Ödipus um 1900. Transformation des antiken Helden in Tragödie und Tragödientheorie der Jahrhundertwende
Ort: FU Berlin, Raum JK 33/121
Planung und Organisation: Marie-Christin Wilm und Arata Takeda
Programm
Unter dem Titel „Ödipus um 1900. Transformation des antiken Helden in Tragödie und Tragödientheorie der Jahrhundertwende“ luden Marie-Christin Wilm und Arata Takeda Expertinnen und Experten aus Altphilologie, Germanistik, Komparatistik, Philosophie und Romanistik sowie interessiertes Publikum zu einem zweitägigen Workshop vom 14. bis 15. Oktober 2016 an der Freien Universität Berlin ein. Vor dem Hintergrund der Bewusstwerdung und Thematisierung einer strukturellen Krisenhaftigkeit menschlicher Identität diskutierte der interdisziplinär ausgerichtete Workshop die Transformationen des antiken Helden in Tragödie und Tragödientheorie an der Schnittstelle von Literatur, Philosophie, Psychologie und Wissenschaftsgeschichte. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildete die These, dass sich Tragödientheorie und Ödipus-Deutung um 1900 angesichts der Infragestellung des Autonomieanspruchs moderner Subjektivität auf eigenem Terrain herausgefordert fänden. Eröffnet wurde der Workshop mit einem einführenden Vortrag von Marie-Christin Wilm (Berlin), in dessen erstem Teil sie an das Griechenbild der Jahrhundertwende erinnerte, „ein Volk von wilder Leidenschaft, der höchsten Qual und sinnlosen Greulen“ (Hermann Bahr, Novelli als Ödipus, 1903). Der zweite Teil ihrer Ausführungen war einem analytischen Blick auf die 1898 entstandene und 1900 uraufgeführte, in der Forschung aber bislang nahezu unbeachtet gebliebene Tragödie von Getrud Prellwitz gewidmet. Wilm interpretierte Oedipus oder das Rätsel des Lebens als Initiationsdrama, in dessen Zentrum letztlich das sexuelle Erwachen des in der Handlung 16jährigen Ödipus stehe. Elisa Primavera-Lévy (Berlin) spannte in ihrem Vortrag „Nietzsche und ‚der neue Oedipus‘“ einen Bogen von der Geburt der Tragödie bis zu Jenseits von Gut und Böse und isolierte Nietzsches je nach vorherrschendem Erkenntnisinteresse entstehende Ausdeutungen der Ödipus-Figur als Protowissenschaftler, als einen ahnunslos in den dionysischen Abgrund Schauenden, als Emblem einer konstitutionellen menschlichen Verantwortungslosigkeit und zuletzt als heiteren Freigeist, den er als den „neuen Oedipus“ chiffrierte. Den Abschluss des ersten Tages bildete der Vortrag von Bernhard Zimmermann (Freiburg), der sich unter dem Titel „Ein dionysischer Ödipus“ mit Die Befreiung des Oidipus (1913) von Rudolf Pannwitz (1881–1969) auseinandersetzte. In einem ersten Teil führte er in das in der Forschung in extenso und kontrovers diskutierte Problem des dionysischen oder undionysischen Charakters der griechischen Tragödie ein; im zweiten Teil führte er aus, wie Pannwitz, unter dem direkten Einfluss von Nietzsche stehend, den sophokleischen Oidipus auf Kolonos ‚dionysierte‘. Zum Ausklang des Tages folgte ein Stehempfang mit Brezeln und Wein.
Der zweite Tag begann mit dem Vortrag „‚Unsere Familie ist die Familie des Ödipus, liebe Justine‘ – De Sade und die Ödipus-Debatte um 1900“ von Inge Stephan (Berlin). Sie ging darin der Frage nach, ob es einen Zusammenhang zwischen der Ödipus-Rezeption um 1900 und der gleichzeitigen de Sade-Renaissance in den Sexualwissenschaften gibt und – wenn ja – welche möglichen Konsequenzen das für die Ödipus-Debatte haben könnte. Angesichts der Tatsache, dass de Sade ein von der ‚klassischen‘ Psychoanalyse abweichendes Ödipus-Modell entwirft, in dem der Vater-Tochter-Inzest und der Muttermord die entscheidenden Momente sind, stellen seine Texte eine Provokation dar, der sich vor allem Außenseiter in der Wissenschaft und Literatur um 1900 gestellt haben. Maximilian Bergengruen (Karlsruhe) führte in seinem Vortrag aus, dass Hofmannsthal in Ödipus und die Sphinx das Ödipus-Thema dergestalt aufnimmt, dass er die Figuren mit einem kollektiven Unbewussten versieht, in dessen Rahmen sich der Mythos vollzieht. Hofmannsthal denkt dieses überindividuelle Unbewusste einerseits auf Basis von Erwin Rohdes Daemon-Konzeption, andererseits mit Rückgriff auf die zeitgenössische Psychologie bzw. Psychiatrie. Nach dem Mittagsinbiss vor Ort ordnete Judith Frömmer (München) in ihrem Vortrag „Ödipus zwischen Wiederkehr und Wiedergeburt“ Freuds Rede vom Ödipus-Komplex in den geistesgeschichtlichen Kontext der Renaissance-Historiographie des 19. Jahrhunderts ein. Vor dem Hintergrund der säkularisierenden Konzeptionen der Renaissance als einer Epoche, in der – insbesondere der epochemachenden Studie Jacob Burckhardts zufolge – Kulturschöpfung an die Stelle von christlichen Heilserwartungen, aber auch von biologischer Natur zu treten begann, untersuchte Frömmer die geschichtsphilosophischen Grundannahmen der Psychoanalyse zwischen wissenschaftlichen Fortschrittsoptimismus und pathologischer Wiederkehr des Ödipus-Komplexes. Anhand einer Lektüre einschlägiger Passagen aus Totem und Tabu und der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse versuchte sie zu zeigen, wie in Freuds Deutung der ödipalen Konstellation der biologische Ursprung des Lebens durch eine neurotische Kultur ersetzt wird. Im Anschluss hieran widmete sich Anne Eusterschulte einer Relektüre der metapsychologischen Deutung des Ödipus-Motivs bei Freud. In Rekurs auf Paul Ricœurs Die Interpretation. Ein Versuch über Freud lässt sich Freuds Auseinandersetzung mit dem antiken Mythos nicht nur individualpsychologisch deuten, sondern birgt zugleich eine kulturtheoretische Symbolisierung und Selbstverständigung. Vor diesem Hintergrund suchte der Vortrag anhand ausgewählter kulturgeschichtlicher Bild- und Textzeugnisse zu zeigen, wie der Ödipus-Komplex in je unterschiedlichen Kontextualisierungen als Symbol eines kulturellen Begehrens gefasst werden kann. Abgeschlossen wurde der Workshop mit dem Vortrag „Ödipus seit 1900. Auf den Textspuren der Mythogenese“ von Arata Takeda (Berlin). Ausgehend von der Tragödienpassage aus Freuds Totem und Tabu ging er der im Laufe des 20. Jahrhunderts einsetzenden Entstehung einer alternativen Ödipus-Interpretation – u. a. von René Girard, Sandor Goodhart, Frederick Ahl – nach, die im sophokleischen Text nicht eine Modellierung des Mythos, sondern eine Kritik der Mythogenese erblicken will, und schloss mit der bewusst provokativen Frage, welchen Erkenntnismehrwert diese neue Interpretationsrichtung bringe. Eine Veröffentlichung des Tagungsbandes ist für 2018 geplant.
Bericht: Arata Takeda und Marie-Christin Wilm