Springe direkt zu Inhalt

Forschungsprogramm

Die zentrale Forschungsidee und ihre Prämissen

Das Graduiertenkolleg widmet sich einer Grundlagenproblematik der Geisteswissenschaften: der ‚Schrift’ in dem erweiterten Sinne aller Formen von ‚Schreibung’, die nicht nur in der sprachlichen Aufzeichnung, sondern auch in musikalischen, literarischen, choreographischen, logischen, mathematischen, naturwissenschaftlichen und informationstechnischen Inskriptionen eine basale Kulturtechnik bilden und ein Bindeglied darstellen zwischen verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen und Philologien (und übrigens auch den Natur- und Sozialwissenschaften). Gerade in der Berücksichtigung der nichtalphabetischen (überwiegend außereuropäischen) Schriftsysteme relativiert sich das ‚phonographische Missverständnis’, Schrift sei (nichts als) aufgeschriebene mündliche Sprache.

In Absetzung zu einem sprach- und kommunikationszentrierten Schriftverständnis, möchte das Kolleg ein Forschungsfeld über ‚Schriften’ profilieren, welches die ikonischen und operativen Potenziale von Schriften in den Mittelpunkt stellt. Die Materialität, die Sichtbarkeit und die Handhabbarkeit von Schriften eröffnen einen kognitiven und ästhetischen Operationsraum im Wechselspiel von Auge, Hand und Technik, der durch die Mehrdimensionalität und Simultaneität inskribierter Flächen charakterisiert ist. Zu untersuchen sind also die kognitiven und ästhetischen Bedeutungen von Schriftpraktiken, die im Phänomen der Schriftbildlichkeit verwurzelt und auf die Oberflächensignatur, auf die Textur von Schriften bezogen sind. Die hier anvisierte Erweiterung des Schriftkonzeptes durch eine Umakzentuierung hin zu einem lautsprachenindifferenten Schriftkonzept, kann – in pointierender Zuspitzung – in drei Hinsichten gekennzeichnet werden: Schrift (1) ist nicht nur Sprache, sondern auch Bild; sie (2) dient nicht nur der Kommunikation und Gedächtnisbildung, sondern auch der Kognition; Schrift (3) ist nicht nur eine Zeichenstruktur, also Symbol und Medium, sondern auch ein Operationsinstrument, also Technik und Werkzeug.

Es gilt somit, die Schrift in ihren kulturtechnischen Funktionen für Wissenschaft und Erkenntnis einerseits, für Kunst und ästhetische Erfahrung andererseits zu untersuchen, und dies sowohl in systematischen wie in historischen Zusammenhängen, anhand von europäischen und außereuropäischen Schriftgebräuchen. Dabei gilt uns das Ikonische als Voraussetzung der Lesbarkeit der Schrift, das Materielle als Voraussetzung ihrer Körperlichkeit, das Graphische als Voraussetzung ihres Spurcharakters, das Strukturelle als Voraussetzung der Operativität diskreter Anordnungen.

Die ‚Stoßrichtung’ der in dem Terminus ‚Schriftbildlichkeit’ gebündelten Forschungsidee besteht in einem anvisierten Perspektivenwechsel von der ‚Schriftsprachlichkeit’ zur ‚Schriftbildlichkeit’. Nachdem über mehrere Jahrzehnte in einer alphabetzentrierten Sicht Schrift primär als ein Kommunikationsmedium, als aufgeschriebene Sprache und also in Zusammenhang mit der mündlichen Sprache thematisiert wurde, sind nun Leistungen von Schriften in den Blick zu nehmen, die sich nicht auf die Aufzeichnung und Speicherung von mündlicher Sprache reduzieren lassen und die in der impliziten Ikonizität und materialen Kombinierbarkeit von notationalen Elementen wurzeln. Betont wird damit der nicht nur ‚aufschreibende’, sondern vielmehr ‚hervorbringende’ Umgang mit Schrift: Schrift ist nicht nur dazu gut, aufzuzeichnen und abzubilden, was - im Prinzip - auch ohne Schrift gegeben ist. Vielmehr eröffnet der in der Sichtbarkeit gegründete Operations- und Erfahrungsraum der Schrift sowohl kognitive wie ästhetische Potenziale, für die es in schriftlosen Praktiken kein Vorbild gibt. Überdies sind Schriften nicht nur deskriptiv, sondern auch präskriptiv (z.B. Musiknotation, Formeln, Programmierung).

Der Phänomenbereich

Die Beteiligung von Fächern wie Ägyptologie, Altorientalistik und Japanologie macht es in diesem Graduiertenkolleg möglich, diese Potenziale der Schrift nicht nur ausgehend von Alphabetschriften zu untersuchen, sondern logographische und syllabographische Schriftsysteme in die Untersuchung mit einzubeziehen. Der Phänomenbereich ist also denkbar weit und umfasst eine Fülle von Erscheinungen, die wir hier – äußerst selektiv und ohne systematisch-hierarchischen Anspruch - auflisten:

  1. Ideogrammatische Phänomene bei logographischen, aber auch bei alphabetischen Schriften wie die Interpunktion, Majuskeln, Groß- und Kleinschreibungen, diakritische Markierungen, Ausrufezeichen etc., Klammern, Parenthesen, Anführungszeichen, Absätze, Gliederungen, Inhaltsverzeichnisse, Unterstreichungen, Kursivierungen, aber auch Korrekturzeichen, Lücken, Abstände, Streichungen etc.;
  2. Syllographien, Logographien, insbesondere die Vielzahl der frühen und frühesten außereuropäischen Schriftformen;
  3. Formeln, in denen die Schrift als formaler Operator eingesetzt wird, wie in Gestalt von Kalkülen in Mathematik, Logik, Naturwissenschaften und Technik; hierfür sind alle Formen des schriftlichen Rechnens und Schließens signifikant, ferner Operationszeichen, Programmschriften etc.;
  4. Diagramme, die auf der Verbindung von Schrift und Zeichnung beruhen und über eine lange Tradition verfügen; sie sind heute in einer Vielzahl von Begriffsbäumen, Tabellen, Plänen, Koordinateneinträgen etc. aus wissenschaftlichen, technischen und organisationspraktischen Darstellungen nicht mehr wegzudenken. Überdies geht es um schriftbasierte Modellbildungen und auch um Tabellen, Kartographien, Netze und Schaltpläne;
  5. Epistemisches und literarisches Schreiben, bei dem erst durch den Vollzug des Schreibaktes, vor allem aber durch die Korrektur, Umstellung und ‚Überschreibung’ sich die Gedanken und ihre Ordnung herausbilden; hierzu gehören auch das unsystematische Anfertigen von Notaten und Skizzen im ‚Gedankenlabor’ eines Forschers und Schriftstellers, die Entwürfe von und Korrekturen an literarischen Manuskripten, die handschriftlichen Kommentare und Unterstreichungen in gelesenen Texten etc.;
  6. Musik- und Tanznotationen, die nicht nur Klänge und Körperbewegungen in einem homogenen Schriftmedium repräsentieren, sondern auch Funktionen erfüllen als Spiel- und Tanzanweisungen und als Gestaltungsraum schöpferischen Formens, Veränderns, Montierens des ‚musikalischen und/oder körpertechnischen Materials’, oftmals mit Übergängen zwischen medial verschiedenen Notaten; Typologien von Kompositions- und Choreographieprozessen lassen sich – bezogen auf unterschiedliche Komponisten und Choreographen - anhand von musikalischen/choreographischen Schriftbildern erarbeiten;
  7. Digitalisierte Schrift, die auf dem Binäralphabet beruht, und zwar sowohl die Programmierschriften als auch die ‚autooperative Schrift’ des Computers, bei der Schriftstrukturen dynamisiert werden, sich also selbst bewegen und verändern, indem Zeitparameter in die Schrift implementiert werden; hierzu zählt auch die Vernetzung unterschiedlicher notationaler Systeme und – in Hypertextstrukturen – die Entwicklung ganz neuer Schriftwerkzeuge, wie zum Beispiel der ‚Link’, welcher eine Selbstbewegung des Textes auslöst;
  8. Anagrammatik, Buchstabenmagie und Kabbala: Hierzu gehört der ganze Komplex der so genannten ‚sekundären Funktionen der Schrift’, bei denen die Buchstaben vorliegender Texte eine Eigendynamik gewinnen und umkombiniert, umgruppiert, manchmal sogar: umgewendet werden. Phänomene des mehrfachen Schriftsinns sind auch in nichtalphabetischen Schriften belegt. In der ‚anagrammatischen’ Musik wird mit Tonbuchstaben komponiert (BACH, DSCH ‚Dimitri Schostakowitsch’, ADSCHBEG ‚Arnold Schönberg’). Außerdem zählen hierzu Schriftspiele wie Scrabble und Kreuzworträtsel. Schließlich geht es um die magischen und mystischen Funktionen des ‚Schriftzaubers’ und nicht zuletzt um die Kabbala, die sich immer als Buchstabenpraktik versteht und dabei altorientalische Schriftzeichenauslegungen fortsetzt;
  9. Sortierung: Bei der Konstruktion von Enzyklopädien, Wörterbüchern, Bibliothekssignaturen oder anderen Listen fungiert die numerische oder alphabetische Reihung als Sortierungsmaschine, als Matrix einer linearen Ordnung und als Gliederungs- und Hierarchisierungsinstrument; überdies gibt es nichtalphabetische z.B. akrographische Sortierungsmechaniken;
  10. Schrift als Index: Hier geht es um die Bedeutung handschriftlicher Signaturen als Beglaubigung und Markierung von Singularität, um das Emblematische der Schrift, aber auch um Fragen des ‚individuellen’ Stils, um künstlerische Bild-Schrift-Brüche, um das Graphologische und schließlich um die Hautschrift der Tätowierung.

Sechs theoretische Prämissen

Trotz der Vielfalt der Phänomene wie der beteiligten Disziplinen teilen die Antragsteller mindestens sechs theoretische Prämissen miteinander.

  1. Zum Verhältnis von Sprache/Schrift: Die Schrift ist nicht auf die Fixierung mündlicher Sprache reduzierbar. Vielmehr ist sie immer auch ein Medium, um nichtsprachliche Sachverhalte in Musik und Tanz, in Wissenschaften wie Mathematik, Logik, Physik, Chemie, Genetik, in ästhetischen Hervorbringungen wie Literatur und bildenden Künsten, in der Sprachaufzeichnung selbst, im Rechnungswesen und in der Gesellschaftstheorie zu notieren.
  2. Aisthesis der Schrift: Schrift ist eine auf Wahrnehmbarkeit angelegte Struktur, deren Sinnlichkeit Prozesse der Exploration und Kreativität anregt und zwar sowohl in epistemischen wie in künstlerischen Zusammenhängen.
  3. Anordnungscharakter/ Zweidimensionalität: Obwohl es bei Schriften Schreib- und Leserichtungen gibt, ist die Ordnung der Schrift nicht auf Linearität reduzierbar: Skripturale Anordnungen nutzen – in der einen oder anderen Weise – die Zweidimensionalität und die Simultaneität inskribierter Flächen. Überdies gibt es dreidimensionale Schriften, wie bei den Kerbstöcken und Knotenschriften, und zunehmend werden – oftmals mehrdimensionale – schriftförmige Netzstrukturen und Modelle von Bedeutung. Hier gibt es vielfache Grenzverläufe und Übergänge.
  4. Explorativität/Kreativität: Schrift ist nicht nur ein Darstellungsmedium, sondern zugleich auch ein Instrument, welches einen materialen Operationsraum im Wechselverhältnis von Auge und Hand eröffnet und durch Umordnungen neue Ordnungssysteme erzeugt (z.B. im Rechnen, beim Komponieren, in der Erstellung von Verskonstruktionen, in der Bildung von Gedanken und der Arbeit mit Texten). Mathematik und Musik dokumentieren beispielhaft, wie sehr durch Notationen komplexe Gefüge und Gebilde in Wissenschaft wie im Ästhetischen möglich werden.
  5. Visualisierung des Unsichtbaren: In der Kulturgeschichte der Visualisierung und des ‚geistigen Auges’ spielen nicht nur Bilder und Diagramme, sondern auch Schriften eine besondere Rolle. Notationen können theoretische Gegenstände und abstrakte Entitäten verkörpern und ‚vergegenständlichen’ (Zahlenschrift, Begriffsschrift, Programmierschrift, Schaltpläne, Organigramme, Blaupausen etc.), also Sachverhalte vor Augen stellen, die auf andere Weise gar nicht in Erscheinung treten können. So wird das Operieren mit unsichtbaren ‚Wissensdingen’ überhaupt erst möglich.
  6. Materialität/Spur: Als ‚Einschreibung’ und als ‚Spur’ hinterlässt die Schrift eine im Realen verkörperte Struktur. Die Materialität dieser Dimension ist immer auch Niederschlag und Präsentation von Herrschaft und Macht in Gestalt der Einteilung von Räumen, Architekturen und Wegführungen und nicht zuletzt ihrer Zugänglichkeit.

Akzente des Forschungsprogramms

Gerade die Vielzahl der beteiligten Disziplinen macht es sinnvoll, den Forschungen zwar keine strenge Definition, wohl aber ein Rahmenkonzept von Schrift zugrunde zu legen. Die vier Seiten dieses Rahmens kennzeichnen - allerdings in je verschiedenen Mischungsverhältnissen und Intensitäten auftretend - den ‚Erfahrungs- und Operationsraum Schrift’. Sie profilieren das zugrunde liegende Schriftkonzept, welches die Arbeit des Kollegs so anleiten kann, dass sowohl eine verengende (z.B. rein phonographische) Spezifizierung, wie eine inflationäre (z.B. postmodernistisch-dekonstruktive) Ausweitung vermieden wird. Vier Attribute bilden den Rahmen; sie benennen zugleich die Bedingungen, die – und zwar zusammen – erfüllt sein müssen, damit eine sinnlich sichtbare Markierung überhaupt als eine Schrift gelten kann. Es sind dies: (a) die Wahrnehmbarkeit, (b) der diskrete Anordnungscharakter, (c) die Operativität und (d) die Referentialität.

Als eine wichtige Vorarbeit zu diesem Schriftkonzept kann Nelson Goodmans bisher wenig rezipiertes Notationskonzept dienen, welches Schriften als disjunkte und diskrete Zeichensysteme einführt und diese funktionell als Äquivalenzklassen fasst, die Mengen von Elementen zu ordnen vermögen. Allerdings gibt es immer auch Schriftphänomene, welche diese Forderung nicht erfüllen (z.B. in der Musik: mittelalterliche Neumen, die mehrere Töne notieren; ‚Tonkonturen’ in zahlreichen asiatischen Kulturen wie Japan, China, Vietnam, die nicht Einzeltöne aufzeichnen). Andererseits bieten auch Jacques Derridas Überlegungen – unter Berücksichtigung der Grenzen dieses Ansatzes – eine wichtige Orientierung, insofern in seiner ‚grammatologischen Perspektive’ die Schrift als ein System differentieller Marken gilt, die durch Wiederholbarkeit gekennzeichnet sind, und zwar so, dass in jeder Wiederholung – performativ – immer auch ein Anderswerden angelegt ist.

So besteht eine erste wesentliche Forschungsaufgabe des Kollegs darin, diesen noch sehr allgemein gehaltenen Rahmen des Schriftkonzeptes zu verfeinern, vielleicht auch zu korrigieren. Es geht dabei etwa um die Bestimmung des Verhältnisses von ikonischen und diskursiven Aspekten in Schriften, um ihre operativen Dimensionen sowie um die Untersuchung von Hybridformen, um die Abgrenzung zwischen Schrift, Diagramm und Bild, um die Klärung der – gegenüber der Identifizierung der Schrift mit der Linearität - grundlegenden Zweidimensionalität beschriebener Flächen und der damit möglichen ‚Anordnungsoperationen’, um mehrdimensionale Schriften und den Übergang zu Modellen, um die Auseinandersetzung mit der ‚Proteinschrift’ der Molekulargenetik etc.

Wenn die Funktion der Schrift nicht auf ihre Übertragungs- und Memorialfunktion eingeschränkt wird, treten (mindestens) fünf kulturtechnische Funktionsbereiche hervor, welche es im Kolleg zu untersuchen, zu erweitern und zu ergänzen gilt (immer nur als punktuelle Auswahl markiert):

  1. Ordnen: Die Verbreitung der lateinischen Schrift beruht nicht zuletzt auf der (nichtphonetischen!) Ordnungskraft des ABC, das kanonisch wurde als ein Sortierungs- und Serialisierungspotenzial. Natürlich haben nicht-alphabetische Schriften ebenso ihre Sortierungs- und Serialisierungsformen. Das Schriftbild erlaubt überdies Unterscheidungen wie diejenige zwischen ‚Objektebene’ und ‚Metaebene’, zum Beispiel wenn eine algebraische Formel (Metaebene) in eine konkrete Zahlengleichung (Objektebene) transformiert wird.
  2. Steuern: Wir nutzen die präskriptive Steuerungskraft der Schrift zum Beispiel bei Computerprogrammen, in den mathematischen Formeln, im kompositorischen Entwurf und in Gedankengliederungen, in der Anweisung und Steuerung von genau definierten Bewegungen in der Musik und im Tanz (nicht zu vergessen unsere Einkaufszettel).
  3. Erfinden: Der Umgang mit Schrift ist immer auch ein experimentelles Gedankenlabor; musikalische Kompositionen zehren vom explorativen Potenzial von Notationen: Schrift ist ein Medium der Kreation ästhetischer und epistemischer Gegenstände. Denken wir nur an die Ziffer ‚0’, die - ursprünglich das Fehlen einer Zahl markierend - erst in Jahrhunderte währendem Gebrauch schließlich eine Zahl Null hervorgebracht hat.
  4. Erscheinenlassen: Schriftbilder bringen implizit etwas zum Vorschein, das dann im Medium der Schrift auch explizit untersucht werden kann: Epistemisch bedeutsam ist das zum Beispiel für die Grammatik einer Sprache oder für indexikalische Dimensionen etwa der Handschrift. ‚Ästhetisch’ gesehen geht es um die Ereignishaftigkeit des Erscheinenlassens etwa in der Bildenden Kunst oder in literarischen Projekten.
  5. Rezeptivität: Die Wahrnehmbarkeit der Schrift hat auch eine ‚mentale Innenseite’. Daher kommt der psychologischen und kognitionstheoretischen Untersuchung des Lesens eine große Bedeutung zu, indem etwa lesespezifische neuronale Aktivitäten im Hirn empirisch nachgewiesen und untersucht werden können.

Neben der Tradition eines phonographisch orientierten Schriftverständnisses, welches ‚Schriften’ durch ihren Lautbezug definiert, gibt es – und zwar nicht erst seit der klassischen europäischen Antike – Ansätze, die sprachüberschreitenden Aspekte von Schrift herauszustellen. In den Schriftkulturen Vorderasiens und Ägyptens werden in exemplarischer Weise phonetische und semiotisch-grammatische Schriftdeutungen als hermeneutische Verfahren eingesetzt. Im Ausgang der Antike kann geradezu von einer Konkurrenz zwischen phonographischen und semiotisch-grammatischen Schriftdeutungen gesprochen werden. Diese Konkurrenz bestimmt - mit wechselnder Gewichtung - die Debatte bis in die Renaissance, zugleich jedoch gewinnt mit der zunehmenden medialen Selbstverständlichkeit des Alphabetschrift-Gebrauches im Abendland das ‚phonozentrische Paradigma’ eine schließlich auch philosophisch und kulturtheoretisch fundierte Übermacht. Die Grundlage für die Auseinandersetzung mit nicht-alphabetischen Schriftsystemen verändert sich dann zwischen dem 17. u. 19. Jahrhundert radikal durch die Begegnung mit den zeitgenössischen außereuropäischen Schriftsystemen, aber auch durch die Entdeckung früher und frühester Schriften (aztekische Bilderschrift, Hieroglyphen). Zugleich werden diagrammatische Taxonomien des Wissens entwickelt, das schriftliche Rechnen setzt sich durch, die lautsprachenneutrale Schrift der mathematischen Analysis und unterschiedliche lautunabhängige Wissenschaftsschriften werden entwickelt. Gleichwohl entfaltet sich über Condillac und Rousseau bis hin zu Herder, Humboldt und Hegel ein phonographisches Vorurteil, welches die abendländische Alphabetschrift als den Königsweg der Verschriftung mündlicher Sprachen deutet. Im 20. Jahrhundert verstärkt sich die Tendenz theoretischer Prämierung der Phonographie vor allem seitens der Sprachwissenschaften; selbst die Mündlichkeit-Schriftlichkeit-Debatte in den 60er Jahren ist dann durch alphabet-zentristische Züge gekennzeichnet.

Konsequenzen eines erweiterten Schriftbegriffs für die beteiligten Disziplinen

Der interdisziplinäre Zug des Graduiertenkollegs kann nur so fruchtbar sein, wie er einhergeht mit einer klaren methodologischen Orientierung auf die jeweilige ‚Heimatdisziplin’ der Doktoranden. Hier wird es darum gehen zu zeigen, dass und wie das eigene Fach durch die Einbeziehung der schrifttheoretischen Aspekte neue Impulse, vielleicht auch innovative methodische Ansätze gewinnt. So kann in der Philosophie gefragt werden, ob Derridas grammatologische Dekonstruktion jetzt durch eine diagrammatologische Rekonstruktion der Philosophie zu ergänzen ist, bei der nicht einfach die ‚verschwiegene Rolle’ der Schrift, vielmehr die Diagrammatik in der Exposition philosophischer Gedanken untersucht wird (etwa bei Platon, Leibniz, Peirce). Wenn in der Wissenschaftsgeschichte die Rolle von Praktiken in der Hervorbringung wissenschaftlicher Erkenntnis zunehmend berücksichtigt wird, ist klar, dass zu diesen Praktiken nicht nur an vorderster Front die ‚Praxis der Inskription’ zählt, sondern auch, dass die Molekularbiologie ihren Gegenstand selbst in skripturalen Termini dekliniert. Zwar haben künstlerische Avantgarden in den Bildenden Künsten immer schon mit Schrift gearbeitet: doch in der Gegenwartskunst wird gerade die Strukturalität und Operationalität der Schrift unterlaufen. In der Altorientalistik kann die Frage nach dem Anteil der Schrift an der epistemischen Entwicklung der frühen Hochkulturen ins Zentrum rücken; überdies gehen von der Erschließung keilschriftlicher Originalquellen wichtige Impulse aus für die kulturelle Generalisierung der Schrift. In den Ostasienwissenschaften ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit Fragen der Schrift(bildlichkeit) traditionell besonders dicht und vielgestaltig. Hierzu gehören vor allem die nichtphonographischen Aspekte der ostasiatischen Schriften, Fragen von Nichtlesbarkeit oder Viellesbarkeit, von Ideographie und Ideogrammatizität, Kalligraphie (das Zeichen als Bild) sowie in Ostasien verwendete Alphabetschriften in Werbung und Industriedesign, die ihrer Lesbarkeit gerade entkleidet sind. Während der Schriftbegriff in den Medienwissenschaften zumeist einseitig linear modelliert und vorrangig Beziehungen zwischen Schrift und diskreter Ordnung bzw. Schrift und Gedächtnis diskutiert wurden, zeichnet sich derzeit eine Wende ab, insofern die Pluralität medialer Dimensionen in der Schrift herausgestellt wird. In der Literaturwissenschaft zeichnet sich eine schrifttheoretische Neubegründung poetologischer Fragestellungen ab, die Wege literarischen Schriftbezugs gerade jenseits der ‚visuellen Poesie’ auslotet. In der Musikwissenschaft blieben die explorativen Potenziale der Schrift lange Zeit unterbelichtet, ebenso der interkulturelle Vergleich musikalischer Notationen, welcher Zusammenhänge zwischen Notationsformen und Mentalitätsformen aufzuklären verspricht. In der Tanzwissenschaft eröffnet sich mit der Untersuchung des Verhältnisses von Notation und Aufzeichnung ein neuartiges Verständnis von Choreographie, indem diese in die Nähe der Kartographie rückt. In der Mediävistik eröffnet die ‚Schriftbildlichkeit’ die Möglichkeit, die immer noch kanonische Dichotomie von Schrift und Bild zu verflüssigen, indem Hybridbildungen von Schrift und Bild (Initialen, Zahlenverwendung in Texten, Nichtlinearität früher Texte etc.) in den Blick kommen. In der Informatik und Theorie der Computerkultur wirft die operative Deutung der Schrift ein neues Licht auf die Schriftmodelle, soweit sie für die technische und konzeptuelle Entwicklung der Informatik bedeutsam sind. Überdies lässt sich zeigen, dass mit der Digitalisierung eine neue Modalität im Umgang mit Schrift entsteht: die ‚autooperative Schrift’.