1993 - Die Szondi-Briefe
Peter Szondi: Briefe, hg. v. Christoph König u. Thomas Sparr, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1993, 380 S.
Von Gert Mattenklott
Im Herbst 1993 erschien eine Auswahl von Briefen des Literaturwissenschaftlers und Kritikers Peter Szondi im Frankfurter Suhrkamp Verlag, wo auch sein wissenschaftliches Werk vorliegt. 1 Ursprünglich geplant und finanziert als ein editorischer Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der deutschen Germanistik, war schon bei der Vorbereitung des Drucks deutlich geworden, was vollends dann auch die Resonanz bei Erscheinen des Buches erkennen ließ: Szondis öffentliche Wirksamkeit war in Anspruch und Erfolg weit über den gewöhnlichen Horizont eines akademischen Gelehrtenlebens hinausgegangen. Selbst seine literarhistorischen Beiträge waren in Richtung und Resonanz Stellungnahmen zur Zeit gewesen, nicht indem sie die Literaturgeschichte aktualisierten, sondern wie selbstverständlich davon sprachen, was an der Literatur aktuell war. Selten traf das auf Stoffe oder Themen zu, fast stets auf die Formen, denen die Aufmerksamkeit des Ästhetikers Szondi in besonderem Maße galt. Aber darüber hinaus hatte er sich in Erklärungen, offenen Briefen und Gerichtsgutachten, Podiumsdiskussionen und Leserbriefen, kurz in allen Zungen, die einem Intellektuellen zur Verfügung stehen, zu Themen geäußert, die in den 60er Jahren besonderes Interesse fanden oder doch seiner Ansicht nach Interesse finden sollten: über Juden in Deutschland und neuen Antisemitismus, über die gesellschaftliche Verantwortung des Wissenschaftlers und seine Verführbarkeit zum Mißbrauch seiner wissenschaftlichen Kompetenz, über die Moral des Ästhetischen und die Ästhetisierung der Politik. So war es zu erklären und war es auch folgerichtig, daß die Veröffentlichung einer größeren Briefsammlung im letzten Jahr als ein Beitrag zur Situation des Intellektuellen insbesondere in den späten 60er Jahren gesehen wurde. Das aber hieß, mit anderen Worten, ein Beitrag zu Geist und Revolution in der Wahrnehmung der 68er Generation. Mit einem Schlag eröffnete diese Edition einen Blick vom Ende des Jahrhunderts über das Thema von Universität und Revolution in den 60er Jahren zum Anfang. Wovon damit die Rede ist, mag hier durch eine Erinnerung und ein längeres Zitat Erläuterung finden.
Als Max Weber 1918 vor Münchener Studenten Wissenschaft als Beruf gegen die Herausforderung durch die Revolution zu verteidigen hat, steckt er ihr Feld mit verhaltener Polemik gegen den utopischen Neumessianismus dieser Jahre ab. Marianne Weber berichtet in ihren Erinnerungen an den Weberschen Salon in Heidelberg anschaulich über das Auftreten des jungen Lukács zusammen mit dem feuerköpfigen Ernst Bloch, der sich für den Messias selbst zu halten scheine. Daran mochte Weber gedacht haben, als er seine Rede mit einer Mahnung zur Nüchternheit schloß:
»Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, daß gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der einzelnen zueinander. [...] Wer dies Schicksal der Zeit nicht männlich ertragen kann, dem muß man sagen: Er kehre lieber, schweigend, ohne die übliche öffentliche Renegatenreklame, sondern schlicht und einfach, in die weit und erbarmend geöffneten Arme der alten Kirchen zurück. – Schlichte intellektuelle Rechtschaffenheit gebiete die Feststellung, daß heute für alle jene vielen, die auf neue Propheten und Heilande harren, die Lage die gleiche ist, wie sie aus jenem schönen unter die Jesaja-Orakel aufgenommenen edomitischen Wächterlied in der Exilszeit klingt: Es kommt ein Ruf aus Seir in Edom: Wächter, wie lang noch die Nacht? Der Wächter spricht: Es kommt der Morgen, aber noch ist es Nacht. Wenn ihr fragen wollt, kommt ein ander Mal wieder. Das Volk, dem das gesagt wurde, hat gefragt und geharrt durch weit mehr als zwei Jahrtausende, und wir kennen sein erschütterndes Schicksal. Daraus wollen wir die Lehre ziehen: daß es mit dem Sehnen und Harren allein nicht getan ist, und es anders machen: an unsere Arbeit gehen und der »Forderung des Tages« gerecht werden – menschlich sowohl wie beruflich. Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.« 2
Heute kann man sehen, daß Weber über das ‚tema con variazioni‘ des Jahrhunderts gesprochen hatte. Der in den dreißiger Jahren kam, war nicht der Messias, und weder Lukács noch Bloch haben Hitler auch nur einen Augenblick lang mit ihm verwechselt. Aber die Vorstellung, daß nach einer verfinsterten Gegenwart die Zukunft wie der Messias oder auch Aurora eintreten werde, war keineswegs nur auf die jungen Juden beschränkt geblieben. Sie gehört zum Urgestein der deutschen Geistesgeschichte. – In den vermeintlich revolutionären Zeiten um 1968 war der Heidelberger Konstellation in Berlin eine geisterhafte Reprise beschieden. Von den studentischen Akteuren aus Mangel an Einsicht nicht begriffen, kaum bemerkt von den meisten Hochschullehrern, über denen die Querelen des Tages zusammenschlugen, schien das alte Feld neu besetzt zu werden. 1967 fragt Theodor W. Adorno seinen Gastgeber von der Berliner FU Peter Szondi aus Anlaß eines Vortrags über Goethes Iphigenie, ob er wohl auch bei Jakob Taubes im eben eingerichteten Institut für Hermeneutik sprechen solle. 3 Dessen Antwort: »Was Taubes betrifft, so fällt mir schwer zu raten. Ist man sein Kollege, so lebt man mit Kompromissen und reservationibus. Sie sind dazu nicht gezwungen. Konkreter: er hat, wenn ich das richtig sehe, eine Neigung, seinen Studenten sowohl Adorno und Habermas als auch Gadamer und Henrich als seine Gäste zu präsentieren und im Hin-und-her so zu tun, als stünde er, überlegen, über den beiden Seiten. Brauch ich’s zu kommentieren? Habe ich nicht doch geraten?« 4
Szondi war seit 1965 Inhaber des neugegründeten Lehrstuhls für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Adorno, der ihn nach Frankfurt hatte holen wollen und die Situation in der entsprechenden Fakultät in diesem Sinne vorzubereiten versuchte, war zu spät gekommen. Dafür entwickelte sich in der Folge das Berliner Institut unter Szondis Leitung zu einem einzigartigen Resonanzboden für die ‚Kritische Theorie‘ der Frankfurter Schule, die in den Philologien keinen besseren hätte finden können. Um auf Max Webers Rede und Szondis Kommentierung der Situation in Berlin zurückzukommen: Waren die Juden Szondi und Adorno die Erben der Messianiker Lukács und Bloch, war Dieter Henrich im nahegelegenen Philosophischen Seminar der Anwalt Webers, war Taubes ihr undurchsichtiger Moderator?
So einfach ist es denn doch nicht, wenngleich die Berlin-Dahlemer Variationen Ende der sechziger Jahre das Thema von 1918 durchaus noch erkennen lassen, wiewohl auf vertrackte Weise kompliziert. Der 1929 in Budapest geborene Szondi hatte sich 1954 mit seinem wissenschaftlichen Erstling Theorie des modernen Dramas ausdrücklich auf den jungen Lukács bezogen, auf dessen Theorie des Romans ebenso wie auf Adornos Philosophie der neuen Musik. Szondis zu Lebzeiten publiziertes philologisches Œuvre war nicht allzu umfangreich. Vor allem sein Erstling, die Theorie des modernen Dramas hat ihn mit einem Schlag exponiert und eine Sonderrolle begründet, die über alles Fernere einen Schatten geworfen hat. Ihr Anlaß war zwar ein philologischer: die Markierung einer Tradition geschichtsphilosophischer Deutung von Kunstformen, an die Szondi ausdrücklich anknüpfte. Aber weder Lukács noch Adorno hatten sich auf Philologie bzw. Musikwissenschaft beschränkt. Beide entwarfen die Gegenwart in den düsteren Bildern eines ‚Zeitalters vollendeter Sündhaftigkeit‘, die Kunstformen im Sinn eines Echos, das nicht reiner klingen könne als die Zeiten tönen. Lukács ahnte bei Dostojevskij Morgenröte, ohne schon davon sprechen zu können. Adorno versagt sich in vielfältigen Anspielungen auf Negative Theologie eine ‚Lehre vom richtigen Leben‘, markiert stattdessen nur noch traurige Minima Moralia, deren fragmentierte Form aber doch den Gedanken an die Wahrheit im philosophischen System wachhält. Die Formen erhalten hier als Schwundstufe des Humanen besonderen Wert. Wovon sich nicht mehr oder noch nicht reden läßt, darauf können sie zeigen, einzig sie. Politisch links stehend, hat Adorno das ästhetische credo der expressionistischen Zeitgenossen, deren Avantgardismus die Formen ins Leben auflösen wollte, im wesentlichen nicht geteilt. Das meiste, was er einem einzelnen Autor gewidmet hat, gilt dem Symbolismus Stefan Georges. (Bei Szondi waren es Hofmannsthal, Rilke und Hölderlin.) Für Valéry zeigte er hohes Verständnis. Dem europäischen Dandysmus eher verwandt als den Avantgarden, liegt ihm auch an der Achtung der Formen im Leben mehr als am Schleifen der ästhetischen Bastionen. Was er an den Kunstformen entwickelt, gilt mit gleitenden Übergängen, vom Habitus in Rede und Selbstdarstellung bis hin zum sei’s privaten, sei’s gesellschaftlichen Umgang, für alle Form. Formgewinn ist Lebensverheißung.
In Szondis Wissenschaft erhält diese zweideutige Gedankenfigur ihre verhaltenste, zugleich aber auch eine bestürzend anspruchsvolle Gestalt. Zwar hat er zur Geschichtsphilosophie, wie überhaupt der philosophischen Diagnose der eigenen Gegenwart, ein ungleich diskreteres Verhältnis als der frühe Lukács, als Walter Benjamin oder Theodor W. Adorno es hatten. Dafür ist sein Zutrauen in die Formen als solche vielleicht eher noch steiler. Er hat ihnen, wie es scheint, seine Wissenschaft als Beruf ebenso unterstellt wie seine Lebensführung im übrigen. – Man kann das bereits in seinem Verständnis von Briefwechseln erläutern. In seinem Nachlaß fand sich die Erstausgabe von Blochs Geist der Utopie. Eine einzige Stelle ist von seiner Hand angestrichen. Sie bezieht sich auf das Briefeschreiben und erläutert bei Bloch das ‚Wo bin ich‘ mit dem Wunsch nach Selbstgewißheit: »Ich aber will mich inne haben«, darauf dann die folgende Anekdote:
»Kaum anders etwa sah ein Mädchen soeben ihren Freund wieder, lange mußte sie auf ihn warten. Da gab man ihr auf dem Weg nachhause eine verspätete Karte, in dieser hatte der Geliebte seine Ankunft mitgeteilt. Sogleich ließ ihn das Mädchen beiseite, den eben Gekommenen und doch höchst Erlebbaren, las eifrig die von ihm geschriebenen Worte, die ihr wichtiger waren als die gesprochenen, als die mit dem Geliebten unmittelbar sprechbaren. So fehlte ihr die Kraft, stark und genau zu erleben; das Mädchen flüchtete sich, unfähig das Unmittelbare leisten zu können, in die Liebe als Brief. Dennoch ist nicht zu begreifen: auch in dieser Schwäche klingt noch ein Tieferes an und eines, das uns alle berührt. Das nackte Erleben, auch wenn es stark ist, hat sich nicht inne, blickt sich nicht an sich selber ins Gesicht; erst recht nicht will es sich schon mit dem Hoffen, das darin steckt, mit seinen Bildern bereits decken, und im Traum war’s besser.« 5
Die Bilder utopischen Glücks sind nun zwar in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts nicht nur entzaubert, sie sind doppelt hoffnungslos kompromittiert. Das durch die Zeitläufe ebenso nahegelegte wie selbstverhängte Sprachverbot drängt stattdessen die Bedeutungen in die Formen zurück, die je abstrakter werden, desto prekärer es mit den Inhalten steht. Wenn es bei Bloch, aber wohl auch bei Szondi im Brief »besser« als in der Realität zu sein schien, so bezieht sich das vielleicht nicht nur darauf, daß das Glück dort in farbigeren Bildern strahlt, sondern daß es sich erst dort vollendet, indem es reflexiv wird, ein Dasein nicht nur an sich, sondern auch für sich selbst gewinnt. Eben dies aber gewährleistet erst die Form. – Wie als Medien von Selbstreflexivität gewinnen die Formen auch als Schutz gegen die Attacken »bloßen Lebens« Bedeutung. Sie sind Haut, Kleidung und Behausung vergleichbar, absterbende Verhornungen des Lebens an der Oberfläche, durch welche das pulsende Leben darunter überhaupt erst lebensfähig wird. Goethe, den Szondi bei seinem germanistischen Lehrer Emil Staiger in Zürich wie keinen anderen studieren konnte, ist ein Gewährsmann für diese Bedeutung der Formen. Was die Verschriftlichung des Lebens im Privaten durch Zugewinn von Distanz, Mittelbarkeit und Selbstkontrolle gewinnen kann – die Empfehlung der Briefform – leisten im bürgerlichen Leben seit je die konventionellen Formen des Umgangs. Szondi, in der Gesinnung den vermeintlichen Revolutionären der 68er Generation vielfach verbunden, sah sich in diesem Punkt von ihnen durchaus getrennt. Es war nicht nur eine Frage des Geschmacks, selbst nicht des persönlichen Habitus. Wichtiger war das Mißtrauen gegen die Wandelbarkeit der Gesinnungen und Gefühle, begleitet von der Hoffnung, in den Formen noch einen letzten Halt zu finden, wenn auf Übereinstimmung in den Ansichten und Empfindungen nicht mehr zu rechnen ist. Sprach- und Umgangsformen zu entwerfen, in denen es sich leben, in denen sich jedenfalls überleben läßt, war wohl eine seiner idées fixes. Sie hat die Formen seiner akademischen Lehrtätigkeit bestimmt, angefangen von der minutiösen Verschriftlichung seiner Vorlesungen bis zur Vorbereitung von Prüfungen und der Aufsicht über korrektes Zitieren oder die Unterscheidung von Adverbien und Adjektiven. Die Typoskripte verzeichnen jedes Wort, auch die vermeintlichen Improvisationen. Oben drüber steht »Meine Damen und Herren«, und am Schluß: »Darüber dann in der nächsten Woche mehr.« Wichtiger war die Konjunktion, in der bei ihm Höflichkeit in der Form und eine gelegentlich geradezu schneidende Dezidiertheit des Urteils stand. Kaum vorstellbar, daß er jemanden durch Zureden hätte gewinnen oder durch Gebrüll hätte einschüchtern können.
Form, das ist die Distanz, die einer zu sich selber hat. In den Formen, nicht nur den poetischen, erscheint das Leben in seiner Möglichkeit. Darin wird es tiefer erfaßt als in der jeweiligen Wirklichkeit, die immer einschränkt. Im Geist der Utopie ist die Stelle angestrichen, aber folgenreicher ist für Szondi in der Tat wohl diese Formgesinnung in der symbolistischen Tradition von Mallarmé und Valéry, Hofmannsthal und am Ende Adorno geworden. Die Aussagekraft der Formen jenseits der Inhalte ist in der Konsequenz des literarischen Symbolismus und seiner wissenschaftlichen Sekundanz vom frühen Lukács bis zum späten Adorno das eigentliche credo Szondis von der Dissertation an gewesen. Formen sollten die Sicherheit geben, die durch Spontaneität bedroht ist. Dieses Verhältnis zu den Formen – daß die linkesten unter den damaligen Hochschullehrern sich an einer Tradition orientierten, die eher klassisch-romantisch als avantgardistisch war – konnte offenkundig von der jüngeren Generation der 68er Studenten kaum verstanden werden.
Vom Pathos des Formalen, vor dem das denunzierende »bloß«, das im deutschen Sprachgebrauch immer mitklingt, wegfällt, fällt noch wieder neues Licht auch auf Max Webers Kritik an den charismatischen Prophetengestalten in Politik und Wissenschaft einschließlich ihrer Folgerungen. Gewinnen hier doch die konventionalisierten Einrichtungen und die Formen berufsmäßiger Politik noch eine neue, über den historischen Anlaß ihres Gegensatzes zum zeitgenössischen Neumessianismus weit hinausreichende Aktualität. Webers Plädoyer für Nüchternheit zugunsten der Forderungen des Tages sollte der bürgerlichen Professionalisierung, der Verrechtlichung und Institutionalisierung zugute kommen; 1918 hieß das ebenso wie für Szondi 1967 den demokratischen Formen. Die das verlangen, sind aber selbst auf ihrem Berufsfeld alles andere als robuste Politiker, beide vielmehr akademische Außenseiter. Szondi, der von Max Webers Schriften übrigens nur dessen Theorien über die protestantische Ethik zur Kenntnis genommen zu haben scheint, lag das Politisieren auch von Haus aus fern.
Seinen Briefwechsel, es ist die erste Publikation einer so umfangreichen Korrespondenz eines Wissenschaftlers aus diesen Jahren zwischen 1950 und 1970, hat Szondi in der Form einer Gelehrtenkorrespondenz stilisiert. Im Laufe des Briefwechsels werden wir dann zu Zeugen des traurigen Hinscheidens dieses Genus, an dessen Stelle der gremienpolitische Klagebrief tritt. Daß Szondi diesen quasi offiziösen Charakter seiner Korrespondenz bevorzugt habe, können wir freilich nur mit dem Vorbehalt sagen, daß die vorliegende Edition diesen Eindruck nahelegt. Denn diese beginnt zwar mit einem sehr privaten Brief, als solcher bleibt er aber der einzige von rund 150, die die Herausgeber aus ca. 2500 archivierten ausgewählt haben. 1952 an einen engen Freund gerichtet, um den er wirbt, sind Depressionen sein Thema: »Du mußt die Angst, Leere und Einsamkeit kennen, in der ich lebe.« 6 Die ersten 40 Seiten von Adornos Minima Moralia, die den Adressaten »angeekelt« zu haben scheinen, sind für den Schreiber, damals Student bei Emil Staiger, gelegentlich »krankhaft und verzerrt, [...] im Ganzen aber sehr vertraut«. Den Freundesbund deutet er wie Schillers Helden als eine Insel inmitten der entfremdeten Welt: »Unsere Freundschaft: das Einzige, wovon sie abhängen darf: der Glaube an das Ethos des Andern. Nie sollte uns die Verschiedenheit der Wege trennen dürfen, solange das unangezweifelt bleibt. Die Hoffnung, dass wir einmal doch ganz zueinanderkommen, muss bestehen. Auch die Hilfsbereitschaft und der Abscheu vor der Gehässigkeit.« 7
Das jähe Abbrechen in späteren Briefen, wenn derart Persönliches in Reichweite kommt, läßt es möglich erscheinen, daß der Briefschreiber hier auch bereits an die Grenze von Wunsch oder Vermögen der Selbsterschließung gekommen war, mit Sicherheit an die Grenze der Sprache. Die später verwendete übt äußerste Zurückhaltung den großen Worten gegenüber. Alle Energie geht dafür in die sachgerechte Erörterung des ‚monologue intérieur‘ mit dem offenbar getreu und ebenso unermüdlich replizierenden Studienfreund Bernhard Böschenstein, von Details der Proust-Übersetzung mit dem eng Vertrauten Ivan Nagel, der Theorie des Tragischen mit dem verehrten Karl Kerényi ein. Was derartige Briefe an wissenschaftlichem Sachgehalt gewinnen, pflegen sie als Privatbriefe an Interesse zu verlieren; hier nicht. Der Grund liegt in einer Forcierung, ja gewissen Exaltation von Sachlichkeit, der man abzuhören meint, wovon sie schweigen möchte. Das moralische Ethos des ersten Freundschaftsbriefes ist hier in ein philologisches Ethos überführt, das der Schreiber gegen alle Versuchungen verteidigt, philosophisch zu werden. So besteht er gegen Böschensteins Wunsch von mehr Aufmerksamkeit für die Inhalte der Kunst auf der Aussagekraft ihrer Formen, rechtfertigt er Siegfried Unseld gegenüber seinen Verzicht auf eine Philosophie des Tragischen zugunsten von dessen Strukturanalyse, und auf des späteren Theatermachers und Schriftstellers Ivan Nagel »zu feig zur Theorie, zu hochmütig für die Praxis« antwortet er – nicht minder spitz –, ihm fehle dazu nicht nur die soziologische und philosophische Grundlage, sondern »auch das Vertrauen zu den Antworten, die sich anbieten; es widerstrebt mir, jeden Satz über die Selbstentfremdung, die Einsamkeit oder das Missverständnis kausal in einen über die Produktionsverhältnisse hinüberzuleiten.« 8
Die Lakonie in der persönlichen Mitteilung findet ihr Pendant in einer Scheu vor dem abgegriffenen Wort und einem wahren Minimalismus in der Kundgabe allgemeiner Ansichten. Ihr Grundton ist eine Schwermut, die in der Entwicklung der sechziger Jahre zunehmend gewichtige Anlässe findet. In Szondis Briefwechsel werden die hochschulpolitischen immer dringender; für den Leser oft schwer erträglich, der zum Zeugen einer Anstrengung wird, deren Vergeblichkeit er kennt. Es schnürt einem die Kehle beim Lesen zu, welches Maß an Lebensenergie hier im Vertrauen auf die Verbesserungsfähigkeit der Wissenschaft als Beruf an Personen und Verhältnisse aufgewendet wurde, für die jede persönliche Zeile verschwendet war. Hing ihr Zustand schließlich nicht von Individuen und deren Kompetenz und Urteil ab, sondern mehr oder weniger politisch vorprogrammierten Beschlüssen obskurer Gremien und ferngesteuerter Funktionsträger. Die persönliche Ansprache beanspruchte eine Integrität des Adressaten, die zu unterstellen in den seltensten Fällen Anlaß bestand, berief sich auf die Sprache und vor allem den Sinn von Konventionen, die längst zum politischen Spielmaterial geworden waren.
Tatsächlich gerät Szondis Zutrauen zur Heilkraft der Formen bei seiner Transformation ins Politische in seine tiefste Krise. In den Hochschulkonflikten der späten sechziger Jahre wird er der Linken zugerechnet, und tatsächlich riskiert er in diesem Zusammenhang gelegentlich ein schüchternes »Wir«. Als Institutsdirektor führt er – wie noch jeder mit Erfolg in diesem Metier – das Regiment eines aufgeklärten Monarchen, dessen Position davon abhängt, daß er das Freiheitsbegehren der seinen respektiert. Er glaube, so schreibt er an seinen Lehrer Emil Staiger, »dass die Demokratie in Deutschland im Grunde weder von den autoritären Tendenzen der Regierung noch von den anarchischen in gewissen Kreisen (z.B. bei einigen hundert Berliner Studenten) gefährdet ist, sondern primär durch die Tatsache, dass Demokratie hier immer noch ein Schlagwort ist und keine gelebte Selbstverständlichkeit wie in der Schweiz. Wie viel ich ihr verdanke, merke ich erst heute und hier«. 9 So hält er auch Distanz zu Einrichtungen wie ‚Alewyns Tafelrunde‘, bei der einige der bestqualifizierten, aber politikverdrossenen germanistischen Hochschullehrer dieser Jahre Entlastung in einer wissenschaftlich anspruchsvollen exklusiven Geselligkeit suchten, und hält dafür, daß »der Humanitätsbegriff kein Ersatz ist für die Demokratisierung der Gesellschaft«. Sollte er teilnehmen, so verspricht er, werde er aber »ohne rote Fahne erscheinen und keine Revolutionslieder anstimmen.« 10
Von den Studenten seiner politisch liberalen Auffassungen wegen hoch respektiert, galt er bei den Kollegen durch Leistung. War der Respekt bei den Studenten durch eine nicht unbegründete Sorge vor Szondis moralischer Unbestechlichkeit überschattet, wer von den politischen Akteuren hatte schließlich immer ein reines Gewissen, so fürchteten die Kollegen seinen Hochmut: »dass einem in der »Neuen Rundschau« nun Reich-Ranicki, Siedler und Rühmkorf als Kritiker vorgesetzt werden« 11, nimmt er als eine Provokation durch das »Mittelmaß«, die er am liebsten mit einer eigenen Zeitschriftengründung beantworten möchte, an der Bollack, Celan, Bonnefoy, Bouchet, Autoren des Mercure beteiligt sein sollten. Bei einem anderen Plan sieht er Ingeborg Bachmann als Mitherausgeberin vor. Auf einen Brief seines romanistischen Kollegen Loos von der FU Berlin repliziert er: »Was sie [...] über meine Person schreiben, kann ich [...] nicht falsch finden. Vor allem »puritanisch« und »elitär« dürften zutreffen (die Tabuierung von »Elite« habe ich nie mitvollzogen). Das »Missionarische« gehört der Vergangenheit an. Das Universitätsgesetz, die Zustände im Fachbereichsrat und der Weg, den die Studentenbewegung eingeschlagen hat, haben mich der Resignation sehr nahe gebracht. Was mir in Ihrer kleinen Porträtskizze überhaupt nicht einleuchtet, ist der Satz, ich glaubte an die »Diktatur des Guten«. Leider ist mir aber das Gespräch, auf das Sie anspielen, nicht mehr recht gegenwärtig. Schwerlich kann ich aber etwas gesagt haben, was zu meiner prinzipiellen Ablehnung jeder Diktatur in Widerspruch gestanden hätte.« 12
Im Sinn der instrumentellen Pädagogik und ihrer läppischen Didaktiken war Szondi ein pädagogischer Blindgänger. Er war dennoch ein Hochschullehrer von hohen Graden mit einer bedeutenden Ausstrahlung auf seine Schüler. Er hat sie nicht durch Gängelung und Bevormundung beeindruckt, sondern indem er ihr Freiheitsbedürfnis bestärkte. Studieren sollte, wer wollte. Diesen freien Willen unter allen Umständen zu unterstützen, hat er sich in seinen Beiträgen zur Hochschulpolitik bemüht. An Albrecht Schöne schreibt er 1966: »Was aufhören soll, ist die Bummelei, an der die Desorientiertheit, der mangelnde Kontakt mit Professoren und Assistenten, die Seminare mit 200 »Teilnehmern« u.a. schuld sind; was nicht aufhören soll meiner Ansicht nach, ist die Bummelei, die dem Willen, dem Charakter, den biographischen Wechselfällen des Studenten entspricht.« Er opponiert gegen den »dirigistisch-illiberalen Zug«, den »säkularisierten Fascismus der Wirtschaftsplaner« und fordert: »Man muss alles tun, damit keiner länger studiert, als er studieren möchte (vgl. Grundstudium usw.), aber nichts dagegen unternehmen, dass einer so lange studiert, wie er um seines eigenen Studienziels wollen oder seinem Naturell und den privaten Zufällen seiner Lehrjahre (zu denen auch die éducation sentimentale gehört) entsprechend studieren will.« 13 Die Entwicklung der Studentenbewegung war freilich rasch über das Ziel einer Verbesserung des bürgerlichen Standes der Studenten hinaus und – sofern sie marxistisch orientiert war – auch über die liberalen Auffassungen Szondis. Daß die Revolutionäre der Linken im Nu genauso bigott wurden wie die Vertreter des ‚ancien régime‘, hat ihn eine Heimat bei der Linken nicht finden lassen. – Im eigenen Institut allerdings hatte er noch andere Sorgen, ein gewisses politisch indifferentes Virtuosentum, das ihn – in einem Brief an den Romanisten Herbert Dieckmann aus seiner letzten Lebenszeit – bekümmerte: »eine Esoterik à la Derrida [...] (ich sage es ungern, weil ich Derrida sehr gern habe), man phantasiert über Texte wie Liszt über Bachsche Themen. Die Philologie steht derweil in der Ecke.« 14
Szondis Leben war das eines jüdischen in Deutschland lehrenden Hochschullehrers, der – als Jugendlicher aus Budapest nach Bergen-Belsen verschleppt und von dort in die Schweiz freigekauft – als Staatenloser noch in den fünfziger Jahren ohne Paß z.B. nicht nach Wien reisen konnte. Das geistige Milieu seiner weltliterarischen Orientierung war von Anfang an unakademisch: das Elternhaus, der Freundeskreis, das Kunstleben in den Weltstädten Zürich, Berlin, Paris. Im Elternhaus des 1929 in Budapest Geborenen wurde Ungarisch gesprochen. Als Oberschüler und Student hat er dann – nach der Flucht der Familie in die Schweiz – dem Vater Leopold Szondi geholfen, dessen psychologische Publikationen ins Deutsche zu übertragen, das er selbst als eine Fremdsprache gelernt hatte. Das Ungarisch verlor er dann als Alltagssprache, ohne im Deutschen schon völlig vertraut zu sein. (Zur Besprechung meiner Dissertation empfing er mich gelegentlich mit Duden und Grammatik, und am energischsten und ungemein hartnäckig hat er mich über syntaktische Konstruktionen, den Gebrauch des Genitivs und die korrekte Verwendung des Adverbs belehrt, damals durchaus zu meiner Beunruhigung, der ich fürchten mußte, daß ihm meine historisch-philologischen Schnitzer über den linguistischen entgehen würden.) Seine eigene Dissertation von 1956, die Theorie des modernen Dramas, läßt in ihrer ersten Fassung noch recht deutlich die Fremdheit im Deutschen erkennen, inzwischen nun zusätzlich die des Schweizer Dialektsprechers in der literarischen Hochsprache. Vielleicht hatte sein zögernder Sprechhabitus auch damit zu tun, so wie er sagen konnte, daß er die Erfahrung der Muttersprache nicht kenne, wohl aber die Sprachen der Mutter und des Vaters, der Kindermädchen, Freunde und verschiedenen Bücher zu sprechen gelernt habe. Daß er schließlich, ein ungarischer Jude, dessen Familie in der Schweiz Zuflucht gefunden hatte, sich ausgerechnet in einem deutschsprachigen kulturellen Milieu einrichten mußte, kann seine Bereitschaft, in diesem Milieu auch wahrhaft heimisch zu werden, unmöglich gefördert haben.
Soweit es ihn persönlich betraf, hat er die Nazizeit mit der größten Diskretion behandelt, wie um das Gegenüber zu schonen und in vorwegnehmender Identifikation mit der Scham, die andere in Gedanken daran empfinden könnten. (In den Tod ging er ohne Abschiedsbrief.) Sein Leben blieb aber, so lassen seine Briefe es in aller Deutlichkeit erkennen, durch das Schicksal des Juden bestimmt. Der hohe Grad selbstverständlicher wechselseitiger Teilnahme in den wichtigsten seiner Freundschaften: mit Jean Bollack, Ivan Nagel, Paul Celan und Adorno geht auch darauf zurück. 1959 fragt er sich, ob es richtig wäre, angesichts des Wiederauflebens des Antisemitismus und der russischen Drohungen nach Deutschland zu gehen. An Rudolf Hirsch heißt es über einen Besuch bei Paul Celan 1959: »Gestern war ich lange bei ihm, sein reines kompromissloses leiderfülltes Wesen hat mich tief erschüttert. Wir haben uns, glaube ich, sehr gut verstanden.« 15 Celans Gespräch im Gebirg bezeugt die Begegnung. »Wir wollen Freunde sein in dieser so wenig freundlichen Welt«, schreibt Szondi 1960, den Wechsel der Anrede zu den Vornamen kommentierend. Als Szondi dann doch nach Deutschland ging, geschah es mit dem Gefühl einer »self displaced person«. 16 Er selbst verwendet diesen Ausdruck Gershom Scholem gegenüber in Erinnerung an die staatenlos aus den Konzentrationslagern in die Nachkriegszeit entlassenen »DP’s«. Nach Deutschland war er in einer Situation gekommen, in der sich die braunen Nebel über den Universitäten noch keineswegs überall gelichtet hatten. Bis über Szondis Tod hinaus blieb allerdings der Antisemitismus im unmittelbaren Kollegenkreis noch lange ein gut gehütetes Geheimnis. Noch 1943 hatte einer in dem Periodicum Das deutsche Fachschrifttum »die tödliche Gefahr beschworen, die der Einbruch des jüdischen Geistes auch in das wissenschaftliche und fachliche Schrifttum« bedeute. Ein trauriges Glück, daß Szondi davon nicht wußte. Immerhin hatte die Gründung des »Seminars für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft« an der Berliner FU auch diesen Sinn, einem der ersten Juden, der sich nachfaschistisch in Deutschland habilitierte, Distanz zur braunen Vergangenheit der Germanistik zu erlauben.
Über Paris, die Stadt Bollacks und Celans, äußert er sich 1964: »Noch nie habe ich so deutlich wie jetzt das Gefühl gehabt, dass es die Stadt ist, in der ich mich niederlassen sollte.« 17 Andererseits muß er Geoffrey Hartman gegenüber 1968 einbekennen: »wie sehr mir doch die deutsche Sprache als Erkenntnis- und Ausdrucksmittel unentbehrlich geworden ist.« 18 Scholems ernstes Wort »Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch« unterstützt er »mit jedem Wort« und fährt im selben Zusammenhang fort: »Amerika ist eine sehr angenehme Überraschung, ein, wie mir scheint, menschliches Land, trotz allem, eine Erholung nach der deutschen Verlogenheit.« 19 Seine Lebensumstände in Berlin sind unter diesen Umständen sehr eingezogen. Auf des Kollegen Rainer Gruenters Frage – er scheint Szondi für einen bon vivant gehalten zu haben –, was er treibe, antwortet er: »Sie werden lachen. Ich lebe im Grunewald, von 5.30 bis 22.00 arbeitend, wahrscheinlich zurückgezogener als Sie. Und da soll ich mondäne Episteln schreiben! Wenn Sie wüssten, wie sehr ich den Rückzug aus der Zeit (was die »Welt« so unter der Zeit versteht) geniesse und benötige.« 20 Scholem gegenüber, mit dem ihn ein ähnlich söhnliches Verhältnis verband wie mit Rudolf Hirsch, hat er zu begründen, weshalb er, dessen Wunsch entgegen, nicht nach Israel geht. Die drei Monate Gasttätigkeit in Israel seien genug gewesen, »aus Israel einen Fixpunkt in meiner inneren Geographie zu machen, der künftig bei allen Überlegungen, die ich als self displaced person anstelle, eine wichtige Rolle spielen wird. Heimweh ist eine seltsame Sache. Man kann in drei Monaten seine Heimat (wieder)finden ohne es zu merken und ohne sie zu akzeptieren. Aber das ist kein Briefthema.« 21 1970 bekräftigt er seinen Entschluß mit den Sätzen: »Sie haben einmal in Jerusalem mit einem in seiner Hellsichtigkeit zwar nicht überraschenden, aber unvergesslichen Satz gesagt, warum ich in Deutschland lebe und wohl hier bleiben werde: weil ich es verlernt habe, zu Hause zu sein (ich war es in meiner Budapester Kindheit so wenig wie in Zürich und streng genommen auch in anderem Sinn bei meinen Eltern nie). Das ist eine Krankheit, die man vielleicht mit der Rosskur einer, aus welchem Grund auch immer, notwendig werdenden Emigration heilen könnte; aus freiem Willen bringe ich die Kraft zu diesem Schritt umso weniger auf, als ich in Jerusalem vor zwei Jahren ja nicht nur empfand, dass ich dort zu Hause bin, sondern auch, dass ich das nicht ertrage. Dass sich das ändern könnte und sollte, weiss ich, aber dieses Wissen ist nicht stark genug, um den Widerstand in mir jetzt – und das heisst: so lange ich es in Deutschland aushalte – zu brechen. Mit welchen Empfindungen ich diesen letzten Satz eine Woche nach der Münchner Brandstiftung niederschreibe [bei dem nie aufgeklärten Anschlag auf das Altersheim der Israelitischen Gemeinde waren sieben Menschen ums Leben gekommen], brauche ich Ihnen sicher auch nicht zu sagen«. 22
Den Brief unterschreibt er, wie gelegentlich an Scholem, mit »Ihr kleiner Szondi«, eine Anspielung auf das widersinnige Verhältnis von innerlich empfundener Ohnmacht und einer baumlangen körperlichen Statur. Er hat sie, wie aus Höflichkeit, durch eine Haltung mit gleichsam eingezogenem Kopf zu relativieren gesucht.
Erstaunen über die Dummheit und Schlechtigkeit der Welt, ein Gefühl, bereits zu alt oder aber noch allzu jung für diese Welt zu sein, machen einen melancholischen Grundzug seines Wesens aus, wie es aus seiner Korrespondenz zu lesen ist. Die eigene Einsamkeit beginnt er spätestens in der Studienzeit als seine Lebensform zu akzeptieren. Sie scheint ihn dennoch immer wieder an den Rand des Lebens geführt zu haben. Dann stellen sich Klagen wie diese ein: »Am Stocken der Arbeit sind weiterhin die Kopfschmerzen schuld, die meist gar keine Schmerzen sind, sondern eine Lähmung des Gehirns, die ich früher nicht kannte und von der ich nie geglaubt hätte, dass man sie ein Jahr lang ertragen kann. Die Valérysche »exaspération d’un point inaccessible de l’être« ist mir leider ein tägliches Problem. Meine einzige Hoffnung: dass es im Frühling durch den Ortswechsel anders wird.« 23 Unter dem Stichwort »Suicides« schreibt Valéry: »Ainsi l’exaspération d’un point inaccessible de l’être entraîne le tout à se détruice. Le désespéré est conduit ou contraint à agir indistinctement.« 24 Szondi übersetzt: »Die Erbitterung über eine unerreichbare Stelle unseres Wesens reißt so das Ganze zur Selbstvernichtung hin. Der Verzweifelte wird dazu geführt oder gezwungen, ohne Unterscheidung zu handeln.«
Im November 1967 schon hatte Paul Celan Grund gesehen, gegen die Depressionen Szondis anzuschreiben: »Aber verlieren Sie nicht die Zuversicht, lieber Peter! Ich weiß aus Erfahrung, wieviel Widerstand und Arbeitskraft unsereins mitbekommen hat: erstaunlich viel! Sie werden noch oft und wieder und wieder aus dem vollen schöpfen – ich bin dessen sicher.« 25 Drei Jahre später nahm Celan sich das Leben. Szondi, 1971 auf den Lehrstuhl Paul de Mans berufen, verabschiedete sich im September des Jahres von seinen Studenten, ehe er sich im Oktober das Leben nahm.
Anmerkungen:
-
Peter Szondi: Briefe. Herausgegeben von Christoph König und Thomas Sparr. Frankfurt am Main 1993.
-
Max Weber: Wissenschaft als Beruf. Berlin 71984, S. 36.
- Jakob Taubes war in diesen Jahren Inhaber eines Doppellehrstuhls für Philosophie und Judaistik an der FU Berlin.
- Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 217.
- Ernst Bloch: Geist der Utopie. Berlin 21923, S. 9. Das Exemplar ist im Besitz des Verfassers.
- Brief an Mario von Ledebur vom 15.5.1952. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 17.
- Ebd.
- Brief an Ivan Nagel vom 14.11.1954. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 53.
- Brief an Emil Staiger vom 18.7.1967. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 228.
- Brief an Herbert Singer vom 6.1.1970. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 283.
- Brief an Rudolf Hirsch vom 19.2.1964. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 148.
- Brief an Erich Loos vom 22.4.1971. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 344.
- Brief an Rudolf Walter Leonhardt vom 28.1.1967. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 215.
- Brief an Herbert Dieckmann vom 20.11.1970. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 318.
- Brief an Rudolf Hirsch vom 9.4.1959. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 87.
- Brief an Gershom Scholem vom 3.5.1969. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 267.
- Brief an Rudolf Hirsch vom 19.2.1964. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 146.
- Brief an Geoffrey Hartman vom 15.4.1968. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 248.
- Brief an Gershom Scholem vom 15.2.1965. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 180.
- Brief an Rainer Gruenter vom 7.6.1966. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 190.
- Brief an Gershom Scholem vom 3.5.1969. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 267.
- Brief an Gershom Scholem vom 16.2.1970. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 303.
- Brief an Bernhard Böschenstein vom 31.1.1959. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 81f.
- Paul Valéry: Tel Quel II. Rhumbs. Paris 1973, S. qo.
- Brief von Paul Celan vom 21.11.1967. in: Peter Szondi: Briefe. a.a.O., S. 244f.