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Peter Szondi zum 90. Geburtstag

Am 27. Mai 2019 wäre Peter Szondi 90 Jahre alt geworden. Wir veröffentlichen aus diesem Anlaß eine Hommage von Hans-Christian Riechers. Er studierte in Freiburg und Valencia Philosophie, Germanistik und Religionswissenschaft und promovierte in Bielefeld mit einer Arbeit über Peter Szondi, für die er auch Bestände des Archivs der Freien Universität und viele Informationen aus dem von Irene Albers herausgegebenen institutsgeschichtlichen Band Nach Szondi (Berlin: Kadmos, 2015) verwendete. Seine Arbeit soll nächstes Jahr im Campus Verlag erscheinen. Derzeit ist Hans-Christian Riechers wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Freiburg.

News vom 27.05.2019

Hans-Christian Riechers

Zum 90. Geburtstag von Peter Szondi

 

Peter Szondi hielt nicht viel von Jubiläen, „gar wenn der zu Feiernde nicht mehr am Leben ist“. Das schrieb er in einem Brief an Peter Härtling. Darin ging es ihm um Walter Benjamins 70. Geburtstag, der im „Monat“ nicht erwähnt worden war, also in jener Zeitschrift, deren Redakteur Härtling war. Der Name Walter Benjamins war damals, im Jahr 1962, noch nicht annähernd so bekannt wie wenige Jahre später. Desto bedauerlicher fand Szondi, dass Härtling dieses Jubiläum übergangen hatte, „weil Sie wahrscheinlich zu den ganz wenigen gehört hätten, die an diesem Tag Benjamins gedenken werden.“

Peter Szondi gedachte Benjamins nicht nur, er fühlte sich ihm näher als viele andere. Am 27. Mai 1929, im gleichen Jahr wie Ágnes Heller und Imre Kertész, in Budapest in eine assimilierte, bildungsbürgerliche jüdische Familie geboren, war er erst elf Jahre alt, als Benjamin sich 1940 in Portbou auf der Flucht vor der Gestapo das Leben nahm. Vier Jahre später besetzte die Wehrmacht Ungarn, und die ungarischen Juden wurden zu Hunderttausenden in die Vernichtungslager deportiert. Szondi kam mit seiner Familie im sogenannten „Kasztner-Zug“ zunächst für mehrere Monate ins KZ Bergen-Belsen und gelangte im Dezember 1944 in die rettende Schweiz, deren Bürger er 1957 wurde. Dort besuchte er die Schule und später die Zürcher Universität, wo er Philosophie, Romanistik und Germanistik studierte und, nach einem Auslandsaufenthalt in Paris, bei Emil Staiger promovierte. Seine wegweisende Dissertation (erschienen 1956) ist nach wie vor sein bekanntestes Buch, eine durch mehrere Nationalliteraturen verfolgte Geschichte der Entfremdung vom zwischenmenschlichen Dialog, die sich im Drama der Moderne niederschlägt. Im intellektuellen Funkenschlag der „Theorie des modernen Dramas“ fand sich die werkimmanente Interpretationslehre Staigers plötzlich in einer dialektischen Formgeschichte wieder, die Szondi von Georg Lukács und Theodor W. Adorno übernommen und sich anverwandelt hatte. Zum ersten Mal tauchte hier auch der Name Walter Benjamins auf.

In seiner Berliner Antrittsvorlesung „Hoffnung im Vergangenen“ erinnerte Szondi dann 1961 emphatisch an den fast vergessenen Berliner Intellektuellen, und im Lauf der 1960er Jahre gehörte er zu denen, die das Werk Benjamins wieder ans Licht und ins Gespräch brachten. Währenddessen arbeitete er an einer eigenen literaturwissenschaftlichen Interpretationslehre und baute ab 1965 das heute nach ihm benannte Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin auf. Er nahm als einer der ersten die neuen französischen Philosophen wahr, lud Jacques Derrida nach Berlin ein und bot seinen Studierenden die Chance, mit seinem Freund Paul Celan über dessen Gedichte zu diskutieren. Denen, die aus dieser Schule hervorgingen, war nicht nur der Brückenschlag nach Paris und in die anderen Sprachen und Künste vertraut. Sie wurden zu wichtigen Figuren in Wissenschaft, Redaktionen und Verlagen der Bundesrepublik, wurden bekannt als Schriftstellerinnen oder Schauspieler.

Szondi praktizierte und lehrte eine selbstreflexive Form der Interpretation, die den wechselnden Konjunkturen „entfremdeten Lesens“ (wie Klaus Reichert schrieb, der bei ihm studierte) widerstand, ohne sich dabei auf einen Traditionalismus zurückfallen zu lassen wie andere philologische und hermeneutische Schulen zur gleichen Zeit. Vermeintlich bruchlose Traditionen galten ihm als fragwürdig, an ihre Stelle setzte er kritische philologische Genauigkeit, aus der heraus auch politische Standpunkte bezogen werden konnten: Das war gewissermaßen die einzige Tradition, in der er stand, und sie verband ihn mit Benjamin und anderen Wahlverwandten.

So wurde Szondi nicht nur mit wenigen Essays, Extrakten seiner weitausholenden Vorlesungen, zu einem der prägenden Autoren der neueren Hölderlin- und der Celan-Rezeption, sondern auch zu einer intellektuellen Stimme im aufgebrachten Westdeutschland der späten 1960er. Mit beharrlicher Polemik bedachte er Versuche, die deutsche Vergangenheit zu relativieren. Die öffentlichen Auseinandersetzungen, in die er sich mit einer gewissen Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber begab, die wohl nichts anderes war als eine äußerste Rücksicht auf sich, erschöpften ihn, und dass er zusehen musste, wie seine Studierenden in geschlossenere Theoriegebäude abwanderten, befremdete ihn. In Jerusalem, wohin Gershom Scholem ihn holen wollte, konnte Szondi sich sein Leben nicht vorstellen. Stattdessen nahm er den Ruf auf eine Professur in Zürich an, die er aber nicht mehr antrat.

Szondi wurde selbst nicht einmal so alt wie Benjamin, „der einzige, mit dem er zu identifizieren war“ (Dieter Henrich). Er nahm sich Ende Oktober 1971 im Berliner Halensee das Leben. In seinem Brief an Härtling von 1962 schrieb er noch: „Auch ist es kein ganz privater Tatbestand, dass Benjamin seinen 70. Geburtstag nicht erleben durfte.“ Dass Peter Szondi nicht hochbetagt in seinem Bett starb, gehört ebenfalls zu den nicht ganz privaten Tatbeständen. Auch deshalb ist an Peter Szondis 90. Geburtstag zu erinnern.

 

 

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