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Tiefe. Zu einem vergessenen Phantasma der Moderne

Mit dem Ende der Aufklärung und dem Beginn der Romantik tritt in der

gesamten europäischen Kultur, also in Philosophie, Religion und Literatur, ein neues und überaus wirksames Paradigma auf: Die Erfahrung der Tiefe.

War die europäische Aufklärung vom Scharfsinn geprägt, kannte die

religiös-enthusiastische Lyrik der Stürmer und Dränger vor allem den Begriff der Höhe, so tritt mit der Romantik vermehrt der Tiefsinn und die Erfahrung der Tiefe in den Vordergrund. Diese hat unterschiedliche

Bedeutungen. Tiefe meint zum einen das weit unten Liegende, wie etwa

Martin Luthers berühmtes Kirchenlied "Aus tiefer Not schrei ich zu dir" es intendiert. Das Gegenteil der Tiefe ist jedoch nicht allein die Höhe, sondern bekanntlich auch die Oberfläche; Tiefe hat deshalb neben der Bedeutung von "weit unten" auch die von "weit innen", wobei hier die Unterscheidung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit im Sinne von Oberflächlichkeit im Vordergrund steht. Wie umfangreich die Möglichkeiten sind, Tiefe zur Darstellung zu bringen, dies zeigt zudem das Postulat Hugo von Hofmannsthals: "Die Tiefe muß man verstecken. Wo? An der Oberfläche."

Mit Blick auf Hofmannsthal, Rilke, Kafka und Musil sowie unter Bezugnahme auf psychoanalytische bzw. existenzphilosophische Ergründungen der Tiefe (Freud, Heidegger) wird das Seminar vor allem eine Figur der Tiefe in den Mittelpunkt stellen: Den schutzlos Ausgesetzten, dem sich eine tiefe, aus den Ängsten der Kindheit gespeiste Daseinsangst als Grundstimmung der Moderne offenbart.