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Jahrestagungsbericht 2019 „Eskalation! Skandal in der Literatur und den Künsten“

AutorInnen: Anna Beckmann, Vivien Bruns, Camilo Del Valle, Jennifer Gasch und Nina Tolksdorf

Wann lösen Grenzüberschreitungen in der Literatur und Kunst einen Skandal aus? Wie wirken Skandale auf das gesellschaftliche Umfeld und auf kulturelle Rahmenerzählungen zurück? Welche Potenziale und welche Grenzen haben Skandale? Diesen und weiteren Fragen widmete sich die diesjährige Jahrestagung der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien.

Mit dem Punk-Gebet der Gruppe Pussy Riot 2012 in Moskau startet die Jahrestagung am Freitagmorgen. Damit deutete sich schon in der ersten Keynote, gehalten von Gesine Drews-Sylla, ein thematischer Schwerpunkt der Jahrestagung an, der in der Bedeutung des Skandals aus Perspektive der Gender und Queer Studies bestand: Was passiert, wenn marginalisierte Personen skandalisiert werden? Wer sind die Akteur*innen des Skandals und welche Rolle spielt dabei das zugeschriebene Geschlecht?

Die Frage nach der Positionierung des Skandals und skandalisierter Personen spielte sowohl im Verlauf der Tagung, als auch bei der Podiumsdiskussion immer wieder eine zentrale Rolle.

Dass weibliche Autorschaft immer prekär ist, war eine der Ausgangspositionen des Gesprächs „Autorinnen und Skandal”. Anhand einiger Skandale um Marieluise Fleißer, Elfriede Jelinek und Christa Wolf, wurde die Frage diskutiert, inwieweit das Geschlecht der Autor*innen eine Rolle im Skandal spielt. Dass es sich um eine Frau handelt, die den vermeintlich skandalösen Text verfasst hat, wird in Kritiken gern übermäßig betont. Festgestellt wurde zudem, dass im Falle eines Skandals Autorinnen und ihr Werk besonders schnell kurzgeschlossen werden und ebenso schnell ein negatives Urteil über die literarische Qualität der Texte gefällt wird. Die Gesprächsteilnehmer*innen plädierten dafür, eine geschlechterkritische und intersektionale Perspektive in die Skandalforschung mit einzubeziehen. 

Die Darstellungen von männlicher Homosexualität im brasilianischen Naturalismus führte zu einem Kurzschluss von Autoren und deren Texten, so dass nicht nur die Darstellung der Sexualität sondern auch die Autoren zum Skandal wurden, wobei der Blick auf den Text selbst und seine Thematiken in den Hintergrund gerieten (Christopher Laferl). So lässt sich auch hier, wie im Falle von Fernando Vallejos und seiner „Poetik der Beleidigung” (Camilo Del Valle) fragen, ob und inwieweit Literatur ihre Skandale lenken kann, das heißt, ob sie inhaltlich mit herrschenden Normen konform gehen muss, wenn sie die Aufmerksamkeit auf ihren komplexen Inhalt nicht durch einen ihr äußeren Skandal verstellen will.

Zu Beginn der Podiumsdiskussion zum queeren und feministische Potenzial des Skandals wurde die Behauptung aufgestellt, der Skandal sei vorbei – over and out. Die Teilnehmer*innen diskutierten darüber, ob die skandalöse Rhetorik und Praxis in der Gegenwart nicht eher von Rechten und Konservativen genutzt werde, um politische Forderungen lautstark zu vertreten und den gesellschaftlichen Diskurs nach rechts zu verschieben. Es wurden jedoch auch historische Momente der feministischen und queeren Bewegung, wie der Tomatenwurf von 1968, brennende BH als Symbol der Befreiung der Frau und der Tuntenstreik, benannt, in dem das skandalöse Verhalten politischer Aktivist*innen die Rechte marginalisierter Gruppen thematisierten und gesellschaftliche Prozesse anstießen.
Wie in den Keynotes und anderen Vorträgen deutlich wurde, sind Skandale auch in der Gegenwart nicht selbstredend over. Dieses Urteil sowie der Verlauf von Skandalen hängt stark von den kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen ab, in denen Skandale sich (nicht) ereignen.

Die Frage nach dem emanzipatorischen Potential skandalöser Formen wurde auch an Comics der Künstlerin Aline Kominsky-Crumb diskutiert (Véronique Sina). Kominsky-Crumb lotete mit ihren Comics in den 70er bis 90er Jahres nicht nur gesellschaftliche Grenzen aus, sondern provozierte auch innerhalb der Comic-Undergroundszene und in feministischen Kontexten, indem sie zum einen einen bewusst naiven Stil für ihre Zeichnungen pflegte und zum anderen explizit sexuelle Handlungen darstellte, in denen ihr Comic-Alter Ego Praxen der female submission ausführte.

Nicht nur in den Keynotes zu russischer Aktionskunst und zum „Fall Rushdie” (Martina Wagner-Egelhaaf) wurde deutlich, wie sehr Skandale mit den spezifischen Öffentlichkeiten, in denen sie auftreten, zusammenhängen und gleichzeitig auch wie sie sich verschieben, wenn die Aufmerksamkeit für den Skandal steigt. Unter dem Begriff „Feuilletonskandal“ (Jürgen Brokoff) wurde (anhand von Beispielen zu Christa Wolf, Botho Strauß, Peter Handke und Martin Walser) gezeigt, dass Skandale häufig den Auslöser, aber nicht den eigentlichen Inhalt des Streites markieren. Dazu gehört, dass Skandale in einem konstitutiven performativen Sprechakt als solche markiert werden. Auch in den besprochenen Skandalen um die Memoiren von James Frey und Herman Rosenblat, bei denen ‚enthüllt‘ wurde, dass sie nicht die Wahrheit erzählen, lässt sich nach der Öffentlichkeit fragen. Welchen Einfluss hatte die Empfehlung beider Texte durch Oprah Winfreys book club auf die Öffentlichkeit, in der diese Fälle diskutiert wurden und entsprechend für den Verlauf der Skandale (Dorothea Trotter)? Und welche Rolle spielt die Autofktion bei Skandalen um Autor*innenschaft (Alexander Kappe). Von den vielen Skandalen um Tannhäuser-Inszenierungen wurde jene von Götz Friedrich 1972 in Bayreuth zu einem Stellvertreterkrieg zwischen den politischen Parteien der Bundesrepublik und zum verlängerten Wahlkampf. Das Publikum war dabei konstitutiver Bestandteil der Aufführung und da es sich hier um pfeifende und buhende Mitglieder der bayerischen Regierung handelte, trat das Spezifische der Öffentlichkeit, in der ein Skandal beginnt, klar hervor (Robert Sollich). Was aber passiert, wenn die politische Position von Philosoph*innen zum Skandal wird und die Frage aufwirft, wie stark das philosophische Werk und wie im Falle Heideggers, die nationalsozialistischen Überzeugungen des Philosophen miteinander verbunden sind? Wie sehr beeinflusst das Wissen um die Akteur*innen die Rezeption ihrer Texte? Wie gestaltet sich die Frage der Autor*innenschaft hier anders als in der Literatur? (Sidonie Kellerer)

Einige wenige Vorträge haben sich nicht dem Skandal selbst bzw. seiner Entstehung gewidmet, sondern untersucht, mit welchen Strategien ein bereits vorhandener Skandal in der Literatur ‚entskandalisiert‘ wird. So zeigte ein Vortrag, wie in der Quattrocento-Epik der mythologische Apparat so funktionalisiert wird, dass das skandalöse Verhalten des Protagonisten verschleiert und sogar sublimiert wird. Der historische Skandal bzw. die skandalöse (historische) Figur wird in den Epen mit keinem Wort erwähnt, sondern durch mythologische Szenen in andere Sphären gehoben (Vivien Bruns). Als Entskandalisierung wurde auch die narrative Struktur im Roman Hikayā tūnisīya von Hassouna Mosbahi bezeichnet, in dem eine skandalträchtige Tat durch die rechtfertigende Narration so entschärft wird, dass sich der Skandal gar nicht erst entfalten kann. Hier zeigte sich folglich, welche zentrale Rolle die Narration im Bezug zum Skandal einnimmt (Hanan Natour).

In den Diskussionen wurde immer wieder eine Frage aufgeworfen: Wo ist der Skandal zu verorten, im Text oder im Umgang mit ihm, das heißt, handelt es sich beim Skandal um ein rezeptions- oder produktionsästhetisches Phänomen? Einige Beiträge aus dem Publikum und von Vortragenden stellten das Phänomen des Skandals als eins der Eskalation in der Rezeption dar, das ohne eine Analyse der medialen und literaturwissenschaftlichen Reaktionen auf das literarische Werk nicht weiter verfolgt werden kann. Der Skandal sei somit als eine unberechenbare Kettenreaktion zu verstehen, die unabhängig von poetologischen Strategien zu betrachten wäre. In dieser Hinsicht wäre der Skandal Objekt einer literatursoziologischen Analyse. Dagegen argumentierten andere Positionen, den Skandal in der Potentialität der Skandalisierung im literarischen Werk selbst zu analysieren. Der Skandal sei somit ein literarisches Merkmal, das im Text selbst die skandalöse Überschreitung von Grenzen vollzieht und folglich zum Gegenstand einer textimmanenten Analyse wird. Diese offensichtliche Uneinigkeit zeugte einerseits von einer fehlenden einheitlichen Definition des Skandals, und andererseits von der Fruchtbarkeit einer Debatte um ein Phänomen, das zur Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Rezeption und Produktion führen kann.

Da sich immer wieder gezeigt hat, dass skandalisierte Texte nicht aufmerksam oder gar nicht gelesen wurde, sondern sich die Diskussion nur am Hörensagen oder an Kritiken orientierte, zeigte sich, wie wichtig die sorgfältige Auseinandersetzung mit den jeweiligen Texten ist. Zukünftig wäre es außerdem gewinnbringend, die Performanz und Performativität des Skandals genauer zu analysieren, das heißt einerseits die Rolle des Sprechaktes „Skandal!” in der Diskussion um skandalisierte Texte und Personen genauer zu betrachten, wie auch die Darstellungsverfahren der einzelnen Texte. Andererseits, das zeigte die Keynote zu Rushdie, die auch seinen Text Joseph Anton einbezog, lohnt es sich, zu untersuchen, wie ein Skandal auf Autor*innenschaft zurückwirkt und welche Texte aus einer skandalisierten Autor*innenschaft produziert werden.  Nicht zuletzt verweist der Skandal auf ein fast skandalöses Konzept von Autor*innenschaft, denn selten wird ein Text so nah an eine Person gebunden, wie wenn er große Wellen schlägt. Ist das aber ein Zeichen einer spezifischen Skandal-Autor*innenschaft? Oder erhofft man sich hier nur die Antwort auf ein „Warum?” von einer Instanz, die diese Frage noch nie zufriedenstellend beantworten konnte?

 

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