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Kriegsvergangenheiten im Gegenwartsfilm

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Im Rahmen des novinki-Seminars „Geschichtsbilder und Kriegsdarstellungen im (ost)europäischen Film“ besuchten 35 Studierende der Freien Berlin und der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) das 30. FilmFestival Cottbus. Anhand der Sondersektion „Close-Up WWII“ diskutierte der Kurs über heutige Erinnerungskulturen und filmischen Zugänge zu Vergangenem.

Darstellung von Kriegen sind seit jeher fester Bestandteil kultureller Erzählungen. 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird uns einmal mehr vor Augen geführt: Die Auseinandersetzung mit Geschichte findet auch und gerade in Film statt. Dokus, Unterhaltungsfilme oder TV-Serien formen das kollektive Gedächtnis, indem sie die Erinnerung an den Krieg bewahren, vergangene Ereignisse repräsentieren, für die aktuellen geschichtspolitischen Bedürfnisse neu inszenieren, umdeuten und so Geschichte erlebbar machen.

Das FilmFestival Cottbus , das 2020 seit 30-jähriges Bestehen feierte, macht es sich seit Gründung zur Aufgabe, die Vielfalt osteuropäischer Perspektiven durch ihren filmischen Blick auf aktuelle Fragen zu präsentieren. Während des diesmal digital stattfindenden Festivals beschäftigte sich die Sondersektion “Close Up WW II” passend zum 75. Jahrestag des Kriegsendes mit der Darstellung dieses Kapitels europäischer Geschichte. Unter den Schlagworten „Heldentum und Trauma“, „Dramatising History – alte Schlachten, neue Narrative“ und „Neue Heimat? Vertreibung und Neuansiedlung“ versammelte die Sektion sechsundzwanzig sehr unterschiedliche Filme: Neben Klassikern wie LETJAT‘ ŽURAVLI (DIE KRANICHE ZIEHEN, R.: MICHAIL KALATOSOW, 1957), DIE BRÜCKE (R.: ARTHUR POHL, DE/SBZ 1949) oder THE VALLEY OF PEACE (R.: FRANCE ŠTIGLIC, YU (SI) 1956) standen ebenso actionreiche Großproduktionen wie der teilweise in Brandenburg gedrehte INGLORIOUS BASTERDS und Serien wie LUDZIE I BOGOWIE (R.: BODO KOX, PL 2020), aber auch postmemoriale Spurensuchen wie SEARCHING FOR TERESKA (R.: KAMA VEYMONT, PL 2019) oder UNVERGESSENE GESCHICHTEN (R.: ANDRZEJ WINISZEWSKI, PL/DE 2017) auf dem Programm.

Den Auftakt zur Festivalsaison und zum novinki-Seminar machte der gemeinsame Filmabend am 21.10.2020. Gezeigt wurde DYLDA (Bohnenstange, RU 2019) des kabardino-balkarischen Regisseurs Kantemir Bagalov – ein ungewöhnlicher Film über die Traumata des zweiten Weltkriegs. Das anschließende Filmgespräch stieß Fragen an, die auch im Semesterverkauf immer wieder im Vordergrund stehen würden: Gemeinsam wurde im Kurs darüber diskutiert, wie vielschichtig Erinnerungsdarstellung funktioniert, wie sich ost-und westeuropäische Zugänge zur Vergangenheit teils unterscheiden und wie die Kriegsgeschichte vor dem Hintergrund aktueller politischer Konflikte über Filmbilder und -narrative wieder angeeignet und emotionalisiert wird.

Einen Einblick gibt das sektionsbegleitenden Online Panel „Traumata statt Heldenerzählung “, in dem, moderiert von Irine Beridze (OEI FU Berlin), die beiden Seminarleiterinnen Dr. Nina Weller (Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder) und Christiane Schäfer (PSI FU Berlin) mit Dr. Eva Binder (Institut für Slawistik, Universtität Innsbruck) und Bernd Buder (Programmdirektor FilmFestival Cottbus) über DYLDA und über die filmische Auseinandersetzung mit der Leningrader Blockade sprachen.

Neben dem kulturwissenschaftlichen Blick auf das Thema wurde das novinki-Seminar von den Studierenden genutzt, um sich schreibend der Sektionsauswahl zu nähern und Rezensions- und Lektoratstechniken kennenzulernen und einzuüben. Novinki.de, Online-Zeitschrift, Redaktion und nicht zuletzt Praxisangebot für Studierende, präsentiert die entstandenen Texte in der Kategorie „angeschaut“:

 

Ist das jetzt Satire, oder kann das weg?

Anna Kücking widmet sich den nur scheinbar unkonventionell tollpatschigen underdogs des russischen Blockbusters PRIKAZ UNIČTOŽIT (Secret Weapon, R: Konstantin Statskij, RU 2019) und filtert die Grenze zwischen satirischer Selbstironisierung und unkritischer Kriegsverharmlosung auf.

 

Ein Krieg im Krieg.

Alissa Geffert spürt dem Krieg der Erinnerungen in der Schlachtdarstellung von RŽEV(Rzhev. Unkown Battle, R: Igor Kopjlov, RU 2019) nach. Obwohl der Film sich in ganzer Grausamkeit einer Schlacht widmet, die im russischen Erinnerungsdiskurs sonst wenig Platz einnimmt, schafft er es nicht, sich von allem Siegespathos zu lösen und eine vielschichtigere Reflexion einzuleiten.

 

“Unvergessene Geschichten” – für die einen unvergesslich, für die anderen bloß Geschichte.

Carla Kölling führtuns durch das wechselhafte Schicksal des Dorfs Trzębiel, zu Deutsch Triebel, wie es der Regisseur Andrzej Winiszewski in UNVERGESSENE GESCHICHTE (Historie Nezapomniane, DE/PL 2017) anhand deutscher und polnischer Augenzeugenberichte einzufangen versucht. Der Rückblick kommt ohne Pathos und laute Töne aus, schafft es aber letzten Endes nicht, mehr als ein flüchtiges Bild zu zeichnen.

 

Tappen in der Dunkelkammer – Die Entwicklung eines Fotos.

Leonie Koll rezensiert den Dokumentarfilm SZUKAJĄS TERESKI (Searching for Tereska, R: Kama Veymont, PL 2019), bei dem die Zuschauer:innen die Akteure auf ihrer Suche nach dem Menschen hinter einem der ikonischsten Bilder der Nachkriegszeit gewissermaßen begleiten. Dabei folgt Koll den Bewegungen des Films durch unterschiedliche Zeiten und Räume: vom jungen und modernen Warschau während eines zeitgenössischen Sommers bis in die kollektiven und individuellen Räume der vielfach überlagerten Erinnerung an eine Vergangenheit, von der das Warschau der Gegenwart immer noch geprägt ist und lobt die behutsame Entmystifizierung des Films.

 

Das Grauen als Musical.

Als Film des Monats Juli 2021 präsentiert die Mediothek des Osteuropa-Instituts SZABADOK (Ohrwurm, HU 2019) des Regisseurs Bernáth Szilárd und veröffentlicht dazu eine studentische Rezension aus dem Seminar. Der außergewöhnliche Kurzfilm kombiniert den Hintergrund des ungarischen Volksaufstands mit eingängiger Musicalmusik und bringt so die grausame Absurdität menschlicher Entscheidungen in Ausnahmesituationen auf die Leinwand.

Die vergessenen Opfer

Bettine Bredereck setzt den  Film „Melānijas hronika“ („The Chronicles Of Melanie“, 2016) des Regissseurs Viesturs Kairišs über das Schicksal der Opfer stalinistischer Deportationen im Baltikum in einen historischen, aber auch einen aktuellen politischen Kontext. Dabei lobt sie, wie nah die eindrückliche Filmästhetik den Zuschauenden kommt, kritisiert aber auch dramaturgische Schwächen und allzu heroisierende Stilisierungen.

Ein Dorf im Schatten der Geschichte


Nicolas Ellscheid geht in seiner Rezension zu „Krajina ve Stinu“ („Shadow Country“, 2020) den unbequemen Fragen nach, die der prämierte und durchgängig in schwarzweiß gehaltene Film stellt: Wer hat Schuld, wer ist im Recht, wie weit darf Rache gehen. Anhand des Mikrokosmos Dorf zeigt Regisseur Bohdan Sláma die Auswirkungen von nationalsozialistischem Terror und Holocaust auf die tschechisch-deutschen Grenzregion und die Menschen, die zurückbleiben.

Das weibliche Gesicht des Krieges


Margaret Pleskach rezensiert „Dylda“ („Bohnenstange“, 2019), Kantemir Balagovs zweiten Spielfilm über das Leningrad nach dem zweiten Weltkrieg. Mit der Darstellung drastischer Frauenschicksale jenseits des Schlachtsfelds gelingt ihm ein "einzigartiges und eindrucksvolles Filmerlebnis", dass nicht zuletzt neue Perspektiven auf alle Narrative ermöglicht.