Akustische Störungen. Postkoloniale und queere Potentiale sonischer Interventionen
Freie Universität Berlin - SFB 1512 Intervenierende Künste
Konstantin Lück (stud. Beschäftigter)
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Allgemeine Informationen zum Forschungsprojekt
Das theaterwissenschaftliche Teilprojekt „Akustische Störungen“ untersucht Aufführungen, Performances, Installationen, Audio Walks, Sound Art und angrenzende künstlerische Arbeiten, welche mittels einer spezifischen akustischen Gestaltung gesellschaftspolitische Ordnungen und Normen mobilisieren, unterbrechen sowie hinterfragen bzw. kritisieren und dabei insbesondere postkoloniale und queere Perspektiven zu Gehör bringen. Der Begriff der Intervention ist hier in zweierlei Hinsicht einschlägig: zum einen als Intervention in bestehende phänomenale Ordnungen, indem künstlerische Arbeiten dem Akustisch-Auditiven eine Aufmerksamkeit zuwenden, welche etablierte hegemoniale Wahrnehmungsordnungen (vor allem des Visuellen und Textuellen) stört und unterbricht. Zum anderen als Erweiterung gängiger Konzepte von Intervention selbst, da es vor allem auch um Praktiken geht, die unspektakulär auftreten und insbesondere in und durch die unerwartete Reduktion bzw. den Entzug von Hörbarem, durch Stille, Schweigen und leise, leicht überhörbare Weisen sonischer Gestaltung wirksam werden.
Stimmen, Klänge, Töne, Geräusche und Sounds sind zuletzt auch in der Theaterwissenschaft in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, dabei kann das Forschungsprojekt insbesondere auf Überlegungen zum Zusammenhang von Klanglichkeit, Räumlichkeit und Medialität, zur Thematisierung akustischer Aufmerksamkeit sowie zu Phänomenen wie Sounds oder Geräuschen im Kontext von Performances aufbauen. Wesentliche Vorarbeiten wurden zudem von Untersuchungen zu den „Sonischen Künsten“ aus historischer, kultureller und postkolonialer Perspektive geleistet sowie zur Relation von Stimme, Sexualität, Geschlechterkonstruktion und Queerness.
Das Teilprojekt befragt ausgewählte afrikanische, asiatische und europäische Fallstudien der globalen performativen Gegenwartskünste danach, welche konkreten künstlerischen Strategien eingesetzt werden, um „sonic politics“ zu entfalten und um akustisch-auditiv geschlechtliche sowie ethnische Klischees, Repräsentationsweisen und Ein- und Ausgrenzungen zu unterlaufen. Dazu entwickelt es ein Verständnis von akustischer Störung, das nicht auf die je konkrete Klanglichkeit reduziert werden kann, sondern in einem komplexen Arrangement von Materialitäten und Praktiken, aber auch Diskursen, Narrativen, Kontexten sowie lokalen wie globalen Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten wirksam wird. Zudem arbeitet das Teilprojekt die spezifische Poetik sonischer Interventionen heraus, mit denen das „Silencing“ und „Othering“ nicht-hegemonialer (Klang-)Kulturen, Sexualitäten und Lebensweisen kritisch hinterfragt bzw. gewendet wird (Unterprojekt 2), und es erforscht das Potential digitaler (Audio)Archive, neue akustische Formen der Störung etablierter Hörweisen jenseits etablierter Institutionen und Archivstrukturen zu sammeln, zugänglich zu machen und damit andere Wahrnehmungskonventionen, (Bewertungs-)Hierarchien und Adressierungen von Öffentlichkeiten zu ermöglichen (Unterprojekt 3).
Informationen zum Promotions- und Postdoc-Projekt
„Wenn wir an Kolonialismus denken, haben wir meist bestimmte Strukturen oder bestimmte Bilder im Kopf. Wir denken aber kaum darüber nach, wie Kolonialismus klingt“ – diese Aussage des Performers und Soundforschers MeLê Yamomo bildet den Ausgangspunkt des Teilprojekts, welches am Beispiel der performativen Gegenwartskünste danach fragt, wie Klanggestaltung andere Formen von Gemeinschaft, Teilhabe, Identität und Öffentlichkeiten zu imaginieren und hervorzubringen vermag. Erforscht wird das wenig untersuchte Potential sonischer künstlerischer Umwelten, marginalisierte Positionen, oftmals unterdrückte Bedürfnisse oder ignorierte Erfahrungen und Lebenswelten zu Gehör und in die öffentliche Wahrnehmung zu bringen. Das Projekt analysiert diese komplexen Arrangements von Praktiken, Materialitäten, Diskursen, Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten, in denen akustische Störungen wirksam werden, und setzt sich dabei mit dem grundlegenden Problem des „Othering“ sowohl außereuropäischer Kulturen als auch nicht-binärer Geschlechteridentitäten wie auch schließlich von Sound auseinander, deren intersektionale Verschränkung in ihrer situativen Spezifik herausgearbeitet werden muss.
Unterprojekt 2 (Postdoc-Projekt) arbeitet die spezifische Poetik sonischer Interventionen in den Arbeiten zum Beispiel von Gilles Aubry, Nguyễn Baly, Lawrence Abu Hamdan, Satch Hoyt, Evan Ifekoya, Nathalie Angueszomo Mba Bikoro, Zulfikle Mahmod, Emeka Ogboh oder MeLê Yamomo und anderen mehr heraus, die in kritischer Unterbrechung einer kulturellen Dominanz und Technologie des Visuellen das „Silencing“ und „Othering“ nicht-europäischer (Klang-)Kulturen sowie nicht-normativer Sexualitäten und Lebensweisen kritisch hinterfragen. Performative Aufführungen stellen hier ein Experimentierfeld dar, in dem nicht nur die ästhetischen, sondern vor allem auch die gesellschaftspolitischen und historischen Verflechtungen von Sprechen und (Zu-)Hören, von Zu-Gehör-Bringen und Ver-Schweigen, Stumm-Halten mit künstlerischen Mitteln untersucht werden. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei reduktiven Verfahren entgegengebracht, die paradoxer Weise im Entzug, im Schweigen, in der Stille, dem Flüstern oder dem kaum wahrnehmbaren Geräusch eine andere Form der Artikulation anderer Identitäten und Lebensweisen praktizieren. Das Unterprojekt arbeitet die konkreten künstlerischen Gestaltungsweisen, Konzepte und Praktiken heraus, die neue akustische Umwelten hervorbringen und dies als Störung etablierter Wahrnehmungsmuster, Ordnungen, Hierarchien und Bewertungen inszenieren oder auch als Adaptation von Störung im Rauschen, Knistern, im (Stör-)Geräusch oder im intendierten Ausfall der Technik, um verfestigte Kategorien zu verflüssigen und in neuen audiovisuellen Arrangements aufzulösen. Musik, Stimmen, Klänge, Töne und Geräusche und ihre Inszenierung werden hier als Seismographien von Gesellschaft verstanden ebenso wie als Imaginationsmedien anderer Zukünfte.
Unterprojekt 3: Potentiale digitaler (Audio-)Archive (Promotions-Projekt) fragt nach dem Innovations- und Interventionspotential digitaler Archivierungsverfahren und -technologien. Wie kann Geschichte anders geschrieben werden und wie können nicht-hegemoniale Identitäten nicht nur artikuliert werden, sondern vorhandene Ordnungen erweitern und bestehende Archive wie auch kulturelle Praktiken transformieren? Am Beispiel ausgewählter künstlerischer (z.B. Sounds Queer?; soundacts.com; Afro-Sonic Mapping; CTM Archive) und kuratorischer Archivprojekte (z.B. Colonial Neighbours, Savvy Contemporary; museum4punkt0; Feminist Frequencies; Queer Noise Archive Manchester) erforscht es, wie digitale Audiotechnologien genutzt werden, um queere Identitäten und de- bzw. postkoloniale Situationen zu re-präsentieren sowie grundlegende Probleme von Kanonbildung, Aneignung und Archivierung/Bewahrung mit ihren In- und Exklusionsmechanismen zu thematisieren. Dabei sind etablierte Vorstellungen und Narrative vom vermeintlich leichteren Zugang und demokratisierenden Effekt insbesondere Sozialer Medien kritisch zu hinterfragen. Auch ist zu problematisieren, inwiefern die dispositive Struktur technischer Medien dazu beiträgt, dass bestimmte Materialitäten, Erfahrungen sowie Identitäten wie Kollektivitäten ignoriert bzw. ausgegrenzt werden. Im Sinne von Arun Appadurai soll im Unterprojekt das Potential von Archiven erforscht werden, ein ermächtigendes Element für post- und dekoloniale Perspektiven und queere Existenzformen bereitzustellen.
Das Forschungsprojekt ist Teil des Sonderforschungsbereichs 1512 „Intervenierende Künste“. Der SFB stellt die hervorbringende und aktivierende Dimension der Künste ins Zentrum und untersucht deren Potential, mittels der Etablierung künstlerischer Wahrnehmungsordnungen und Praktiken soziale Beziehungen zu stiften und politische Konflikte zu generieren. Mehr denn je werden Künste gegenwärtig vom Anspruch bestimmt, gesellschaftlich wirksam zu sein. Der Verbund vereint die künstebezogenen Disziplinen mit Philosophie, Geschichte, Soziologie und Kulturanthropologie. Der SFB 1512 ist an der Freien Universität angesiedelt und kooperiert mit der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universität der Künste Berlin, der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), und der Leuphana Universität Lüneburg.
Schlagwörter: Sound Studies, Theaterwissenschaft, Performance, Postcolonial Studies, Queer Studies, Stimme, Klang, Geräusch, Sound, Intervention, Störung
Keywords
- Sound Studies
- Theaterwissenschaft