Springe direkt zu Inhalt

30 Jahre AVL - Rede von Gert Mattenklott (1996)

von Gert Mattenklott, gehalten am 18. Januar 1996

30 Jahre sind für die Einrichtung einer Universität kaum mehr als ein Räuspern. Hier zählen andere Zeiten. Überdies sind Lebensjahre kein Verdienst, hier so wenig wie sonst im Leben. Die FU überhaupt ist jung und steht mit dem Verfall ihrer Gründungsphilosophie zur Disposition. Man kann das an der Geschichte des Instituts für AVL gut nachvollziehen, ein typisches FU-Produkt, aus Not geboren. So wie es die FU nicht geben würde ohne den Anschlag der SED auf die Wissenschaftsfreiheit, würde es dieses Institut nicht geben ohne die braune Vergangenheit der Germanistik. Es war kein Zufall, daß die Universität mit Peter Szondi einen der ersten Juden beauftragte, der sich – als Kind aus einem deutschen KZ freigekauft – nach 1945 in Deutschland habilitiert hat. Ich weiß, so steht das nicht in den Gründungsdokumenten, die vorauseilend Normalität simulieren wie so viele derartige Dokumente aus der Restaurationszeit der Bundesrepublik.

Ich möchte dennoch darauf bestehen: Es würde dieses Institut nicht geben ohne die Scham angesichts der Geschichte der deutschen Philologie während des Faschismus. Ein rasender Antisemit, damals als solcher unerkannt, hat ebenso daran mitgewirkt wie einer der frühesten Aufklärer über die schmähliche Rolle der Germanistik in den Jahren des Faschismus. Mit anderen Worten, dieses Institut – was immer es auch sonst noch sein mag – ist zu allererst das Resultat einer wissenschaftsgeschichtlichen Sezession. Dieser Logik folgend hat seine Komparatistik ihre Orientierung nicht am Nationenvergleich der alten »Littérature Comparée«, hat sie nicht an der Bonner Komparatistik genommen, sondern an der transnationalen Ästhetik und Poetologie Allgemeiner Literaturwissenschaft, wie sie der Exilant René Wellek an der Yale University beispielgebend eingerichtet hatte.

Die Umstände dieser Gründung sind heute verblaßt; was den wichtigsten Anlaß der Sezession betrifft, glücklicherweise. Das gibt uns, den Erben, Gelegenheit, die Gründe für den Sinn dieser Institution zu überdenken, analog übrigens zu der Herausforderung, mit der sich diese Universität insgesamt konfrontiert sieht. Für mich selbst tritt dabei eine Studienerfahrung in den Vordergrund, die ich vor 30 Jahren gemacht habe, als ich hier zu studieren begonnen habe. Es gab hier keine Ausgrenzung: weder politisch noch wissenschaftstheoretisch – von anderen, ebenso wichtigen, Selbstverständlichkeiten zu schweigen. Schulbildend konnte dieses Institut nicht werden, weil es Schule war: eine Art Schule von Athen oder meinetwegen auch Judenschule: wo man gelegentlich sein eigenes Wort nicht verstehen konnte im Wettstreit der verschiedenen Stimmen. Es gab nur eine Spezies, die nicht geduldet war: schwarze Schafe. »Bangemachen gilt nicht«, hieß einer von Szondis Wahlsprüchen, ein anderer: »Man muß das Brett bohren, wo es am dicksten ist«. Entsprechend geräuschvoll ging es zu in einem bewußt geförderten Nebeneinander von hermeneutischen Historikern und Marxisten, Psychoanalytikern und Dekonstruktivisten.

Die Bedingung einer derartigen sachlichen Vielfalt war und ist ein Milieu, in dem die Achtung vor dem Wissenschaftler – vom Studenten bis zum Hochschullehrer – den Vorrang hat vor der Differenz in den Wissenschaften. Die Grundvoraussetzung für die Leistungsfähigkeit von Personen und Institutionen liegt in erster Linie nicht in den verfaßten Ordnungen und Strukturen, nicht in der materiellen Ausstattung, sondern in einem Milieu uneingeschüchterter, wechselseitig respektierter und ermutigter Selbstentfaltung. Weil das immer auch Selbstverhaltung und -disziplin voraussetzt, muß diese Voraussetzung ständig neu geschaffen werden, bis hin zum Stil des Umgangs miteinander.

Dieses Institut, wir wissen es, ist in einer privilegierten Situation, um deren Erhalt wir uns mit allen Kräften bemühen. Es geht uns dabei nicht um eine gut möblierte Nische abseits der Probleme einer Massenuniversität. Wir sollten unsere Privilegien vielmehr als einen Auftrag verstehen, hier ein Musterbeispiel für das Studium der Geisteswissenschaften an der FU Berlin zu schaffen. Das fängt an mit den persönlich gestalteten Unterrichts- und Betreuungsverhältnissen vom Eingang des Studiums bis zur Abschlußarbeit. Es erstreckt sich auf die Pflege und Erschließung der Bibliothek und die Verflechtung mit den Nachbardisziplinen. Die Aufmerksamkeit für individuelle Studienprobleme gehört ebenso dazu wie die Verantwortung für die Entstehung der Qualifikationsarbeiten in angemessenen Fristen und bei kontinuierlich angebotener Beratung. Stimmen diese Voraussetzungen, so sollten wir um Effizienz und Leistungsniveau unbesorgt sein können.

Gert Mattenklott: »Rede aus Anlaß des Institutsjubiläums« (18. Januar 1996), FU AVL; veröffentlicht auf der Homepage des Instituts.