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Projektbeschreibung

Literatur und Erkenntnis - Methodische Grundlagen der Interpretation antiker Dichtung

Antike Literatur wird besonders seit den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als Interpretationsobjekt moderner Literaturtheorien und gegenwärtiger literaturwissenschaftlicher Methodik erschlossen. Die Entdeckung dieser methodischen Neuorientierung besteht in diesen Bewegungen darin, daß Qualitäten von Literatur, die die Moderne in unterschiedlichen Phasen allererst erfunden zu haben beanspruchte, auch an antiken, also vormodernen Texten beobachtet werden: Von der Erzählerperspektive angefangen über Strategien der Ich-Konstruktion bis hin zur rezeptionsästhetischen Steuerung und bis zu reflektierten Sprachspielen und synästhetischen Diskursen. All dies wird nun auch als Konstituens antiker Literaturen entdeckt. Allerdings spricht man den antiken Texten zumeist nur Ansätze dieser genuin modernen Qualitäten zu und beschreibt sie als Vorstufen und Wegbereiter dessen, was sich in der Moderne glücklich vollenden sollte.

Der Befund, daß die antike Dichtung nur als Vor-Moderne entdeckt wird, ist nicht verwunderlich. Denn auch die Suche nach dem Modernen in der Antike ist eine Station der Geschichte der Querelles des Anciens et des Modernes. In dieser Geschichte hat sich die Moderne seit der Frühen Neuzeit immer als Gegenbild und überwindung des Antiken stilisiert und ihr eigenes Selbstbewußtsein entworfen.

Es besteht im Zuge dieser Selbstkonstutionsstrategien der Moderne die Gefahr, daß die konstitutiven Unterschiede innerhalb der antiken Literaturen nicht hinreichend beachtet werden. Denn die Antike hat in unterschiedlichen Phasen sehr verschiedene, zum Teil gegensätzliche Konzepte darÜber theoretisch entwickelt und praktisch umgesetzt, was Literatur zu guter Literatur macht, was also die Qualitäten sind, die ein guter Dichter suchen muß.

Um diese eigentümlichen Qualitäten überhaupt bemerken und hinreichend würdigen zu können, ist es notwendig, sich mit den unterschiedlichen literaturtheoretischen Grundlagen vertraut zu machen und diese als Möglichkeitsraum zu entdecken, innerhalb dessen die Agonie antiker Literatur um vollendete Dichtungswerke verstanden werden kann.

Da sich antike Literaturtheorie und Ästhetik in allen Formen in bestimmter Weise auf ihr vorausliegende erkenntnistheoretische Prinzipien zurückführen lassen, ist eine kritische Methodensupervision für die Interpretation antiker Literaturen nicht ohne die differenzierte Betrachtung der erkentnistheoretischen Grundentscheidungen, soweit sie für die Konzeption von Literatur relevant sind, möglich.

Die verschiedenen Spielarten der erkenntnis- und literaturtheoretischen Konzeption von Literatur der Antike lassen sich auf zwei Grundmodelle zurückführen: auf eine vorhellenistische, von Platon und Aristoteles reflektierte Literaturkonzeption und poetische Praxis und eine hellenistisch-römische, die sich von der Leitung durch die Ratio als Leitinstanz des Literaturschaffens emanzipieren wollte und die Phantasia, das Vorstellungsvermögen, zum neuen, subjektiven Kriterium erhoben hat.

Die neuzeitliche Rezeption der antiken Literaturtheorie und Ästhetik wurde durch eine massive Rezeption hellenistisch-römischer Texte seit dem 14. und 15. Jahrhundert gelenkt: Horaz und Cicero, Quintilian und Dionys von Halikarnass wurden die neuen Heroen der Entdeckung einer neuen Antike, mit deren Hilfe der Aristotelismus der Scholastik überwunden werden sollte. Auch Aristoteles' Poetik und Rhetorik wurden schließlich nach ihrer Wiederentdeckung durch diese hellenistische Brille gelesen. Zu diesen wichtigen Rezeptionszusammenhängen sind bereits wichtige Arbeiten von Arbogast Schmitt erschienen, der diese hellenistische Prägung des neuzeitlichen Antikebildes (auch) für die Literaturtheorie aufgearbeitet hat.

Aus diesem Befund müssen auch für die einzelne Interpretation antiker Dichtungstexte Konsequenzen gezogen werden. Das Leibnizprojekt „Literatur und Erkenntnis – Methodische Grundlagen der Interpretation antiker Dichtung“ nimmt sich dies zur Aufgabe. Dabei sollen auf der Basis einer kritischen Analyse der erkenntnis- und literaturtheoretischen Grundlagen Einzelinterpretationen zu bestimmten Werken der vorhellenistischen und hellenistischen Dichtung erarbeitet werden. Das Zusammenspiel aus einem methodische Grundlagen erfassenden und vorstellenden Teil und einer Umsetzung dieser Einsichten bei der Durchführung der Interpretation ist dabei das Interpretationsprinzip.

Zudem sollen Arbeiten entstehen, die die Einzelbefunde durch allgemeine wirkungsgeschichtliche Betrachtungen über die unterschiedlichen Literaturmodelle in Antike und Moderne ergänzen.