrer Deutung, ist die berühmte Stelle im 10. Buch der Odyssee (Od. X, 302‒307), als der Götterbote Hermes dem Abenteurer Odysseus ein Kraut aushändigt, mit dem sich der Held, so das Versprechen, vor den magischen Kräften der Zauberin Kirke schützen könne, die bereits zuvor dessen Gefährten in Schweine verwandelt hatte. Vielerlei Deutungen sind an diese Stelle herangetragen worden und Heerscharen von Interpreten haben sich gewundert und gefragt: Was könnte wohl dieses Moly (μῶλυ), dieses Kraut des Hermes, gewesen sein, das der Dichter Homer so scheinbar wohlwissend in seinem Epos beschrieben hatte? War das Kraut allegorisch zu verstehen, als die Standhaftigkeit und Tugendhaftigkeit des Odysseus, der sich aller äußeren und inneren Mächte erwehren konnte, wenn er nur fest genug an sich selbst glaubte? Oder war der homerische Held schlichtweg in den Besitz eines Antidots, eines Gegengiftes (pharmakon), ja gar eines das Selbst und Bewusstsein steigernden Mittels gekommen, das ihn gegen die sinnevernebelnden Tränke und Inkantationen der Kirke immunisierte? So oder so erhob sich für die Interpreten immer wieder die Frage: Was machte das Hermes-Kraut, dieses göttliche Dopingmittel, mit dem Selbst des Odysseus und inwiefern veränderte es ihn? Der Vortrag nimmt mit auf eine der spannendsten, krudesten und eigenartigsten Geschichten der antiken bis frühmodernen Textdeutung und Philologiegeschichte. 

 

08.12.    Ist der Mensch mehr als ein Tier? Plutarch über Selbstkonzeptionen, Tierpsychologie und deren ethische Konsequenzen (Michelle Marú)

Eine naheliegende Antwort auf die Frage, wer wir sind, lautet: Wir sind Menschen. Aber was heißt es, Mensch zu sein? Diese Frage zu beantworten, erweist sich als eine herausfordernde Aufgabe, die mehrere Denker seit der Antike zu lösen versuchen. Viele antike Autoren setzten sich mit der Tierwelt auseinander, um eine mögliche anthropologische Differenz zu finden, bzw. das, was uns von den Tieren unterscheidet und das genuin menschliche Selbst ausmachen könnte.

Im Dialog Bruta animalia ratione uti lässt Plutarch Odysseus als Gesprächsfigur auftreten, der mit Gryllus, einem seiner Gefährten, diskutiert, nachdem Gryllus von der Zauberin Kirke in ein sprechendes Schwein verwandelt wurde, das die Tiere für moralisch und intellektuell überlegen gegenüber den Menschen hält. Um die Argumente im Dialog zu entwirren, werden wir in diesem Vortrag anhand von Plutarchs tierpsychologischen Schriften (De sollertia animalium, Bruta animalia ratione uti, De esu carnium und De amore prolis) platonische, aristotelische, stoische und epikureische Selbstvorstellungen und Seelenlehren betrachten, um Plutarchs eigene (ambivalente und in der Forschung umstrittene) Positionen zur Frage der anthropologischen Differenz zu beleuchten. Die ethischen Konsequenzen von Plutarchs Argumenten (Vegetarianismus, faire Behandlung von Tieren) werden im Vortrag auch thematisiert.

15.12.    „Ich bin mir selbst zu einer großen Frage geworden“. Erforschungen des Selbst in Augustins 'Confessiones' (Carsten Flaig)

Augustins Confessiones enthalten die Beschreibungen eines turbulenten Lebens: Ein Newcomer aus der Provinz, getrieben von Ehrgeiz, der sein Glück vergeblich im beruflichen Erfolg vergeblich sucht. Ein Sohn, der die Erwartungen der Mutter nicht erfüllen kann. Ein Gläubiger, der sich nicht das richtige Bild von Gott zu machen vermag. Doch die Confessiones sind keine Autobiographie im heutigen Sinne, sondern eine Erforschung und Befragung (quaestio) des eigenen Selbst: Wie kann ich glücklich sein – und warum stehe ich mir dabei permanent selbst im Wege? Wieso kann ich meinen Willen nie ganz selbst bestimmen? Anhand der Analyse einschneidender Ereignisse wie dem Tod eines Freundes entfaltet sich eine Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Selbst- und Gotteserkenntnis. Das Ziel des Werkes ist das Gotteslob, doch das ist, so Augustinus, nur möglich, wenn er als Lobender sich selbst und den Gelobten nicht missversteht. In diesem Zuge wird Augustinus das eigene Selbst immer wieder fraglich („Factus eram ipse mihi magna quaestio“, Conf. 4.4.9). Solchen Erkundungen, Prüfungen und Befragungen des Selbst wird der Vortrag anhand ausgewählter Passagen dieses faszinierenden Werkes nachgehen.