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Die Hohe Schule des Platonismus – Platonkommentierung in der Spätantike

Die Philosophen der Epoche, die wir Neuplatonismus zu nennen gewohnt sind, verstanden sich als Exegeten Platons. Dieses prägnant bei Plotin belegte Selbstverständnis drückt sich vor allem darin aus, daß die zentrale Gattung philosophischer Untersuchungen die Form des systematischen und textnahen Kommentars zu den Dialogen Platons war.

In allen Zentren des spätantiken Platonismus – in Athen, in Alexandria, in Syrien usw. – wurde der philosophische Unterricht systematisch als Einführung in die Einsichten Platons konzipiert. Die Grundlage für diese Lehre war eine von dem Porphyriosschüler Iamblich etablierte Auswahl an platonischen Dialogen, die in ein differenziert konzipiertes didaktisches Konzept eingefügt wurden.

Der Unterricht war konsequent anagogisch, begann vor dem eigentlichen Platonunterricht mit einer Schulung im sog. Quadrivium, den von Platon als Communis mathematica scientia zur Grundlage philosophischer Bildung erhobenen mathematischen Wissenschaften, sowie der Vermittlung der propädeutischen aristotelischen Logik auf der Textbasis des aristotelischen Organon. Erst darauf folgte die schrittweise Einführung in die Inhalte der platonischen Philosophie: angefangen mit dem Selbsterkenntnisdialog Alkibiades, über die ethischen Schriften Gorgias, Phaidon und die logischen Dialoge Kratylos und Theaitet, über die als physikalische Dialoge aufgefaßten Dialoge Sophistes und Politikos bis hin zu Symposion, Phaidros und Philebos. Damit war ein erstes Curriculum im philosophischen Unterricht abgeschlossen. 

Im zweiten Curriculum wurden die beiden Dialoge Parmenides und Timaios gelesen, die als Inbegriff und Gipfel der platonischen Physik und Lehre von dem intellegiblen Seienden aufgefaßt wurden.

Die Methode der Kommentierung folgt im innerschulischen Diskurs vieldiskutierten hermeneutischen Prinzipien, unter denen die sog. Skopos-Lehre die bedeutendste ist. Sie bietet mit ihrer Suche nach einem alle einzelnen (sprachlichen, dialogisch-literarischen, argumentationslogischen, konzeptionellen usw.) Aspekte und Teile des Dialogs zusammenführenden und einenen Erkenntnisgegenstand, dessen Erkenntnis in dem jeweiligen Dialog erarbeitet werden soll, ein mit dem Anspruch hinreichender Begründung der einzelnen Interpretationsergebnisse eine Interpretationsmethode, die auf Augenhöhe mit modernen hermeneutischen Theorien zu stehen beanspruchen kann.

Aus diesem über viele Jahrhunderte praktizierten Unterricht ist uns – bei großen Verlusten – ein beachtliches Corpus an Platonkommentaren überliefert: neben den Kommentaren des größten Platonkommentators, des Proklos, aus dem 4. Jahrhundert, Kommentare des Hermeias von Alexandrien, des Damaskios von Athen, Olympiodors u.a.

Die Analyse dieser differenzierten philosophischen Texte hat für sich selbst ihre Bedeutung für das Verständnis des spätantiken Platonismus. Sie bietet aber auch für die Platonforschung Anregungen und neue Zugänge. Denn die antiken Platoniker stellen in ihren Kommentaren Lösungsvorschläge für viele moderne Aporien der Platoninterpretation vor.

Beide Forschungsziele sind bis heute nicht oder nicht hinreichend in Angriff genommen worden. Das Leibnizprojekt „Die Hohe Schule des Platonismus – Platonkommentierung“ hat die Erschließung dieses lange Zeit vernachlässigten Textbestandes zu seinem Thema.

Mit diesen Studien soll auch ein Beitrag zu einer Neubewertung der platonischen Philosophie der Spätantike geleistet werden. Das Projekt greift dabei auf Ergebnisse und Arbeitsvorhaben des (von Arbogast Schmitt (Marburg) und Gyburg Radke geleiteten) Projekts „Moderne Antikekonstruktionen“ zurück und ist mit diesem vielfach vernetzt. Denn unser modernes Urteil über die antiken Platonkommentierungen ist in vielfacher Weise wirkungsgeschichtlich geprägt durch bestimmte Vormeinungen über die vermeintliche Naivität und die spekulative Substanzenmetaphysik, deren Wurzeln in der platonischen und aristotelischen Antike lokalisiert  werden.

Ein Schwerpunkt soll bei der Betrachtung der spätantiken Platonkommentare auf die Parmenides-Kommentierung gelegt werden. Von dieser ausgehend lassen sich auch am besten die Traditions- und Vermittlungslinien platonischen Gedankengutes in das christliche Mittelalter verfolgen. Vor allem durch die Vermittlung des Proklosschülers Dionysios Areopagita wird die Dialektik, Ontologie und Theologie der spätantiken Parmenides-Kommentierung zur erkenntnistheoretischen Basis der christlichen Theologie.

Das Projekt möchte daher auch zur differenzierten Analyse des Verhältnisses zwischen Platonismus und Christentum einen Beitrag leisten.