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DFG-Projekt Sprachen im Fluss

Sprachen im Fluss

Sprachen im Fluss
Bildquelle: Maggy Busch

Nheengatu (Sprachencode yrl) bezeichnet die indigene Tradition der Língua Geral Amazônica (LGA), die am Rio Negro und seinen Zuflüssen Içana und Ixié noch von einigen Tausend Sprecherinnen und Sprechern als Erst­sprache gesprochen wird. In dieser Region werden außerdem noch etwa zwanzig andere Sprachen aus den Familien Tukano, Arawak, Nadahup, Yanomami neben den romanischen Sprachen Portugiesisch und Spanisch gesprochen. Weitere kleinere Sprecher­gruppen finden sich auch in Pará und am Solimões. Die LGA entstand als Verkehrs­sprache der kolonialen Gesellschaft Amazoniens aus dem Tupinambá, einer Sprache aus der Tupi-Guaraní-Familie der Tupi-Sprachen, die entlang der Küste Brasiliens zum Zeit­punkt der Ankunft der portugiesischen Kolonialmacht gesprochen und von jesuistischen Missionaren gramma­tisiert wurde. Die Sprache wurde wohl v.a. in den jesuitischen Reduktionen nativisiert und beherrschte weite Teile der amazonischen Kommuni­kationsräume bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Schon 1758 wird ihre Lehre verboten und im weiteren Verlauf führen die militä­rische Unterwerfung der caboclos, wirtschaftliche und demogra­phische Umformungen, sowie Krank­heiten zu dem enormen Bedeutungsverlust, der bis heute andauert. Während die Sozialge­schichte der LGArecht ausführlich beschrieben, wenngleich auch nicht in das kollektive Geschichts­bewusstsein Brasiliens übertragen wurde, ist die Erfor­schung der grammatischen Strukturen des Nheengatu und ihrer Vernetzung mit anderen sprachlichen Traditionen auf eine Handvoll Aufsätze und nur eine moderne Grammatik beschränkt geblieben. Nach den jesui­tischen Anfängen und einigen des­kriptiven Fragmenten bilden die Arbeiten von Aline da Cruz die wesentlichen Meilen­steine der modernen linguistischen Erforschung des Nheengatu, nebst einigen Artikeln zu partikularen Eigenschaften der Grammatik.

Einer der Aspekte, die präziser und differenzierter beschrieben werden müssen, ist der Ausdruck von Modalität und Informations­struktur im Nheengatu. In der Verschränkung der Systeme zum Ausdruck von Modalität und Informationsstruktur glauben wir, dem je partikularen Zugriff auf die Wirklichkeit und den Annahmen über das richtige Verhalten der Menschen in ihr auf die Spur kommen zu können: Welche Instanz garantiert die Wirklichkeit, was gilt als sicher, was als möglich, was muss und was darf getan werden und was erhoffen sich die Menschen? Die Verhandlung dieser Fragen in der Bearbei­tung des gemeinsamen aktuellen und allgemeinen Wissens erscheint uns als ein vielversprechendes Feld, um Einblicke in die Vorstellung der Welt in den thema­tisierten Gemeinschaften zu gewinnen.

Zusammen­hänge zwischen diesen Dimensionen sprachlicher Bedeu­tungen werden in der Literatur intensiv diskutiert. Wir glauben aber, dass hier theoretische Desiderate bestehen und eine über­greifende Repräsentation möglich ist. Unsere Perspektive vereint die Bedeutungsbereiche Modalität, Evidentia­lität, Mira­tivität und Infor­mationsstruktur in einem erweiterten Modell dynamischer Semantik. Bedeutung wird in unserem Ansatz als koopera­tive Bearbeitung des Common Ground verstanden, die vom diskursiven Arrangement impliziter und expliziter Fragen vorange­trieben und fokussiert wird. Dieser Ansatz verschränkt die genannten Bedeutungsbereiche in einem dyna­mischen Abgleich zwischen Präsuppositio­nen und skalar zwischen modaler Möglichkeit und Notwendigkeit angeord­neten Assertionen.

Außerdem sollen die Beiträge unterschied­licher einzelsprachlicher Traditionen zu den grammatischen Systemen alltagssprachlicher Kommuni­kation in verschie­denen Konfigurationen mehrsprachiger Gemein­schaften sichtbar gemacht werden. Insgesamt ist die wechselseitige Durchdringung der vielen Sprachen der Region in nur wenigen Veröffentlichungen thematisiert worden. Bearbeitet wird in unserem Projekt dabei ein Fenster aus den drei hauptsächlichen sprachlichen Traditionen der Region: Nheengatu, die arawakische Sprache Baniwa und Portugiesisch.

Das Projekt ist auf die permanente Einbindung indigener Wissensbestände und Fertigkeiten ausgerichtet. Das betrifft einerseits schon die Gestaltung der Aufnahmetechniken und die Auswahl der zu dokumentierenden sprachlichen Routinen, die direkt der alltäglichen Kommunikation entsprechen sollen. Weiterhin sollen auch wesentliche Phasen der Datenauf­bereitung, also Transkription, Über­setzung und morphologische Glossierung von indigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausgeführt werden. Die Gemeinden, in denen wir arbeiten, sind stark von tourstischen und agrarwirtschaftlichen Interessen bedroht, die die Ausbeutung von Bodenschätzen und Landfläche als notwendigen Fortschritt für indigene Lebens­formen empfehlen, die sie insgesamt als unterentwickelt darstellen. Demgegenüber wollen wir dazu beitragen, die lokalen Sprachen und die mit ihnen verknüpften Kulturen aufzuwerten. Wir streben deshalb auch Publikationen, Informations­veranstaltungen und Workshops außerhalb der Universitäten an. Neben den unmittelbar projektrelevanten Tätigkeiten sollen dabei auch allgemeine redaktionelle und publizistische Fertigkeiten geschult werden, die zu einer Verbesserung der medialen Präsenz indigener Anliegen und der Selbstdarstellung in indigenen Medien wie etwa der rede wayuri (https://redewayuri.org.br/) beitragen. Im günstigsten Fall setzen erst unsere indigenen Mitar­beiter:innen und dann auch weitere Gemein­schaften das Projekt fort und dokumentieren weitere Sprachen, um ein indigenes Netzwerk des Wissens um die in der Region gesprochenen Sprachen aufzubauen.

Team:

  • Die Gemeinschaften aus Assunção do Içana und Tunuí da Cachoeira;
  • Indigene Mitarbeiter*innen: Edson Gomes, Miguel Piloto, Laura Almeida, Estevão Olimpio
  • Linguist*innen der FU: André Amorim, Uli Reich und demnächst eine weitere Doktorandin                                
  • Ana Beatriz Ambrosio
  • Basis an der FU: Anna Iwanaga und Maggy Busch