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Max Reinhardt und seine Inszenierung von „Dantons Tod“ 1916

Max Reinhardt, Foto: Hänse Herrmann, mit Autogramm von Reinhardt von 1916

Max Reinhardt, Foto: Hänse Herrmann, mit Autogramm von Reinhardt von 1916
Bildquelle: Institit für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, Theaterhistorische Sammlungen / Rechte vorbehalten - Freier Zugang

Postkarte mit Ferdinand Bonn (Danton) und Auguste Pünkösdy (Julie)

Postkarte mit Ferdinand Bonn (Danton) und Auguste Pünkösdy (Julie)
Bildquelle: Archiv des Deutschen Theaters, Berlin / Rechte vorbehalten - Freier Zugang

Korrekturfahne des Premierenzettels

Korrekturfahne des Premierenzettels
Bildquelle: Institit für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, Theaterhistorische Sammlungen, Nachlass Ottmar Keindl / Rechte vorbehalten - Freier Zugang

Max Reinhardts Regiebuch zu Büchners „Dantons Tod“, 1916 am Deutschen Theater in Berlin aufgeführt, kann als herausragendes Dokument für die Arbeitsweise eines Regisseurs gelten, der wie kein anderer die Entwicklung zum modernen Regietheater mitgeprägt und die Stellung Berlins als europäische Theatermetropole des 20. Jahrhunderts mitgestaltet hat. Vergleichbar der Veranschaulichung eines „Kinos im Kopf“ beschreibt Reinhardt in dem Regiebuch minutiös seine optischen und akustischen Visionen bei der Lektüre des Textes, die er anschließend im Probenprozess umzusetzen vermochte.

1873 in Baden bei Wien als Maximilian Goldmann geboren, unter dem Künstlernamen Max Reinhardt als Schauspieler etabliert, wird er 1894 ans Deutsche Theater in Berlin engagiert, ein Theater, das zu diesem Zeitpunkt unter Otto Brahm durch die Durchsetzung des Naturalismus auf der Bühne bereits internationale Anerkennung erlangt hat. Erfolgreicher Darsteller alter Männer mit angeklebten Bärten, aber angesichts Brahms' exzellentem Ensemble an „Menschendarstellern“ nicht ausgelastet, gründet er mit Kolleg*innen die Kabarettbühne „Schall und Rauch“.

Spielt man zunächst satirische Dramolette und Persiflagen auf klassische Theatertexte – aus der Loge kommentiert von „Serenissimus“ und seinem Lakaien Kindermann – wechselt die Bühne aber bald den Namen in „Kleines Theater“, da Reinhardt beginnt, literarisch anspruchsvolle Theatertexte von Strindberg, Wilde und Wedekind aufzuführen. 1903 gelingt mit der deutschen Erstaufführung von Maxim Gorkis „Nachtasyl“ (Regie offiziell Richard Vallentin, Reinhardt löst gerade erst seinen Vertrag mit Brahm) ein Sensationserfolg, der die finanzielle Grundlage für die sprunghafte Expansion Reinhardts zum bald führenden Theaterunternehmer Berlins schafft.

Noch im selben Jahr übernimmt er – nun offiziell als Theaterleiter und Regisseur in Erscheinung tretend und wahrgenommen – das „Neue Theater“ am Schiffbauerdamm, investiert in den Einbau einer in Berlin bis dahin nicht vorhandenen Drehbühne und erreicht mit einer poetischen Neuinterpretation von Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“, legendär durch den drehenden „wirklichen Wald“ und duftendes Moos, den nächsten Sensationserfolg und die Reputation für die Übernahme des Deutschen Theaters, das in den folgenden Jahren Zentrum seines Schaffens bleibt. Daneben experimentiert er sowohl mit neuartigen intimen Theaterformen (Eröffnung der „Kammerspiele“ 1906 mit Ibsens „Gespenster“), aber auch mit Möglichkeiten eines Massentheaters, indem er im Zirkus Schumann 1911 „König Oedipus“, in Hofmannsthals Nachdichtung des Sophokles, inszeniert.

Reinhardt ist in dieser Zeit von geradezu explodierender Kreativität, die nicht nur die Formen des Theaters, sondern auch die Wege der Refinanzierung betrifft. Er gastiert und inszeniert u.a. in München, Budapest und Wien, London und St. Petersburg, in New York und Stockholm. Die neu entdeckte Theaterform der Pantomime (u.a „Das Mirakel‟) eignet sich besonders für diese internationale Expansion. Reinhardt wird zum ersten internationalen „Star-Regisseur‟, der nicht als Impressario Stars auf die Bühne bringt, sondern dessen Gestaltungskunst im Mittelpunkt steht.

Seine Inszenierungen eröffneten dem Publikum gänzlich neue Wahrnehmungsräume und Körpererfahrungen, sie zeigten – auch in ihrer Tendenz zu einer umfassenden Atmosphärenregie – alle wesentlichen ästhetischen Entwicklungen der beginnenden Theateravantgarde.

Reinhardts Reaktion auf den Beginn des Ersten Weltkriegs wurde bislang noch wenig untersucht. Neben Matineen mit patriotischen Gedichten inszeniert er Klassiker wie „Prinz von Homburg‟ oder „Wallenstein‟ (vgl. Martin Baumeister: Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur 1914-1918. Essen 2005.). Will man daraus eine nationalistische Geste herauslesen, müsste man sich mit den Inszenierungen selbst befassen. Interessanter: Ein „Deutscher Zyklus‟ mit bislang selten gespielten Stücken aus Sturm und Drang und Vormärz, darunter „Die Soldaten‟ von Lenz, ein Werk, dem man wohl kaum die Verherrlichung des Soldatenstandes unterstellen kann. Und Büchners „Dantons Tod‟.

„Dantons Tod“, 1835 als einziges Stück Büchners zu seinen Lebzeiten veröffentlicht, war lediglich 1902 in einer Vereinsaufführung der Freien Volksbühne in Berlin (Regie: Friedrich Moest) uraufgeführt worden, galt aber als unspielbar. Um so verblüffender der Erfolg im Kriegsjahr 1916: Mit über 60 Aufführungen war die Produktion eine der meistgespielten im Repertoire ernster Dramatik. Der Dramaturg Heinz Herald wies in einer zeitgenössischen Publikation auf zwei wesentliche Gestaltungselemente hin, die sich auch im Regiebuch nachvollziehen lassen: (Heinz Herald/Ernst Stern: Reinhardt und seine Bühne. Bilder von der Arbeit des Deutschen Theaters, Berlin 1918, S 86-91): Angesichts der zunehmenden Materialknappheit im Krieg reduzierte Reinhardt den Dekorationsaufwand drastisch, ein Einheitsbühnenbild (Ernst Stern) wurde durch wenige Versatzstücke und vor allem durch eine geschickte Lichtregie als variabler Schauplatz ausgestaltet. In den Theaterhistorischen Sammlungen des Instituts für Theaterwissenschaft ist eine Studentenarbeit aus den 1960er Jahren des später als Musikdramaturg bekannt gewordenen Christof Bitter überliefert, der in einigen Skizzen versucht hat, anhand des Regiebuchs die verschiedenen Lichtsituationen zu rekonstruieren (s. unter weitere Materialien).

Zum anderen bot das in den Wirren der Französischen Revolution spielende Stück Anlass für Experimente mit dem Einsatz von Statisten-„Massen“, für die Reinhardt bereits seit seinen Inszenierungen im Zirkus Schumann ab 1911 und später durch den Ausbau des Hauses zum „Großen Schauspielhaus‟ berühmt geworden ist. Der Kritiker Norbert Falk sprach in der B.Z. am Mittag von „individualisierter Statisterie‟ und bezeichnet so die detailreiche Ausarbeitung der im Stück skizzierten Bevölkerungsschichten, die erheblich zum sinnlichen Reichtum der Inszenierung beitrugen.

Weder die Gründe für den Erfolg dieser Produktion im Ersten Weltkrieg noch ihr Status im Kontext der Entwicklung von Reinhardts „Massenregie“ sind bislang in der theaterwissenschaftlichen Forschung hinreichend untersucht. Anhand des nun gut zugänglichen Regiebuchs lässt sich dies ebenso nachvollziehen wie die kunstreiche Gestaltung der szenischen Übergänge, bei denen oft durch akustische Effekte Innen- oder Außenräume vorbereitet werden.

Reinhardt selbst notiert zum Thema „Das Regiebuch“:

„Man liest ein Stück. Manchmal zündet es gleich. Man muss vor Aufregung innehalten im Lesen. Die Visionen überstürzen sich. Manchmal muss man es mehrfach lesen, ehe sich ein Weg zeigt. Dann denkt man an die Besetzung der großen und kleinen Rollen, erkennt, wo das Wesentliche liegt. Man sieht die Umwelt, das Milieu, die äußere Erscheinung [...] Schließlich hat man eine vollkommene optische und akustische Vision. Man sieht jede Gebärde, jeden Schritt, jedes Möbel, das Licht, man hört jeden Tonfall, jede Steigerung, die Musikalität der Redewendungen, die Pausen, die verschiedenen Tempi. Man fühlt jede innere Regung, weiß, wie sie zu verbergen, wann sie zu enthüllen ist, man hört jedes Schlucken, jeden Atemzug. Das Zuhören des Partners, jedes Geräusch auf und hinter der Szene. Der Einfluss des Lichtes. Und dann schreibt man es nieder, die vollkommen optischen und akustischen Visionen wie eine Partitur. Man kann kaum nachkommen, so mächtig drängt es an, eigentlich geheimnisvoll, ohne Überlegung, ohne Arbeit. Begründung findet man später. Man schreibt es hauptsächlich für sich. Man weiß gar nicht, warum man das so oder anders hört und sieht. Schwer aufzuschreiben. Keine Noten für Sprechen. Erfindet seine eigenen Zeichen ...“ (Max Reinhardt: Das Regiebuch, SUNY Binghamton, Max Reinhardt Archive, R 5083 (O). Zit. nach: Edda Furich/Gisela Prossnitz (Hg.): Max Reinhardt. Die Träume des Magiers. Salzburg 1993, S. 59.)

Die Lektüre von Reinhardts Überlegungen zur Inszenierung von „Dantons Tod“ belegen eben diesen Prozess, machen „optische und akustische Visionen“ miterlebbar.

In den 1920er Jahren verliert Reinhardt zunehmend die Lust an der politisch aufgeheizten Atmosphäre in Berlin. Das Preußische Staatstheater unter Leopold Jessner rückt in den Fokus, Erwin Piscator provoziert mit technisch-modernistischem, kommunistisch gemeintem Avantgardetheater. Reinhardt verlagert seinen Schwerpunkt nach Österreich, wo er am Theater in der Josefstadt in Wien die Commedia dell‛arte wiederbelebt und in Salzburg die Festspiele gründet. 1927 führt ihn eine Gastspielreise in die USA, wo auch eine erneuerte Fassung von „Dantons Tod‟ erfolgreich aufgeführt wird (Century Theatre New York, 20.12.1927). Das Regiebuch wird dafür geringfügig überarbeitet. In diesem Rahmen hält Reinhardt auch an der Columbia Universität eine erste Fassung seiner Rede „Über die Schauspieler“, die später durch eine Rundfunkaufzeichnung berühmt wurde.

Nachdem 1933 die Macht in Deutschland Adolf Hitler überlassen wird, teilt Reinhardt das Schicksal der großen Anzahl von jüdischen Künstler*innen, die im NS-Staat ausgegrenzt und zunehmend verfolgt werden. Nachdem auch seine Heimat Österreich von den Nazis übernommen wird, emigriert er in die USA, ohne dort künstlerisch wirklich Fuß fassen zu können. Max Reinhardt stirbt 1943 in New York.

(Peter Jammerthal)