Springe direkt zu Inhalt

Rede von Mithu Sanyal

Schreiben in politischen Zeiten

Mithu Sanyal 

Bevor ich anfange, müssen wir klären: Duzen wir uns oder Siezen wir uns?

Abstimmen

Ich würde sagen, die Mehrheit ist für ... hm ... du.

Okay! dann werde ich Euch jetzt duzen.

Das ist wie mit dem Gendern, respektive dem Genderverbot von unserem Kulturstaatsminister Wolfram Weimer, da sollen sich auch alle, die als sie angesprochen werden wollen, von dem generischen er mitgemeint fühlen. Und hier können sich halt alle, die als Sie mit großen S angesprochen werden wollen, von dem du mitgemeint fühlen.

Und damit merken wir, dass jedes Thema politisch ist. Nur bei manchen fällt es mehr auf als bei anderen. Wenn ich zum Beispiel die Liebesgeschichte eines heterosexuellen Paars mit deutschem Pass erzähle, ist das natürlich genauso eine politische Entscheidung, als würde die Liebesgeschichte zwischen Menschen mit unklarem Aufenthaltsstatus spielen – bloß fällt nur eine dieser Entscheidungen auf. Ob Texte als politisch wahrgenommen werden, hat deutlich mehr mit den politischen Verhältnissen zu tun als mit ihren Inhalten. Ursprünglich hatte ich hier geschrieben: als mit ihren Autor*innen. Aber dann habe ich mich daran erinnert, dass ich Jurorin beim Bachmannpreis bin. Den Rest des Jahres versuche ich das immer zu verdrängen, weil Klagenfurt ungelogen zu den traumatischeren Angelegenheiten in meinem Leben gehört. Too much information!

Aber eine noch: In Klagenfurt werden Texte, wenn sie von Autor:innen of Colour – oder mit einem komischen Namen – vorgetragen werden à priori als politisch wahrgenommen. Meistens: als identitätspolitisch. Als würden nicht die meisten jungen Autor:innen über ihr eigenes Leben schreiben. Aber politisch ist hier das Gegenteil von literarisch. Das hat mich wirklich verblüfft.

Ich hatte einen Text einmal gelobt, weil ich ihn – neben vielem anderen – für erfrischend politisch hielt. Und Philipp Tingler fuhr mich an: Das sei ein literarischer Text und kein Manifest. Ja klar, das hatte ich auch gar nicht behauptet. Warum denken wir bei Politik direkt an Dogmatismus und Manifeste?

Man könnte fast meinen, wir lebten in der DDR, die ihren Autor*innen den Bitterfelder Weg verordnete, nach den Autorenkonferenzen im Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld, die als Aufgabe der Literatur festlegte, dass sie über und für und von der Arbeiterklasse sein müsse. Der SED-Vorsitzende Walter Ulbricht prägte dafür das Motto: Greif zur Feder, Kumpel! Man kann es sich nicht ausdenken. Ebenso wie den großartigen Namen: Bitterfelder Weg! Klingt er doch so sehr nach „bitterer Weg“, dass darin einfach eine Portion Selbstironie enthalten sein musste.

 

Doch der Titel meiner Rede ist nicht: Wie politisch darf oder soll die Literatur sein? Sondern: Schreiben in politischen Zeiten.

Deshalb bleiben wir noch kurz bei der DDR. Während meines Studiums habe ich Christa Wolf gelesen. Leider nicht während meines Studiums an einem Literaturinstitut, das gab es damals noch nicht, sondern während meines Germanistik Studiums im Westen von Westdeutschland. (Das erwähne ich, weil es wichtig für meine Reaktion auf den Text ist.)

Denn ich möchte ein kurzes Zitat aus „Was Bleibt“ von Christa Wolf vorlesen. Das ist die Geschichte von Christa Wolf, die sie 1979 geschrieben aber erst nach der Wende veröffentlicht hat, weil es darin um Überwachung und Zensur geht und Christa Wolf eigentlich die ganze Zeit nur am Fenster steht und hinter der Gardine die Männer beobachtet, die sie beobachten. Seid ihr soweit?

Okay, ich aber noch nicht, denn eigentlich fängt das Zitat, das ich hier vorlese, einen Satz zu früh an, aber es ist einfach ein so großartiger Satz, dass ich ihn nicht unterschlagen konnte:

 

„In Zeiten wie diesen, ging es mir flüchtig durch den Kopf, werden alle unsere Schwächen wach, oder unsere Stärken werden zu Schwächen.“ Toll, oder? Wir reden ja viel über Universalismus in der Literatur und meistens meinen wir damit Allgemeinplätze. Das ist doch mal eine universalistische Aussage. Anyway, hier kommt das eigentliche Zitat, eine junge Frau ist gerade zu Christa Wolf gekommen und hat ihr ihre Texte gezeigt. Und Christa Wolf schreibt: „Es war mir nicht gegeben, einen guten Text für schlecht zu erklären oder die Autorin eines guten Textes nicht zu ermutigen. Ich sagte, was sie da geschrieben habe, sei gut. Es stimme. Jeder Satz sei wahr. Sie solle es niemandem zeigen. Diese paar Seiten könnten sie wieder ins Gefängnis bringen. Das Mädchen wurde vor Freude weich, es löste sich, begann zu reden. Ich dachte: Es ist soweit. Die Jungen schreiben es auf.“ (Christa Wolf, Was bleibt. Suhrkamp: 2007; S. 66)

Ich kann mich noch an den Anflug von Neid erinnern, den ich damals gespürt hatte. Weil dieses Mädchen etwas zu sagen hatte und ich natürlich auch, aber ich hatte damals noch nicht herausgefunden, was das war.

Aber in einer ganz perversen Weise war ich jedoch auch neidisch, weil diese Autor:innen von ihrem Staat ernst genommen worden waren.

Jetzt werden wir von unserem Staat ernst genommen.

Keine Sorge, ich will hier keine DDR-Vergleiche anstellen. Schriftsteller:innen und Journalist:innen müssen keine Angst davor haben, wegen dem, was sie geschrieben haben, ins Gefängnis zu kommen. Und das weiß ich. Und das weiß ich wirklich zu schätzen! Und jetzt darf der nächste Satz natürlich nicht mit aber anfangen.

(Pause)

Okay: Und ich habe in den letzten beiden Jahren mit so vielen Schriftsteller:innen gesprochen, die mir sagen, dass sie gerade wegen den politischen Verhältnissen verstummen. Also wegen dem, was politisch geschieht, aber auch wie politisch auf sie reagiert wird oder würde, wenn sie schreiben/sprechen.

Wir leben nicht in einem Christa Wolf Buch, was die Stasi angeht und die Gefängnisse.

Aber wir leben in einem Christa Wolf Buch, was die Selbstzensur angeht.

Das sind jetzt persönliche Erfahrungen. Und das ist natürlich unzulässig, daraus zu verallgemeinern.

Aber gerade ist eine Studie der FU Berlin (also von eurer Universität) erschienen, die nachweist, dass unter Wissenschaftler:innen die Selbstzensur erschütternd hoch ist, wenn es um Nahost Themen geht. Fast 85 Prozent sehen eine gestiegene Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit. Besonders betroffen sind – Überraschung, Überraschung – Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler. Also ihr.

(„Deutsche Wissenschaft seit dem 7. Oktober: Selbstzensur und Einschränkungen unter Forschenden mit Nahostbezug“ von Jannis Julien Grimm, Sven Chojnacki, Nina Moya Schreieder, Iman El Ghoubashy und Thaddäa Sixta, die am 15. September am Zentrum für interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung der Freien Universität Berlin veröffentlicht wurde.)

Am häufigsten betrifft dies öffentliche Veranstaltungen (81 Prozent), Medienbeiträge (54 Prozent) und das eigene Kollegium (42 Prozent).

Gründe für Zurückhaltung sind vor allem Angst vor Missverständnissen, öffentlicher Anfeindung und beruflichen Konsequenzen.

Sowie Institutioneller Druck: Mehr als 50 Prozent nehmen einen gestiegenen Druck wahr, das Thema Israel/Palästina an ihrer Institution zu meiden.

 

Ich bin Schriftstellerin. Aber ich bin auch Journalistin. Und ich bekomme dieses Problem natürlich auch im Journalismus mit. Bei welchen Themen dreimal nachrecherchiert wird und dann nochmal dreimal. Was ja in Ordnung ist, journalistische Sorgfaltpflicht und so, aber bei anderen Themen wird das eben nicht gemacht. Und ich rede hier übrigens nicht nur von Israel/Palästina.

 

Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mich dafür rechtfertigen musste, als ich einen Kommentar über Julian Assange machen wollte, kurz vor seinem letzten Gerichtsverfahren. Die Reaktion meines Redakteurs war: Ach, ist das wirklich ein relevantes Thema? (Mach doch lieber etwas über Gendern).

Ja, das ist das relevanteste journalistische Thema, das wir an dem Tag hatten! Schließlich geht es um Redefreiheit. Um Pressefreiheit.

Und ich muss zur Ehrenrettung meiner Redaktion sagen, dass ich das Thema dann machen durfte. Und wir haben wirklich um jeden Satz gerungen und verhandelt – und alles, was gerade in den Studien über die Medienberichterstattung zu Gaza genannt wird, dass ständig das Passiv verwendet wird, also den Palästinenser passiert etwas, nicht die Israelische Armee hat etwas getan, genau das musste ich da auch machen, Julian Assange passierte alles Mögliche und ich durfte keinen der Verantwortlichen benennen. Julian Assange schien einfach nur ein Mann mit sehr viel Pech zu sein.

Und danach wurde mir gesagt: Oh, mach bitte das nächste Mal nicht so ein kontroverses Thema, das ist viel zu viel Arbeit.

Ich so: Ach, ich mache mir die Arbeit gerne.

Meine Redaktion: Nein für uns ist das zu viel Arbeit.

 

Deutschland ist gerade im Pressefreiheitsindex aus den Top Ten gefallen. Außerdem hat der Europarat Deutschland im Juni gerügt, weil das Vorgehen der Polizei bei Demonstrationen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit einschränken würde. Oh ja, und der chinesische Künstler und Dissident Ai Weiwei hat gesagt, dass es in Deutschland inzwischen weniger Meinungsfreiheit gäbe als in China. Dazu eine kleine Anekdote: Im Juli hat das ZEIT MAGAZIN Ai Weiwei gebeten, einen Artikel zu dem Thema zu schreiben: “What I would have liked to know about Germany earlier“

Und Ai Weiwei so: siehe oben.

Das Ende der Geschichte war, dass die Zeit sich geweigert hat, den Artikel zu drucken.

 

Manchmal bleibt es nicht bei einem abgelehnten Artikel.

Vor 2 bis 3 Wochen ging ein Video Clip des italienischen Journalisten Gabriele Nunziati viral, weil er am 13. Oktober bei einer Pressekonferenz eine EU-Beamtin gefragt hat: „Sie wiederholen konstant, dass Russland für den Wiederaufbau der Ukraine zahlen soll. Glauben Sie, dass Israel für den Wiederaufbau Gazas zahlen soll, da es fast die gesamte Infrastruktur zerstört hat?“ Daraufhin ist Nunziati von der italienischen Nachrichtenagentur Nova entlassen worden.

 

Das ist krass. Allerdings ist das in Italien passiert.

Und dann habe ich bei meiner Recherche für diese Rede von dem Berliner Journalist Hüseyin Dogru erfahren. Er berichtete über den Ukraine- und den Gaza-Krieg und hat jetzt vom Auswärtigen Amt Arbeitsverbot erhalten. Ihm wurde nicht nur gekündigt, sondern er hat Arbeitsverbot erhalten! Und nicht nur das, seine Konten sind gesperrt, sein Geld eingefroren. Selbst wer ihn finanziell unterstützt, kann belangt werden. Die Krankenkasse hat die Leistungen zwischenzeitlich eingestellt, obwohl sich Dogrus Ehefrau im 7. Monat einer Risikoschwangerschaft befindet. Das habe ich nicht von irgendwelchen Verschwörungstheorie Webseiten aus dem Internet, sondern von der Webseite des Auswärtigen Amtes, und von Yanis Varoufakis, und aus der Zeitung Neues Deutschland, einer Zeitung, für die ich selber arbeite. Ich habe vorher noch nie von Dogru gehört, vielleicht ist er ein ganz gefährlicher Mensch. Aber dann würde ich davon ausgehen, dass ihm bestimmte Aussagen untersagt werden und nicht seine komplette Arbeit als Journalist. Aha! Aber er sei gar kein Journalist, sondern ein Propagandist. Wo zieht man da die Grenze? Wer bestimmt, was Information und was Desinformation ist? Das sind wichtige Debatten, die gesamtgesellschaftlich geführt werden müssen. Und gesetzt den Fall, wir einigen uns darauf, dass das Desinformation sei, kann ja sein, weiß ich nicht kann auch nicht sein, aber gesetzt den Fall, dann müssen wir doch auch gesamtgesellschaftlich entscheiden, was eine angemessene Reaktion darauf ist. Und es jemandem unmöglich machen, Essen im Supermarkt einzukaufen, weil er Ausgaben für die Dinge des täglichen Lebens jedes Mal beantragen muss, ist einfach nicht angemessen. Das hört sich nicht mehr nach Rechtsstaat an, sondern nach Kafka, oder für die Älteren unter euch, nach dem Film „Brasil“.

 

Noch einmal zu den Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit bei Demonstrationen. Wir haben bei den Corona Protesten gesehen, bei den Demos der „letzten Generation“, also bei den Klima Klebern, und jetzt vor allem bei den Gaza Demonstrationen, dass die Polizei mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstrierende vorgeht. Und das ist erst einmal eine Tatsache, komplett unabhängig davon, ob wir die Demonstrationen richtig oder falsch finden. Das ist nämlich egal! Es gibt in Deutschland das Demonstrationsrecht. Das ist eines der Grundrechte in einer Demokratie. Man kann auch für den letzten Scheiß demonstrieren. Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. Wer hat das gesagt? Richtig! Rosa Luxemburg.

Und jetzt mal ganz im Ernst: Warum habe ich es nötig, mir hier Rosa Luxemburg als Unterstützung zu holen? Weil ich es tatsächlich schwierig finde, zu sagen: Ich finde es nicht in Ordnung, dass auf diese – vordringlich sehr jungen – Menschen eingeprügelt wird, dass die verhaftet werden und Anzeigen kriegen und so weiter. Wieso finde ich diese Aussage so schwierig, dass ich mich erst einmal von deren Inhalten distanzieren muss? Weil bevor die Polizei auf diese Demonstrationen losgehen kann, muss erst einmal ein Konsens in der deutschen Bevölkerung erschaffen werden, dass diese Menschen aus niederen Motiven auf die Straße gehen. Normalerweise schauen wir nämlich nur weg, wenn unsere Polizei auf Braune oder Schwarze Menschen einprügelt.

 

Bei Corona war das sehr interessant, da änderten sich die Sündenböcke ja rasant. Erst waren das die Kinder und Jugendlichen. Das wart ihr, weil ihr zu viele Parties gefeiert habt. Und dann wurden das plötzlich die Ungeimpften, die allesamt als Aluhüte und Verschwörungstheoretiker bezeichnet wurden und als unsolidarisch ... also als schlechte Menschen. Nicht als Menschen, die Bedenken haben, sondern ... als Menschen, die unsere Empathie nicht mehr verdienen, weil sie das falsche Bewusstsein haben.

Wenn ich etwas an unserer politischen Rhetorik ändern würde, dann dies: Wir argumentieren im Moment hauptsächlich moralisch, als würde es keine anderen Gründe für politisches Handeln geben. Nichts gegen Moral. Okay, lieber nichts gegen Ethik. Aber man kann dagegen nicht mehr argumentieren. Wenn es um das Gute, Richtige ... Alternativlose geht, dann ist jeder Widerspruch ein Zeichen von falschen Beweggründen. Ja vielleicht sogar gefährlichen Beweggründen.

Deshalb neigen ja auch gerade Linke dazu, so besonders dogmatisch zu sein. Ich bin eine Linke, ich weiß, wovon ich rede.

 

Deshalb nur zur Erinnerung noch einmal kurz die großen Debatten der letzten Jahre:

Wenn du gegen Impfen bist, dann willst du, dass Menschen sterben.

Wer will schon, dass Menschen sterben?

Monster wollen das.

Wenn du für Frieden bist, dann bist du ein Putinversteher.

Und Putin ist der neue Hitler. Wer ist für Hitler?

Monster.

Wenn du dagegen bist, dass Kinder in Gaza getötet werden, dann bist du Antisemit:in. Und wer ist Antisemit?

Nein, nicht Monster, sondern Hitler. Entschuldigung: Wir sind hier in Deutschland, jede politische Debatte endet irgendwann bei Hitler.

Und das ist ein Problem. Weil alle diese Sachlagen ja deutlich komplexer sind. Aber sobald wir sie ausschließlich durch die Linse der Moral betrachten, dann ist auch nur der Hinweis auf andere Perspektiven ein Sakrileg. Und wird als solches geahndet. Mit entsprechender Härte.

 

Es gibt ein Zitat von Noam Chomsky, an das ich in den letzten Jahren immer wieder denken musste: „Der schlaueste Weg, Menschen passiv und folgsam zu halten, ist, das Spektrum akzeptierter Meinungen strikt zu limitieren, aber innerhalb dieses Spektrums sehr lebhafte Debatten zu erlauben.“

Und die Frage ist, befindet ihr euch innerhalb oder außerhalb dieses Spektrums.

Und das ist nicht immer eine Frage der Wahl.

 

Es gibt ein berühmtes Gedicht des palästinensischen Dichters Marwan Makhoul:

 

In order for me to write poetry that isn’t political

I must listen to the birds

And in order to hear the birds

The warplanes must be silent

 

Also roh übersetzt

 

Damit ich Gedichte schreiben kann, die nicht politisch sind

Muss ich den Vögeln zuhören

Und, damit ich den Vögeln zuhören kann,

müssen die Flugzeuge mit ihren Bomben schweigen

 

Und eigentlich sagt dieses Gedicht alles, was ich in meiner Rede sagen will.

Es ist ein Privileg kein politischer Autor, keine Politische Autorin sein zu müssen. Es ist ein Privileg, in erster Linie ein Mensch zu sein.

 

Having said that: Ich werde ja gerne als politische Autorin wahrgenommen. Allerdings nicht nur als politische Autorin – ich würde mich wahnsinnig freuen, endlich einmal bei einer Lesung hauptsächlich über Ästhetik sprechen zu dürfen - aber ich verstehe mich eben auch als politische Autorin, weil Politik eine Dimension ist, die aus Geschichten nicht wegzudenken ist, weil sie aus dem Leben nicht wegzudenken ist. Und dann mache ich das lieber bewusst, als dass es sich halt so in meine Texte hineinschreibt, weil ich denke, dass meine Sicht der Welt normal ist, weil sie die Norm ist.

Aber Mithu, es geht hier doch gar nicht darum, ob Texte politisch sind, sondern ob politische Kriterien in den Literaturbetrieb eingreifen. Darauf sage ich nur: Doch es geht genau darum.

Erinnert ihr euch noch an die Debatte um Vergabe des Internationalen Literaturpreises des Haus der Kulturen der Welt, bei der letztes Jahr zwei Jurymitglieder dem HKW vorgeworfen haben, den Preis nur nach identitätspolitischen Kriterien zu vergeben?

Also zwei Jurymitglieder haben dem HKW vorgeworfen haben, den Preis nur nach identitätspolitischen Kriterien zu vergeben. Und zwar nicht den 1. Preis, da waren sich alle einig, sondern wer die Autoren waren, die den Preis knapp nicht bekommen haben, also auf der Shortlist standen. Da sollte man meinen, dass das so eine Saure-Gurken-Zeit-Meldung ist, die niemanden hinter dem Ofen hervorholt. Aber die Medien gingen in Overdrive. Haben wir doch immer schon gewusst, dass Literaturpreise nur nach Hautfarbe verteilt werden.

Also, ich bin und war in verschienen Jurys und ich habe Juryarbeit in der Regel eher als wertkonservativer erlebt als zum Beispiel die Feuilleton-Berichterstattung, der man jetzt auch nicht vorwerfen kann zu woke zu sein. Ich erlebe zum Beispiel sehr oft, dass Texten, die ich hervorragend finde, mangelnde literarische Qualität vorgeworfen wird, weil die Autor:innen in irgendeiner Form markiert sind, ne also durch race, class, gender, sexuelle Orientierung.

Ich habe diese Erfahrung mit meinem eigenen Romanen gemacht, dass total nette Journalist:innen mich nach dem Interview zu „Identitti“ gefragt haben: „Das ist ja super, dass solche Texte, sie meinten damit Fatma Aydemir, Sharon Dodoa Otoo, Hengameh Yaghobifarah, Shida Bazyar und mich, so erfolgreich sind, aber ist das echte Literatur?“ Nee, das ist fiktive Literatur. Was soll man darauf sagen?

Und dann kam „Identitti“ auf die Longlist des Deutschen Buchpreises und kurz darauf auf die Shortlist, und plötzlich sprachen Journalisten mit mir über Ästhetik. Deshalb sind Literaturpreise so wichtig. Weil sie Menschen die Erlaubnis geben, Dinge – und damit meine ich natürlich Texte – ernst zu nehmen. Da ist ein Aufkleber „Deutscher Buchpreis nominiert“ drauf, das ist echte Literatur. Und deshalb geht es in Jurys nicht nur um persönliche Vorlieben, sondern um unsere Funktion als Gatekeeper. Und darüber müssen wir reflektieren, ohne dass uns vorgeworfen wird, nur nach identitätspolitischen Gesichtspunkten zu agieren.

 

Im selben Jahr hat das Arts Council England (ACE), also die staatliche Kunst- und Kulturförderung Großbritanniens ihre Guidelines überarbeitet und entschieden, wie würden Förderungen zurückziehen, wenn sich die Künstler:innen „politisch äußern“. Wie bitte? Das gab eine riesige Debatte. Und das Arts Council hat dann noch einmal nachgebessert, es ginge hier um “kontroverse,” “oder aktivistische” Äußerungen, das sei nicht mit öffentlicher Unterstützung zu vereinbaren.

Im Jahr davor hieß es noch: Women Life Freedom - wow!

Ich habe dieses Beispiel bewusst gewählt, weil ich einen Konflikt vermeiden wollte, wenn ich deutsche Institutionen erwähne.

 

Ich bin noch damit aufgewachsen, dass die deutsche Nachkriegsliteratur so toll ist, weil sie wieder politisch sein konnte, ohne Verhaftung und KZ befürchten zu müssen: die Gruppe 47, Heinrich Böll, Nelly Sachs, Günter Grass.

Ich bin damit aufgewachsen, dass die besten deutschen Schriftsteller*innen aus der DDR kamen, wo sie dissidente Stimmen gegen ein System waren, das keine Dissidenz zulassen wollte.

Deshalb kann ich mich bei den Debatten häufig nicht des Eindrucks erwehren, dass wir dann etwas gegen politische Kunst haben, wenn die Politik darin nicht mit unserer Politik übereinstimmt. Kunst ist anscheinend nur dann politisch, wenn sie eine andere Politik verfolgt als wir. Dass Kritik erst dann zum Problem wird, wenn sie sich gegen einen selbst richtet. Oder gegen den Mainstream. Also: Toni Morrison ist große Literatur, weil sie den Rassismus in Amerika sichtbar macht, aber als sich vor vier zum ersten Mal eine ganze Reihe von vielbeachteten Neuerscheinungen mit Rassismus in Deutschland beschäftigten, diskutierte das ganze Feuilleton sofort aufgeregt darüber, ob das nicht Identitätspolitik sei, als wäre Identitätspolitik ein literarisches Genre.

 

Ich dachte immer Kunst soll ein Spiegel der Gesellschaft sein. Nicht nur, das wäre ja langweilig, aber auch. Und sogar wenn Literatur der Gesellschaft Visionen anbietet, dann möchte ich, dass ich, dass Menschen wie ich, ebenfalls in diesen Visionen vorkommen.

Romane machen etwas mit uns, was Sachbücher nicht können. Geschichten erreichen uns auf einer Ebene, an die unser Kopf alleine nicht herankommt. Seit mein Roman „Identitti“ 2021 erschienen ist, bekomme ich täglich E-mails und Social-Media-Nachrichten von Menschen, die mir mitteilen, dass sie sich zum ersten Mal in der deutschen Literatur repräsentiert fühlten. Zum ersten Mal handelt ein Buch von uns. So glücklich mich das macht, bricht es mir auch das Herz. Denn es zeigt, wie wenig wir in der deutschen Literatur bisher mitgemeint waren.

In diesem Sinne stellt Literatur nicht nur die Frage nach der Conditio humana: Also: Was ist der Mensch? Sondern auch: Wer ist ein Mensch? Wer gehört dazu?

 

Und wenn ich das jetzt auf den Journalismus erweitere: Mit wem haben wir Empathie? Haben wir Empathie mit den Menschen, die im Mittelmeer ertrinken? Ich erinnere mich da an eine sehr interessante Pro und Contra Debatte in der ZEIT. Wie gesagt, ich bin gegen Zensur. Aber wie konnte es so weit kommen, dass wir mit den Menschen, sogar mit den Babys, die im Mittelmeer ertrinken kein, oder nur unzureichendes Mitgefühl haben? Weil wir ihre Namen nicht kennen, weil wir ihre Geschichten nicht kennen. Weil sie gesichtlos in unseren Nachrichten auftauchen.

 

Oder was ist mit den Geiseln in Israel/Palästina? Wir kennen die Namen der israelischen Geiseln, wir wissen um ihr Leid, um die Sorge ihrer Angehörigen. Während die Palästinenser:innen nur Zahlen für uns sind. Dabei bluten sie genauso, wenn man sie sticht, um Shakespeare zu zitieren.

Und noch etwas, das ich nicht häufig genug betonen kann: Wenn wir einer Gruppe, egal welcher Gruppe, die Empathie entziehen, entziehen wir sie in letzter Instanz allen. Denn Mitgefühl ist nur universell oder es ist eben nicht.

 

Und deshalb schnürt es mir so den Atem ein, dass ich das Gefühl habe, wenn ich über die Dinge schreibe, die mich wirklich bewegen, laufe ich – ganz realistisch – Gefahr nicht mehr schreiben zu dürfen. Und wenn ich nicht über das schreibe, was mich zutiefst bewegt, laufe ich Gefahr, nicht mehr schreiben zu können. Weil nichts mehr Sinn macht. Weil Empathie nur universell ist oder sie ist nicht.

Entschuldigt, dass ich das wiederhole, aber das ist der Punkt, zu dem ich immer wieder zurückkomme.

 

Deshalb möchte ich euch nicht raten: Verratet eure Werte nie. Erhebt immer eure Stimme und zur Hölle mit den Konsequenzen. Das wäre naiv, davon auszugehen, dass das immer möglich ist. Aber ich möchte euch sagen: Wenn andere sich gegen die herrschende Meinung aussprechen. Wenn andere ihre Karriere oder auch nur ihre Beliebtheit riskieren, um zu sagen, woran sie glauben, was gesagt werden musst, dann unterstützt sie dabei. Denn je mehr wir sind, desto einfacher ist es zu sprechen und zu schreiben und zu denken.

Zur Website Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften
GeschKultLogo
Dahlem Research School
Deutsche Forschungsgemeinschaft
logo einstein grau