Understanding University: The Rhetoric(s) of German Academia
Fächerübergreifendes Lehrprojekt – Konzept
1. Die Rhetorik der Universität
Mehr als andere Institutionen hat die Universität Diversität lange Zeit – und trotz anderslautender Bekenntnisse – strukturell vermieden. Mit ihrem primären Fokus auf die Identifikation von mystifizierten ‚Talenten‘ hat sie lange vorausgesetzt, dass die vom akademischen System eingeforderten Fertigkeiten und Verhaltensnormen bereits mitgebracht werden – anstatt eine Offenlegung und Schulung dieser anzuvisieren. Da diese Fähigkeiten unabdingbar für akademische Teilhabe sind – und rhetorische Kompetenzen gerade in der geisteswissenschaftlichen Fachkultur einen hohen Stellenwert besitzen, aber anders als etwa im angloamerikanischen Raum an der deutschen Universität nicht (mehr) systematisch gelehrt werden –, fungiert der akademische Habitus nicht selten als Hürde für all jene, denen ein Navigieren der spezifisch deutschen akademischen Praxis aus verschiedenen Gründen (darunter Alter, sexuelle Orientierung, Gender, sozio-ökonomischer Hintergrund, Religion und Weltanschauung, Behinderung, chronische Erkrankung u.a.) erschwert ist.
Bisher wurde Schwierigkeiten mit den akademischen Anforderungen primär auf der Ebene der Psychologie begegnet, indem Problemlösung v. a. mit Blick auf Schreibhemmung, Schreibangst, Zeitmanagement und Prokrastination angeboten wird. Diese durchaus sehr sinnvollen Programme sollen durch unser Projekt dahingehend ergänzt werden, dass zum einen die zugrundeliegenden Mechanismen – die Rhetoriken – der deutschen Universität in ihrer historischen Gewordenheit transparent gemacht werden und zum anderen mit praxisorientierten Lehreinheiten ein zunehmend souveräner Umgang mit den komplexen Anforderungen ermöglicht wird. Die Kombination aus theoretisch-historischer Kontextualisierung und praktischer Schulung zielt darauf ab, den oft einschüchternd und hemmend wirkenden Topos der scheinbar natürlichen Begabung zu entzaubern.
Dabei legen wir ein Rhetorikverständnis zugrunde, das – ungeachtet heutiger Verknappungen auf Stil- und Figurenlehre – die Rhetorik wieder in ihrer ursprünglich breiteren Anlage und vielschichtigen Virulenz sichtbar macht, von argumentationstheoretischen Grundlagen bis zur Sensibilisierung für die Gattungsspezifik wissenschaftlicher Textproduktion. Gerade die Rhetorik bietet sich zur historischen Aufschlüsselung universitärer Praktiken wie auch als Anleitung zu einem methodisch reflektierten, mündlichen wie schriftlichen universitären Agieren an. In der Verschränkung von Rhetorik und Institution offenbart sich zudem ein Forschungszugang zur Diversität, der bisher keine systematische Übersetzung in die Regellehre erfahren hat.
Eine Zentralstellung kommt dabei der historischen Erforschung wie auch der praktischen Einübung in die spezifische Rhetorik deutscher akademischer Praktiken zu. Sie schlägt sich in komplexen Anforderungsprofilen nieder, von Debattenkonventionen im Seminargespräch, in der spezifischen, in anderen akademischen Kulturen schlicht unbekannten Schreibrhetorik von Hausarbeiten und Qualifikationsschriften, dem Diskussionsverhalten bei Konferenzen und Gastvorträgen, mündlichen Präsentationsformaten vom Referat im Proseminar bis zum wissenschaftlichen Vortrag. Informelle Kommunikationsformen wie Dozent*innengespräch, e-mail-Korrespondenz und Umgang mit der Verwaltung stellen oft gleichermaßen schwierige Hürden dar.
Das Projekt will Diversität als Teilhabe in einer doppelten Perspektive fördern. Durch die Vermittlung technischer Handlungsstrategien auf hohem methodischem Niveau wollen wir im Rahmen einer innovativen Gleichstellungsmaßnahme einerseits dazu beitragen, alle Stimmen in der Universität hörbar zu machen (Partizipation). Andererseits wollen wir diese Stimmen durch eine kritische Metaperspektive als verschiedene präsent halten und fördern (Pluralität). Das Projekt arbeitet so einer sowohl inklusiven als auch pluralen Diskussionskultur zu. Zudem können mit der geleisteten Unterstützung Studierender im Zugang zur universitären Kultur langfristig auch Weichen für eine Diversität innerhalb des akademischen Forschungsbetriebs gestellt werden, insofern die vermittelten Kompetenzen Voraussetzung für akademische Stationen nach dem Studium sind.
2. Forschungsorientierung
Die Idee zu dem Lehrprojekt ist im Sonderforschungsbereich 980 „Episteme in Bewegung“ entstanden. Dort erforschen wir im Teilprojekt A07 „Erotema. Die Frage als epistemische Gattung im Kontext der französischen Sozietätsbewegung des 17. und frühen 18. Jahrhunderts“ Fragen der Wissensgeschichte im Hinblick auf langfristige Wandelprozesse in sozialer, kultureller, ästhetischer und institutioneller Hinsicht. Im Teilprojekt geht es um die vielfältigen und subkutanen Langfristtraditionen, die die Entstehung der Preisfragenkultur der Akademien im 17. Jahrhundert in Frankreich prägen. Wir gehen davon aus, dass diese Traditionen auch dann wirksam sind, wenn sie explizit abgelehnt werden, wie z.B. die universitäre Lehr- und Disputationspraxis in den sich neu formierenden Akademien und Gesprächskreisen.
Mit dem Fokus auf Transformationen von Wissen in der longue durée, im Fall unseres Projekts von der Antike bis in die Frühe Neuzeit, wird die historische Genese kultureller und epistemischer Konstellationen in der Frühen Neuzeit aufgeschlüsselt. Eine Frage, die sich im Rahmen des Forschungsansatzes des SFB 980 freilich kaum stellt, ist jene, wie die lange Geschichte der Universität in ihren vielfältigen Aushandlungsprozessen mit anderen Institutionen und Akteuren der Bildung auf unsere heutige universitäre Kultur wirkt. Ganz besonders spannend erscheint uns dabei die Frage, wie sich die strukturelle Widerständigkeit gegenüber Diversität – die die Universität als Institution angesichts der stagnierenden Zulassungszahlen von Studierenden aus nicht-akademischen Haushalten oder des nur langsam steigenden Anteils von Frauen auf unbefristeten W3-Professuren durchaus immer noch an den Tag zu legen scheint – aus der Wissensgeschichte heraus erklären lässt.
In ihren Anfängen konstituierte sich die Universität als inklusive universitas scholarum, als Gemeinschaft von Gelehrten, die aber zugleich auf einer ganzen Reihe von ebenso radikalen wie fundamentalen Exklusionsmechanismen gründete. Als homosoziale Gemeinschaft verwehrte die Universität bis in das 20. Jahrhundert insbesondere Frauen nicht allein den Zugang, sie definierte sich in ihren zentralen Positionen – genannt seien nur die Habilitation und das Privatdozententum – explizit und emphatisch über diese Exklusion.
Die Praktiken der Universität lassen sich über die Rhetorik begreifen, die zusammen mit Grammatik und Dialektik das Rückgrat allen intellektuellen Handelns darstellte. Doch anders als ihre Pendants im angloamerikanischen Raum hat die deutsche Universität die strukturierte Schulung in ihren zentralen Praktiken und Verfahren lang aufgegeben. Während wissenschaftliches Schreiben und Argumentieren andernorts umfassend und insbesondere mit Blick auf eine internationale Studierendenschaft erläuternd aufgeschlüsselt und praktisch eingeübt werden, sind derartige Angebote im deutschsprachigen Raum oftmals von der Forschung entkoppelt und als auf individuelle Schwierigkeiten fokussierte Betreuungs- und Beratungsangebote konzipiert. Das mag einer spezifisch deutschen Rhetorikfeindlichkeit und Genieverehrung geschuldet sein, Konsequenz ist in jedem Fall, dass auratische Begabung immer noch den Schlüssel zur akademischen Karriere darzustellen scheint und komplexe Ausschlussmechanismen (s. dazu unten) immer noch unterbeleuchtet bleiben. Die Bemühungen um Diversifizierung, um Chancengleichheit und Internationalisierung, in denen die Freie Universität seit langer Zeit federführend und innovativ vorangeht, können intensiviert und zielgerichteter in die Regellehre eingebracht werden, wenn man diese Geschichte in den Blick nimmt.
Den Kern gelebter Diversität sehen wir in der Ermöglichung von Teilhabe in dem Sinn, Studierende unterschiedlichster Hintergründe zu ermächtigen, erfolgreich und selbstbestimmt am akademischen Betrieb teilzunehmen. Diversität verstehen wir dabei nicht als zu behebende Defizienz. Vielmehr gehen wir davon aus, dass alle Menschen, die als Studierende an die Universität kommen, in die Lage versetzt werden sollen, ihre Talente, Interessen und Kompetenzen bestmöglich zu entfalten, im Sinne sowohl einer individuellen Bildung als auch der Schaffung einer universitas, die ihre Kraft, Dynamik und ihr intellektuelles Potential aus diversitas zieht.
3. Zielgruppen
Das fächerübergreifende Lehrprojekt wendet sich primär an B.A.- und M.A.-Studierende der Fachbereiche Philosophie und Geisteswissenschaften und Geschichts- und Kulturwissenschaften, die sich für das Verhältnis von Rhetorik und Institution interessieren und/oder die eigene akademische Rede- und Schreibkompetenz ausbauen wollen. In einem spezifischeren Sinne versteht es sich als ein gezieltes empowerment für Studierende, denen sich der (Wieder-)Eintritt in die Universität als eine schwer zu bewältigende Hürde darstellt.
Das Projekt wendet sich dabei nicht nur an oft vernachlässigte Zielgruppen, sondern schließt zugleich die Betreuungslücke zwischen den vielfältigen Angeboten der Studieneingangsphase (Mentoring, Einführungen in das wissenschaftliche Arbeiten etc.) einerseits und der Doktorandenausbildung unter dem Dach des Dahlem Research School andererseits.
Insofern als wir als Leitkoordinaten des Lehrprojekts die historische Analyse ebenso wie die methodisch strukturierte Anleitung akademischer Praxis, die Förderung studentischer Autonomie (libertas) und die Aktivierung aller Potentiale zur Teilhabe (diversitas) bestimmen, geht es Hand in Hand mit den im Rahmen der Exzellenzinitiative wie auch der Exzellenzstrategie entwickelten Diversity-Maßnahmen und versteht sich als Beitrag zur Weiterentwicklung diversitätspolitischer Ansätze und deren Umsetzung in der grundständigen Lehre.