Erfahren als/von Grenzgebiet. Erfahrung in der Prosa der Klassischen Moderne
Tagung in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Literaturarchiv
Datum: 16.–18.10.2014Ort: Marbach am Neckar
Planung und Organisation: Prof. Dr. Anne Eusterschulte und Agnieszka Hudzik
Die ‚Erfahrung’ steht heutzutage als Schlagwort in den Geistes- und Sozialwissenschaften hoch im Kurs. Wie aber diese ubiquitäre und an verschiedene Disziplinen anschlussfähige Kategorie genau zu verstehen ist, lässt sich schwer zusammenfassen, denn die Erfahrung gehört, wie schon Gadamer bemerkte, zu den unaufgeklärtesten Begriffen, die wir besitzen. Paradoxerweise scheint sich der Begriff einer exakten Definition konsequent zu entziehen, was als Widerständigkeit gegen eine theoretische Durchdringung interpretiert werden kann. Aufgrund der begrifflichen Offenheit sollte die Kategorie der Erfahrung daher, statt unter einem essentialistischen Gesichtspunkt, viel eher aus einem pragmatischen Blickwinkel heraus untersucht werden. So sollte die Frage nach ihren praktischen Aspekten, ihrer Funktionsweise und ihren Auswirkungen auf das Subjekt in den Fokus gerückt werden. Welche Rolle die Literatur im Prozess des Erfahrens spielt, war das Thema der internationalen Tagung, die im vorigen Jahr im Deutschen Literaturarchiv in Marbach in Zusammenarbeit mit der Friedrich Schlegel Graduiertenschule stattfand.
Allen Referaten war das Interesse am Spannungsverhältnis zwischen Erfahrung einerseits und ihrer literarischen Manifestation andererseits gemeinsam. Von den Vortragenden wurde hervorgehoben, dass beides untrennbar miteinander verbunden sei: Erfahrung braucht Erzählstrukturen, auch wenn sie sich ihnen permanent entzieht. Sie ist etwas Subjektives, das seinem Wesen nach geradezu danach verlangt, verbalisiert zu werden, um in einer Gemeinschaft kursieren zu können. Denn wenn Erfahrung nicht mitgeteilt wird, geht sie verloren. Auch das gegenläufige Modell stand im Raum: Die Literatur kann menschliche Erfahrung modellieren, konstituieren und ihr einen Rahmen setzen. Die Vortragenden strebten jedoch nicht ausschließlich eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Erfahrung im Allgemeinen an, sondern in den Tagungsbeiträgen wurden, neben den philosophischen Positionen (u. a. von Blanchot, Bloch, Blumenberg oder Merleau-Ponty), vor allem poetologische Strategien und ästhetische Prinzipien der Erfahrungsdarstellung in literarischen Werken erforscht.
Im Fokus der Tagung stand die Prosa der Klassischen Moderne, die sich programmatisch von der traditionellen Erzählweise des 19. Jahrhunderts distanzierte und nach neuen Artikulationsmöglichkeiten für die zersprengte Verfasstheit des modernen Menschen suchte. Anhand von exemplarischen Analysen wurden Poetiken verschriftlichter Erfahrung ausgearbeitet. Besondere Aufmerksamkeit schenkten die Vortragenden den Autoren aus mitteleuropäischen Grenzgebieten, wie etwa Herzl, Kafka, Morgenstern, Musil, Roth, Werfel oder Wittlin. Diese Auswahl ist zum einen auf die besondere Erfahrungsqualität dieses Kulturraums zurückzuführen, der durch seine Heterogenität zum transgressiven Denken herausforderte. Zum anderen scheint das Grenzgebiet als Metapher das Phänomen der Erfahrung auf den Punkt zu bringen. Die Erfahrung lässt sich, wie sich gezeigt hat, als eine Vernetzung des Hybriden beschreiben und an der Grenze zwischen Dualismen verorten. Sie verbindet in sich das Sinnliche und Kognitive, das Individuelle und Kollektive sowie das Aktive und Passive: Das Individuum ist zwar während des Erfahrens ein Agens, wird aber zugleich der Welt widerstandslos ausgesetzt, die ihm erst durch diesen Prozess zugänglich gemacht wird.
Erklärtes Ziel der Tagung war es, wie auch die Organisatorin Agnieszka Hudzik (Berlin) in ihrer Eröffnungsrede hervorhob, die Bedeutungsfelder von Erfahrung in der Literatur zu skizzieren, die Mannigfaltigkeit textueller Erfahrungswelten vorzustellen und über die Folgen einer Wiederbelebung der Kategorie der Erfahrung für die Literaturwissenschaft zu reflektieren. Nachdem Anfang des 20. Jahrhunderts in der europäischen Kulturkritik ihr Schwund diagnostiziert worden war, u. a. bei Benjamin oder Kracauer, genoss diese Kategorie in den 70er und 80er Jahren neue Aufmerksamkeit. Theoretiker wie Foucault oder Derrida betonten das kritische Potenzial der früher holistisch verstandenen Erfahrung, die in der Moderne dem Prozess der Fragmentarisierung unterlag. In den letzten Jahren hat man wiederholt versucht, die Wiederaufnahme dieser Kategorie ideengeschichtlich zu rekonstruieren (dazu vgl. z. B. Arbeiten von Jay und Ireland). Was dieses erneute Interesse an Erfahrung für literaturwissenschaftliche Überlegungen bedeutet und welche neuen Perspektiven es für sie eröffnet, wurde von den Vortragenden in vier Sektionen diskutiert.
Die erste Sektion war Kafka gewidmet, in dessen Schaffen die Problematik der Tagung in kondensierter Form zum Ausdruck kommt. MANFRED WEINBERG (Prag) plädierte in seinem Vortrag »Was für den einen ein Abfallbündel oder ein Hund ist, das ist für den anderen ein Zeichen.« Zum Erfahrungsgehalt der Texte Franz Kafkas dafür, den Erfahrungsgehalt der Texte Kafkas in deren Interpretation miteinzubeziehen. Mit dem im Titel seines Vortrags angeführten Zitat von Gustav Janouch veranschaulichte er die problematische Praxis in der früheren Kafka-Forschung: Lange Zeit wurden Erfahrungsgehalte in seiner Prosa beinahe verdrängt – stattdessen hob man die Zeichenhaftigkeit und das vermeintliche Transzendentale hervor, meist mit dem Duktus letzter Endgültigkeit, mit der Behauptung, dass der ultimative Schlüssel zur Decodierung seines Schaffens gefunden sei. Die markante Verschiebung von Alltagserfahrung in eine Sphäre großer theoretischer Konzepte war das gängigste Interpretationsmuster, das zur Etikettierung Kafkas als einen ‚erfahrungsarmen’ Autor beisteuerte. Weinberg schlug hingegen eine andere Lesart vor, die die Prager Erfahrungswelt von Kafka berücksichtigt. Damit meinte er jedoch keine biographischen Interpretationsansätze. Es ging ihm vielmehr um eine dezidierte Verortung seines Schaffens im Prager Kontext. Diese Neuperspektivierung führte er an den Texten Das Stadtwappen und Schakale und Araber vor und machte damit deutlich, dass Prag als besonderes transkulturelles Grenzgebiet gerade in Bezug auf die Erfahrungsgehalte in Kafkas Texten eminent wichtig ist.
SABINE MÜLLER (Wien) widmete sich literarischen Antworten auf die demokratiepolitischen Implikationen der These des Erfahrungsverlusts. Ausgehend von Benjamins Nachruf auf den Erzähler wies sie auf den gesellschaftshistorischen Kontext seiner Bemerkungen hin. Eine Berücksichtigung der Situation in der Weimarer Republik verdeutlicht das von ihm markierte Problem: die Rolle der kulturellen Tradition und Literatur für die Stärkung einer Verbindung zwischen kollektiver Erfahrung und einem Demokratieverständnis. Das von Benjamin am Beispiel des Films skizzierte Modell einer modernen Kollektiv-, Perspektiv- und Tiefenerfahrung wurde mit zwei Prosatexten verglichen: Beim Bau der chinesischen Mauer von Kafka und Die unbekannte Größe von Broch. Zum Schluss konfrontierte Müller ihre Analysen mit der postfundamentalistischen Demokratietheorie von Rancière, reflektierte kritisch über die Sortierungen der Moderne und regte zur Diskussion über die Verflechtung von Erfahrungs-, Literatur- und Demokratiegeschichte an.
Die Kafka-Sektion schloss JEAN-PIERRE PALMIER (Bielefeld/Bonn) mit seinem Vortrag über Schreiben und Sensualität ab und ergänzte das Tagungsthema um eine rezeptionsästhetische Perspektive. Leitend war dabei die Annahme, dass die Erfahrung in der Literatur nicht nur auf Poetik, auf literarische Strategien und Erzählstrukturen, beschränkt bleiben könne, sondern dass sie auch die Möglichkeiten ihrer Rekonstruktion voraussetze und im Akt der Lektüre aktiviert werde. Daraus ergaben sich im Weiteren folgende Fragen: In welchem Verhältnis steht die Leseerfahrung zum Erfahrungsgehalt des Textes? Wie werden erzählte Welten zu Vorstellungswelten? Was geschieht neurologisch während der Lektüre? Im Zentrum seiner Analyse standen die Texte Das Urteil und Der Proceß. Nach dem Beitrag wurde rege darüber diskutiert, inwieweit der kognitionswissenschaftliche Ansatz mit literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zu Erfahrung vereinbart werden könne. Unbestritten blieb jedoch der sensuelle Erfahrungsreichtum in Kafkas Texten und dessen nicht zu unterschätzende Bedeutung für ihre Interpretation.
Die zweite Sektion, die den philosophischen Kontexten der Erfahrung gewidmet war, eröffnete ANNE EUSTERSCHULTE (Berlin) mit dem Vortrag über das Phänomen des Schwindels. Sie richtete die Aufmerksamkeit auf die Krisen der Erfahrungsfähigkeit und untersuchte die sozialhistorischen und ästhetischen Transformationen dieses mehrdeutigen Motivs, das einen psychosomatischen Zustand sowie eine Täuschung bedeuten kann. Den Schwindel betrachtete sie nicht nur als eine Erscheinung der Moderne, sondern verfolgte seine Spuren auch u. a. bei Montaigne, Pascal und Nietzsche. Darüber hinaus skizzierte sie ein inspirierendes Panorama von verschiedenen Dimensionen dieses Phänomens und schuf ein Textgeflecht aus vielen theoretischen sowie literarischen Stoffen. Angesprochen wurde z. B. die poetologische Ebene des Schwindels, der als Hineinstürzen in die Fassungslosigkeit und Selbstauflösung zur Komponente einer Kunst- und Künstlerkonzeption wurde (Baudelaire, Merleau-Ponty). Außerdem beschrieb sie auch das kritische Potenzial des Schwindels: Seine irritierende Unbegreiflichkeit kann für tiefe Schichten des Bewusstseins und für die Verstelltheit der Welt sensibilisieren (Benjamin, Kraus, Freud, Adorno, Blumenberg). Wichtig war auch der Aspekt der lustvollen und zugleich entsetzenden Überspanntheit, die besonders mit philosophischen Implikationen aufgeladen ist (Kierkegaard, Valéry) und in der Prosa z. B. durch das Motiv des Taumels, des Seiltanzes oder des Jahrmarkts zum Ausdruck kommt (Max Blecher).
Im Anschluss daran beschäftigte sich MATTHIAS HENNIG (Berlin/Bern) mit dem Erfahrungsbegriff bei Bloch und Blanchot. Zuvor lieferte er einen umfassenden Überblick über die Begriffsgeschichte der Erfahrung und trug damit zur philosophischen Systematisierung des Tagungsthemas bei: Er begann mit Aristoteles, machte dann einen Sprung in die Moderne und zog zu seinen Überlegungen u. a. Dewey und Koselleck heran. Danach konzentrierte er sich auf den Vergleich zwischen Blanchot und Bloch: Er arbeitete heraus, dass die Erfahrung bei beiden Autoren als wichtige Überschreitungsfigur betrachtet werde und die Aufgabe eines Transformationsbegriffs habe, der sich zwischen Ich und Welt erstrecke und das Verfügbare mit dem Unverfügbaren bzw. Noch-Nicht-Realisierten in Kontakt bringe. Während Bloch die Erfahrung im Kontext der Experiment-Beschaffenheit der Welt betrachtet, verbindet Blanchot sie mit der Sphäre des Ästhetischen und schreibt der Kunst die Rolle des Erfahrungskondensators zu. Zur Pointierung seiner Unterscheidung führte Hennig die Bezeichnungen des intensiven (Blanchot) und extensiven (Bloch) Erfahrungsbegriffs ein.
Die dritte Sektion zu (Grenz-)Erfahrungen in den Literaturen der Grenzgebiete eröffnete ein Vortrag von MARC SAGNOL (Paris). Er widmete sich der Problematik der Grenze in der Prosa über Galizien. Im Zentrum seiner Analysen standen ausgewählte Romane von Joseph Roth, Soma Morgenstern und Józef Wittlin, die zum Vergleich noch um die Texte von Julian Stryjkowski und Alfred Döblin ergänzt wurden. Die These von Sagnol war, dass das Thema der Grenze in ost- und mitteleuropäischen Literaturen zwar ein alter Topos sei, dass jedoch mit dem Zusammenbruch der Monarchie Österreich-Ungarn andere Dimensionen stärker in den Vordergrund gerückt seien: die nostalgische, allegorische und ‚metaphysische’. In seinen Analysen wies er darauf hin, dass die gesamte Motivik der Grenze (wie die Grenzstation, der Grenzposten, die Grenzschenke, die Figuren der Schmuggler und Deserteure) in den Werken eine nicht mehr existierende, oftmals idealisierte Welt darstelle. Diese Vorstellung symbolisiere, so Sagnol, die verlorene Geborgenheit der Kindheit und habe ein episches Potenzial: Sie sei imstande, das Epische in der Epoche des ,Erfahrungsschwunds’ zu erhalten und zu überliefern.
FLORIAN ROGGE (Tübingen) widmete sich im Anschluss daran der Kategorie der Erfahrung von Zeit und Raum in Theodor Herzls Altneuland. Er zog für seine Analyse zunächst Texte von Hölderlin und Verne als Referenztexte heran, um schließlich zu zeigen, dass die Utopie in Altneuland als etwas Im-Werden-Befindliches beschrieben werde. Er konzentrierte sich dabei besonders auf die Rolle des Motivs des Schiffs als Vehikel der Zeit-Raum-Überwältigung und hob hervor, dass räumliche und zeitliche Distanzen auf mehrfache Weise im Roman durchkreuzt würden. Besonders genau untersuchte er das in Herzls Text dargestellte Spannungsverhältnis zwischen märchenhafter Vision vom neuen Jerusalem, seiner ‚realen Absehbarkeit’ sowie die Einbettung dieser Vorstellungen in den frühen zionistischen Diskurs. Verhandelt wurde auch die Frage, ob die jüdische Identität im Roman etwas Zeitloses sei und inwiefern sie an lokale Bedingungen anknüpfe. In der anschließenden Plenumsdiskussion wurde die Rolle verschiedener Ausgaben des Romans auf seine Interpretation diskutiert, ebenso wie die Frage, wie der Paratext „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen“ zu verstehen sei.
ANA-MARIA SCHLUPP (Berlin) schloss mit ihrem Vortrag über Erfahrungs(ver)lust im Roman Eine nie vergessene Geschichte von Jan Koneffke die dritte Sektion ab. Im Fokus ihrer Textanalyse standen die unterschiedlichen Verständnisse des Begriffs ‚Walachei’. Sie untersuchte, wie und mithilfe welcher literarischen Strategien in Koneffkes Werk mit der konkreten Zuschreibung der Walachei an die reale Region (ein Grenzgebiet im Süden des heutigen Rumäniens zwischen den Südkarpaten und der Donau) und ihrem imaginierten Bild, das in narrativen Formen wie beispielsweise Sprichwörtern, Sagen und Erzählungen überliefert wurde, ironisch gespielt wird. Im Roman entwickele sich die Walachei zu einem utopischen Sehnsuchtsort bzw. Nicht-Ort, der unerreichbar und unzugänglich bleibe, dennoch aber sowohl die Figuren der Handlung als auch die Rezipienten zur Auseinandersetzung damit anrege, was und wo die Walachei denn nun sei. Am Beispiel des Walacheibildes zeigte die Referentin das sich bei Koneffke manifestierende Streben eines Subjekts nach einer individuellen Erfahrung, die programmatisch von den kollektiv überlieferten Vorstellungen abweicht und sich nur in ihrer Unmöglichkeit darstellen lässt.
JULIAN REIDY (Zürich) und MORITZ WAGNER (Genf) entwarfen in einem höchst präzisen Doppelvortrag Topographien der Exilerfahrung in Thomas Manns Joseph und seine Brüder und Franz Werfels Stern der Ungeborenen. Ihre beiden Vorträge eröffneten die letzte Sektion zu Erfahrungen der Moderne, für die zweifellos Migration und Exilierung konstitutiv sind. Die Vortragenden rückten die Kategorie der Erfahrung in die Sphäre raumtheoretischer Überlegungen. Ihre Ausführungen zur Exiltopographie der Joseph-Tetralogie verdeutlichten aufs Genaueste die räumlichen Reflexionen, die den Romanen leitmotivisch eingeschrieben sind. Sie erläuterten anhand der drei Raumparadigmen der Wüste (Verbannungsraum), des Gartens/ der Gartenlaube (Assimilationsraum) und des Zelts (diasporischer Raum), wie Manns Texte Erfahrungsräume des Exils darstellen und wie sie den verschiedenen Raumtypen identitätsstiftende Funktionen attribuieren. Bei der Analyse des Werfelschen Reiseromans stand aufgrund des hybriden Genres eine wiederum noch komplexere Raumreflexion im Vordergrund. Auch hier waren es wiederum drei Raumtypen, die klar voneinander geschieden werden konnten: Die Reise des Protagonisten der ‚Sternenwanderschaft’ führte von einem Nichtort der Verbannung über einen schöpferischen Gegenort zu einem Schwellenort transitärer, nomadischer Existenz. Die beiden stichhaltigen Analysen schlugen im Ausblick das äußerst vielversprechende Projekt einer raumsemantischen Relektüre der Exilliteratur vor.
AGNIESZKA HUDZIK (Berlin) schloss die Tagung mit ihrem Referat ab, in dem sie sich den Erzählungen und Essays von Musil widmete. Mit der heuristisch gesetzten Kategorie der Verführung – und mit den nah verwandten Begriffen wie Sympathie (Foucault) oder Liebe (Musils Essays) – versuchte sie, die von ihm beschriebene andere Erfahrung der Wirklichkeit zu untersuchen, die als heterogen und unverständlich dargestellt wird, sich rationalistischen Denkweisen entzieht, die konventionelle Auffassung von Kausalität und Logik hinterfragt, das Subjekt übermannt, verschlingt, anzieht sowie gleichermaßen abstößt. Zum Schluss wählte die Referentin einen komparatistischen Ansatz und zog für ihre Überlegungen Texte von Gertrud Kolmar und Bruno Schulz heran.
Insgesamt konnte die Tagung den Facettenreichtum des Spannungsverhältnisses zwischen Erfahrung und Literatur verdeutlichen und Ansätze zur Erforschung des komplexen Themas liefern. Die Zusammenschau der Tagungsbeiträge lässt die Kernpunkte der präsentierten Inhalte erkennen, die von Poetiken, Krisen und Formen der Erfahrung der Moderne in literarischen sowie philosophischen Texten handelten. Die minutiösen exemplarischen Analysen führten im Laufe der Diskussionen zu einer grundsätzlichen Reflexion über Herangehensweisen an Literatur. Hervorzuheben ist dabei die Interdisziplinarität und Multiperspektivität der Auseinandersetzung mit der Erfahrungsproblematik, die die Tagung bot: Am Beispiel der Kategorie der Erfahrung wurde das Verständnis von Literaturwissenschaft vor Augen geführt, das literarische Texte in ihrer Verflechtung mit anderen Diskursen wie Philosophie, Ästhetik oder Ideengeschichte betrachtet. Eine Veröffentlichung der Beiträge ist in Planung.
Bericht: Katharina Hertfelder und Agnieszka Hudzik
Donnerstag, 16. Oktober 2014
Agnieszka Hudzik (Berlin), Einführung in das Tagungsthema
Panel 1: Kafka im Fokus
Prof. Manfred Weinberg (Prag), „Was für den einen ein Abfallbündel oder ein Hund ist, das ist für den anderen ein Zeichen.“ Zum Erfahrungsgehalt der Texte Franz Kafkas
Dr. Sabine Müller (Wien), Kollektiv-, Perspektiv- und Tiefenerfahrung: Zwei literarische Antworten auf die demokratiepolitischen Implikationen des ‚Erfahrungsverlusts’ (Kafka, Broch)
Dr. Jean-Pierre Palmier (Bielefeld/ Bonn), Schreiben und Sensualität bei Kafka
Freitag, 17. Oktober 2014
Panel 2: Erfahrung in philosophischer Sicht
Prof. Anne Eusterschulte (Berlin), Krisen der Erfahrungen: Schwindel
Matthias Hennig, Dr. des. (Berlin/ Bern), Zum Begriff der Erfahrung bei Bloch und Blanchot
Panel 3: Grenzgebiete und Grenzerfahrungen
Dr. Marc Sagnol (Paris), Erfahrung von Grenzen in Galizien/Österreichisch-Ungarische Monarchie bzw. Polen (Joseph Roth, Soma Morgenstern, Jozef Wittlin)
Florian Rogge (Tübingen), Schiffe in Zeit und Raum: Die Erfahrbarkeit der Utopie in Theodor Herzls „Altneuland“ (1902)
Ana-Maria Schlupp (Berlin), „Floskeln aus einer Vergangenheit vor seinem Leben“. Erfahrungs(ver)lust bei Jan Koneffke am Beispiel der Walachei
Samstag, 18. Oktober 2014
Panel 4: Erfahrungen der Moderne
Dr. Julian Reidy (Zürich), Moritz Wagner (Genf), Topographien der Exilerfahrung in Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ und Franz Werfels „Stern der Ungeborenen“
Agnieszka Hudzik (Berlin), Verführung und andere Erfahrungsweisen in der Prosa der Klassischen Moderne
Abschlussdiskussion