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Die Gestalt des Pilgers in der europäischen Dichtung

Die Tradition des Pilgerns hat in den letzten Jahrzehnten eine erneute Renaissance erfahren, auch wenn Ziel und Zweck der peregrinatio für den modernen Pilger oft weniger genau definiert erscheinen als für den pilgernden Menschen des Mittelalters. Für diesen war die Pilgerfahrt mit konkreten Anliegen und Erwartungen (Einlösung eines Gelübdes, Bittgänge, Buße und Vergebung, Begegnung mit dem Heiligen) verbunden und von religiösen Ritualen begleitet. Es ging vor allem um die Ausrichtung des Pilgers nach den ewigen Wahrheiten und seine Heilung bzw. Heiligung im Prozess des Aufbruchs, der Begegnung mit dem Fremden und der Bewährung auf einer oft mühevollen Wanderschaft sowie der Begegnung mit den heiligen Orten. Die Pilgerorte als Zielpunkte der peregrinatio und als Zentren der Offenbarung des Heiligen standen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Geschehnissen der Heilsgeschichte (Jerusalem, Rom, Santiago de Compostela u.a.). Die Pilgerreise war zugleich ein Sinnbild des menschlichen Lebensweges, der durch die Gefahren des irdischen Daseins hindurch ins himmlische Jerusalem führen sollte. Der Mensch wird grundlegend als ein homo viator definiert, die komplexe Symbolik des Pilgerweges bestimmt auch die Sicht auf die Strukturen des individuellen Lebenswegs. Im Verlauf der Jahrhunderte verändern sich Ziel und Inhalt der Pilgerschaft, die z.B. in der Romantik bereits deutliche Tendenzen einer Säkularisierung aufweisen. Die teleologische Reise wird in der Dichtung zunehmend von innerweltlichen, utopischen bzw. esoterischen Zielen überlagert.

Im Seminar soll anhand von ausgewählten Texten die Entwicklung der Symbolik und Motivik der Pilgerdichtung diskutiert werden (Weg-, Raum- und Zeitmotivik, Kampfmetaphorik usw.). Lektürevorschläge von Seiten der Seminarteilnehmer sind willkommen.

 

Literatur:

Altes Testament/ Neues Testament (Auszüge); Kunz Kistener: Die Jakobsbrüder; Johannes Amos Comenius: Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens, John Bunyan: The Pilgrim’s Progress (Auszüge); Novalis: Heinrich von Ofterdingen (Auszüge), Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers (Auszüge), Selma Lagerlöf: Die Lichtflamme, Franz Werfel: Stern der Ungeborenen (Auszüge)