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Vortrag/Talk: Wang Min'an

(deutsche Übersetzung von Zhang Shuo, Zhu Kejia, Cheng Lin)

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Wang Min'an



Was ist Nietzsches Haltung zur Aufklärung?

 

Teil 1

Für Nietzsche hat die Aufklärung ein vielfältiges Angesicht. Vor allem ist sie eine philosophische Strömung mit Kant als Repräsentanten. Als solche hält Nietzsche sie für eine neue Phase des Platonismus.

Im Kapitel „Wie die ‚wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde“ in Götzen-Dämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert, beschreibt Nietzsche kurz und bündig die Geschichte der europäischen Philosophie als Reflex des Platonismus. Diese Geschichte ist für Nietzsche die „Geschichte eines Irrtums“, dessen Kern darin besteht, die Welt in der Realität und in der Idee zu verbinden. Die Idee verbirgt sich in der wahren Welt lediglich und genießt die enorme Überlegenheit vor der scheinbaren Welt. Nietzsche formuliert dieses Verhältnis in drei Entwicklungsabschnitten. Darunter ist die Aufklärung der neueste.

„Die wahre Welt, erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, – er lebt in ihr, er ist sie“, heißt es im ersten Abschnitt. Dies hält Nietzsche für die „älteste Form der Idee“. Die wahre Welt wird hier zwar nicht klar beschrieben, ihre ungewöhnliche Seite lässt sich aber schon erkennen: diese Welt ist nur für die Minderheit der Menschen („für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften") erreichbar. Der Zugang zu ihr knüpft sich an bestimmte Bedingungen und Voraussetzungen, d.h. zwischen ihr und der scheinbaren Welt gibt es schon Differenz und Distanz, weil die scheinbare Welt für jeden Beliebigen erreichbar ist. Nur die „Tugendhaften“ können die Welt des Übersinnlichen erreichen. Im Vergleich zur scheinbaren Welt, in der die Untugendhaften und Narren zu Hause sind, ist diese wahre Welt überlegen. Dennoch ist die wahre Welt (das Übersinnliche) für die Menschen (auch wenn nur für eine Minderheit) erreichbar. Noch kann der Mensch in dieser Welt leben, d.h. sie ist noch ein Diesseits und kein unerreichbares Ideal. Die Verbindung zwischen den beiden Welten ist noch nicht zerstört. Es ist aber bereits die Tendenz zu erkennen, dass beide Welten sich voneinander distanzieren, wobei diese Trennung noch nicht endgültig vollzogen ist, weil beide Welten noch diesseitige Sphären bezeichnen. Offensichtlich ist es Platons Meinung, dass die Tugendhaften und Weisen die wahre Welt genießen, die Untugendhaften und Narren hingegen die scheinbare Welt. Beide Welten sind dabei diesseits und erreichbar. Unterschiedlich ist nur, dass sie verschiedenen Arten von Menschen zugänglich sind.

Im zweiten Abschnitt, dem Zeitalter des Christentums, gilt dann: „Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften (‚für den Sünder, der Buße tut‘)“, ist im Vergleich zur wahren Welt im ersten Abschnitt keine diesseitige Realität mehr, sondern diese ist zu einem in der Zukunft versprochenen Ideal geworden. Sie ist jenseitig und aus dem Diesseits nicht mehr erreichbar. Sie ist eine Welt in Zukunft, den Tugendhaften vorbehalten. So trennen sich die wahre und die scheinbare Welt voneinander: Erstere ist ein Jenseits, letztere ein Diesseits; erstere in der Zukunft, letztere in der Gegenwart. Im Gegensatz zur platonischen Philosophie ist die „wahre Welt“ hier nur mehr eine versprochene. In diesem Sinne distanzieren sich die wahre Welt und die scheinbare Welt immer weiter voneinander: sie sind nicht nur verschiedenen Menschen (Weisen und Narren) vorbehalten, sondern bezeichnen auch verschiedene Räume (Diesseits und Jenseits). Deshalb wird diese Idee im Vergleich zu der von Platon „feiner, verfänglicher, unfasslicher – sie wird Weib, sie wird christlich...“, so Nietzsche.

Der dritte epochale Abschnitt ist die von Kant geprägte Aufklärung. Im Vergleich zur versprochenen „wahren Welt" im zweiten Abschnitt, dem Christentum, ist die im dritten „unerreichbar, unbeweisbar aber schon als gedachte ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ“. Diese wahre Welt scheint schon wieder anders als die des Christentums zu sein: das Versprechen der Erreichbarkeit wird nicht mehr gegeben. Es gibt so eine wahre Welt, die unerreichbar und unentzifferbar ist und sich so von den zwei oben genannten unterscheidet. Obwohl sie unerreichbar und unbeweisbar ist, heißt das aber nicht, dass sie nicht existiert. Vielmehr ist diese wahre Welt das Ding an sich der Kantischen Philosophie. Sie existiert, ist aber nicht erreichbar für die Erkenntnis. Offensichtlich ist Kants Ding an sich unerkennbar, das Übersinnliche wird aber als Gegenstand des Wissens vorgestellt, das Ding an sich existiert also durchaus. Die Unerkennbarkeit seines Wesens heißt nicht die Nicht-Existenz seines Wissens. Es ist nur nicht erkennbar, weil die menschliche Rationalität begrenzt ist. „Selbst außerhalb jeder Erfahrbarkeit und Erweisbarkeit wird es als notwendig bestehend gefordert, um für die Gesetzlichkeit der Vernunft einen zureichenden Grund zu retten“. Offensichtlich sind die unerkennbare wahre Welt und die empirische Welt immer noch getrennt. Weil erstere unerreichbar für die Erkenntnis ist, so Heidegger, „daß das Übersinnliche nicht aufgrund der philosophischen Grundsätze der Erkenntnis in die Kantische Philosophie geraten ist, sondern zufolge unerschütterter theologisch-christlicher Voraussetzungen“. Die Kantische Philosophie steht gewissermaßen immer noch im Schatten des Christentums. Die dualistische Struktur der beiden Zwei-Welten-Lehren ist grundlegend gleich, sie sind nicht ihrem Kern, sondern ihrem Grad nach unterschiedlich. In diesem Sinne ist das Ding an sich in der Kantischen Philosophie die „alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch." Die Philosophie der Aufklärung trennt sich nicht endgültig vom Christentum, sondern ist vielmehr eine in anderem Gewand daherkommende Form desselben.

Den vierten entscheidenden Abschnitt nennt Nietzsche den „Hahnenschrei des Positivismus". Das ist die Kant/Aufklärung-Bewältigung. Wenn die wahre Welt nicht erreichbar und erkennbar ist, warum ist sie noch „tröstend, erlösend, verpflichtend“? „Die wahre Welt – unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten?" Unter der Prämisse, dass diese Welt nicht erreichbar ist, und wir nichts von ihr kennen können, ist es nicht mehr der Rede wert, dass wir von der Attitüde und Pflicht ihr gegenüber reden. Warum sollen wir einer unerkennbaren Welt ein Versprechen geben? Das ist die neue, mit dem deutschen Idealismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Phase. Hier finden wir die Zurückweisung der wahren Welt und des Übersinnlichen. Für die Idee der wahren Welt und die Herrschaft des Platonismus ist diese Zurückweisung tatsächlich ein „grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus." Das ist eine Wende. Die wahre Welt wird bezweifelt und abgelehnt und wir brauchen sie nicht mehr als Trost betrachten. Das ist offensichtlich der Einstieg in die Arbeit und in die frühere Philosophie Nietzsches: die Abschaffung der wahren Welt. Sie ist „eine Idee, die zu nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab!" Nachdem das Unnütze abgeschafft worden ist, folgen der graue Morgen, das Fröhliche und die Freude. Diese philosophische Stimmung Nietzsches kommt in den Titeln seiner Werke zum Ausdruck: Menschliches, Allzumenschliches, Morgenröte, Die fröhliche Wissenschaft. „Trotz der Beseitigung der übersinnlichen Welt als der wahren Welt bleibt noch die Leerstelle dieses Oberen und der Bau-Riß eines Oben und Unten: der Platonismus“. Darauffolgend fragt Nietzsche, „welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht?... Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!" Nietzsche ist nicht einverstanden mit dem Dualismus der scheinbaren und der wahren Welt. Erst nach der Abschaffung der zwei Welten kann man den Dualismus abschaffen und den Platonismus bewältigen. Nachdem diese beiden Welten zugleich abgeschafft worden sind und die Schatten nicht mehr sichtbar, sieht man den Mittag (wir sehen den kompletten Prozess der Geschichte der Philosophie von der Morgenröte bis zum Mittag), den hellsten Höhepunkt, die Abschaffung des ältesten Irrtums bzw. Platonismus, durch welche die Menschheit ihren Höhepunkt erreicht.

So zeigt sich die komplette Geschichte des Platonismus – von der Entstehung bis zum Ende. Kern dieser Geschichte ist die Differenz und der Gegensatz der zwei Welten: Das leitende Prinzip des Dualismus bei Platon ist der Vorrang der wahren Welt gegenüber der scheinbaren. Die beiden Welten werden zuerst im Diesseits unterschieden: eine für die Tugendhaften, die andere für die Untugendhaften (Platon); später steht (im Christentum) eine versprochene jenseitige Seelenwelt der Zukunft einer anderen, irdischen, materiellen Welt der Gegenwart gegenüber; darauffolgend eine unerkennbare und nicht-empirische Welt der empirischen und erkennbaren (Kant); zuletzt steht der Zweifel an der unerkennbaren wahren Welt und ihre endgültige Abschaffung (Nietzsche).

So betrachtet entstammt die Aufklärung in Nietzsches Augen dem Christentum. Sie stellt keine wichtige Wende der europäischen Philosophie dar, sondern das jüngste Echo des Platonismus. In ihrer Bewältigung liegt Nietzsches Arbeit: Mit der Abschaffung der wahren Welt wird die scheinbare Welt ebenfalls abgeschafft; daraus ergibt sich die Aufgabe einer weiteren Kritik der dualistischen Metaphysik insgesamt. Den Platonismus, das Christentum und die Aufklärung zugleich zu bewältigen, ist das Ziel Nietzsches. Nur so wird die Morgenröte zu einem geistesgeschichtlichen Mittag. Tatsächlich ist Nietzsche nicht nur der Pionier im Kampf gegen den Platonismus, er sät zugleich auch Samen gegen die Aufklärung. Auf dieser Basis fußen die Arbeiten Heideggers, Batailles und Derridas sowie Deleuzes.

 

Teil 2

Die oben genannte Analyse geht davon aus, dass die Aufklärung sich als ein philosophisches Modell verstehen lässt. Hat die Aufklärung aber gar nichts gemein mit Nietzsches philosophischer Positionierung? Hat die Aufklärung nicht eben so behauptet, dass Gott tot ist? Entspricht dies nicht gerade Nietzsches „Tod Gottes“?

„Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche Gott! Ich suche Gott!‘ — Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? — so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ‚Wohin ist Gott?‘ rief er, ‚ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, — ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder!‘“

Offensichtlich gibt es mehr als einen Mörder. Auf der einen Seite sucht der tolle Mensch nach Gott, auf der anderen tötet er Gott. Vor dem tollen Menschen gab es bereits einige Leute auf dem Markt, die nicht mehr an Gott glaubten. Paradoxerweise hat gerade derjenige, der nach Gott sucht, Gott getötet; im Gegensatz dazu töten die Ungläubigen Gott nicht, sondern lachen über den Mörder. Obwohl alle Leute nicht mehr an Gott glauben, sind die Gründe des Unglaubens von einem zum anderen unterschiedlich. Wenn man aus unterschiedlichen Blinkwinkeln Gott betrachtet, lässt sich die Ungläubigkeit natürlich auch aus unterschiedlichen Perspektiven begründen. Der tolle Mensch sieht Gott anders als die Leute auf dem Markt, deshalb haben sie verschiedene Gründe, nicht an Gott zu glauben. Wer sind die Menschen auf dem Markt? Sie sind die Zeitgenossen der Aufklärung, und der Markt ist ein Produkt des Zeitalters der Aufklärung. Ihre Ungläubigkeit beruht auf den epochalen wissenschaftlichen Kenntnissen und der rationalen Denkweise der Aufklärung, genauer gesagt, die Nichtexistenz Gottes ist für sie wissenschaftlich beweisbar. Die aufklärerische Rationalität betrachtet Gott als eine Fiktion, eine Erfindung. Da Gott nur eine Fiktion ist, existiert er nicht; deswegen glaubt man nicht an ihn. Aber man denkt gar nicht daran, Gott zu töten — wie kann man jemanden töten, der gar nicht existiert? Anders gesagt, für die Leute auf dem Markt (die Zeitgenossen der Aufklärung) gibt es nur das Problem, ob Gott existiert oder nicht. Die Frage hingegen, ob Gott tot oder lebendig ist, macht für sie keinen Sinn. Die Unterscheidung zwischen Existenz und Nichtexistenz ist eine spekulative These, die mit ihrer Geschichte, ihrer Entwicklung und ihren Handlungen nichts zu tun hat; im Gegensatz dazu ist das Problem des Lebens und des Todes eine dramatische These, die den Prozess der Geburt, des Todes, und der Wiedergeburt, wahrscheinlich später noch des Wiedersterbens einschließt. Das sind „wunderliche Wege“.

Leben und Tod sind einem historischen Drama insoweit ähnlich, als ein turbulentes Ereignis gerade aufgeführt wird. Deshalb befinden sich das Problem der Existenz und das Problem des Todes in zwei unterschiedlichen Dimensionen. Mit anderen Worten, es liegt noch eine große Kluft zwischen Nicht-an-Gott-glauben und Gott-töten. Das ist der Grund, warum die Leute auf dem Markt über den tollen Mensch lachen, der nach Gott sucht und ihn tötet. Die Leute auf dem Markt (die Aufklärer) kommen Gott nicht näher, sie fühlen und suchen Gott nicht, das heißt, sie haben kein historisches Bewusstsein von Gott und sie sehen auch nicht, wie der dramatische Höhepunkt Gottes sich entwickelt. Für sie existiert Gott nicht, anders gesagt, Gott befindet sich außerhalb ihrer rationalen Erkenntnis. Gott ist ein falsches Objekt der Erkenntnistheorie. Die aufklärerische Rationalität glaubt nicht an Gott. Das ist ein Ausdruck des Willens der Wissenschaft und behandelt Gott nicht aus der Perspektive des höchsten Wertes.

Nun ist der Unterschied zwischen den Leuten auf dem Markt und dem tollen Menschen eindeutig. Der tolle Mensch sucht nach Gott, das heißt, er glaubt an Gott und möchte durch den Glauben eine Verbindung mit ihm aufbauen. Er behandelt Gott als einen Wert – wozu sucht er sonst nach Gott? Allerdings hat hiermit auch der Mann, der nach Gott sucht, Gott getötet. Was bedeutet das? Offensichtlich liegt der Grund der Tötung Gottes gerade in der Verbindung zwischen den beiden selbst, weil Gott vom Gottsucher angefunden wird. Gott dient ihm als ein Gegenstand des Suchens und des Glaubens (Der alte Gott…an den alle Welt einst geglaubt hat). Noch wichtiger ist, dass dieser Gott (der alte Gott) so lange gelebt und so großen Einfluss ausgeübt hat, dass Gott als der oberste Wert verstanden wird. Genau in dieser Verbindung wird das Bild von Gott geklärt: es drückt seine Lehre und Funktion deutlich aus. Gerade weil Gott Gegenstand des Glaubens (die Menschen sollen bedingungslos an ihn glauben und ihm folgen), nicht Gegenstand der Erkenntnis ist, muss er getötet werden. Der tolle Mensch hat Gott entdeckt und die Geschichte und Funktion Gottes verstanden. Er begreift Gott als einen Gegenstand des Glaubens, deshalb muss er Gott töten. Es kann auch so formuliert werden: Der getötete Gott ist der vorgefundene Gott, an den geglaubt wird. Er ist das umfassende moralische Prinzip und der höchste Wert zugleich. Hier ist Gott der „Geist“, nicht der Gegenstand der Erkenntnis. Wegen dieser Eigenschaften Gottes, seiner moralischen Funktion und weil er der oberste Wert ist, muss er getötet werden. Gott wird nicht als ein Gegenstand der Erkenntnis getötet und eben aus keinem anderen Grund.

Demgegenüber glauben die vernünftigen Aufklärer nicht an Gott, weil sie erkennen, dass Gott nicht existiert. Das bedeutet aber nicht, dass die Position Gottes für sie leer ist oder der höchste Wert nicht vorhanden ist. Vielmehr können sie eine Alternative dieses Wertes aufstellen und an diesen glauben. Das Nicht-an-Gott-glauben bedeutet also längst noch nicht, dass sie nicht an etwas, z.B. an Rationalität, Gleichheit, Demokratie oder Freiheit usw. glauben. Für die Aufklärer ist all dies Gottes-Ersatz. Deshalb sagt Nietzsche, dass Gott zwar tot ist, aber noch einen langen Schatten hinter sich her schleppt. Wie Leo Strauss gesagt hat: Das Christentum ist gestorben, aber die Religiosität bleibt.

In diesem Zusammenhang sind die Mörder Gottes mehr als eine Person. Nach dem Tod Gottes kommen in Europa verschiedene Arten von Menschen vor – Nietzsche grenzt sich von den Aufklärern ab.

Was passiert in Europa im Zeitalter der Aufklärung nach dem Tod Gottes? Die Menschen strebten nicht mehr nach dem Traum und dem Ziel; sie verzichteten auf die Schmerzen und begnügten sich mit dem alltäglichen Komfort und seinem Behagen; sie wurden nur von dem Trieb der Selbsterhaltung gesteuert: Alle menschlichen Potenziale, alle Initiative, Aktivität und alle Transzendenz wurden aufgegeben. Sie hatten keinen Wunsch, keine Liebe und keine Schöpfungskraft mehr. Aus solchen Menschen konnte kein großer Stern entstehen. Diesen Typus Mensch, der alles Potenzial und alle Initiative ausgerottet hat, nennt Nietzsche den „letzten Menschen“. Er ist glücklich, deshalb wünscht er sich keine Entwicklung, kein Wachstum, keinen Aufschwung; er badet im mittelmäßigen Komfort: „Was sie mit allen Kräften erstreben möchten, ist das allgemeine grüne Weide-Glück der Herde, mit Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Erleichterung des Lebens für jedermann; ihre beiden am reichlichsten abgesungnen Lieder und Lehren heißen ‚Gleichheit der Rechte‘ und ‚Mitgefühl für alles Leidende‘ – und das Leiden selbst wird von ihnen als etwas genommen, das man abschaffen muß.“ Sie sind in der Tat eine „Herde ohne Schäfer“: „Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus.“ Der letzte Mensch ist ein Sklave des modernen Gedankens. Zwar ist er kein Pessimist, aber er ist ein schwacher Mensch, da die Selbsterhaltung zu keinem Wachstum, sondern zur Erschöpfung und zum Rückgang führt. „Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.“ Der letzte Mensch ist genau der Mensch im Zeitalter der Aufklärung, das mittelmäßige Volk im System der liberalen Demokratie. Nietzsche ist davon überzeugt, dass die moderne Demokratie zu keiner Emanzipation der Sklaven führt, sodass sie ihre eigenen Meister werden, sondern zu einem vollständigen Sieg der Sklaven und der Sklaven-Moral. Die typischen Bürger der liberalen Demokratien sind alle letzte Menschen, die vom modernen Liberalismus geschaffen werden. Er widmet seine Überlegenheit der komfortablen Selbsterhaltung. Die liberale Demokratie gestaltet eine Art von Menschen, die eine Kombination aus Begierde und Vernunft ist, doch ohne Potenzial. Durch die Berechnung langfristiger Interessen befriedigt er geschickt auf eine neue Weise eine große Menge kleiner Bedürfnisse des Augenblicks. Den Wunsch, als eine größere Persönlichkeit als die anderen anerkannt zu werden, hat der letzte Mensch nicht, deshalb hat er auch kein Ehrgefühl und Erfolgsgefühl. Er ist ganz in seinem Glück versunken und schämt sich nicht, dass er seine Wünsche nicht erfüllen kann. Deswegen ist der letzte Mensch „kein Mensch mehr.“ Das ist in der Tat das Menschenbild der Aufklärung. Nietzsche nennt es „Herde“.

Neben dem „letzten Menschen“ gibt es noch den pessimistischen Menschen, der von einer Art passivem Nihilismus geprägt ist: Da alle Werte der Welt entwertet sind, hat alles seinen Sinn verloren. Das Leben hat nun weder einen übergreifenden Wert noch ein Ziel, d.h. es will nicht mehr, bejaht sich nicht mehr. Es ist wahrscheinlich „ermüdet, erschöpft“ und findet nie das richtige Ziel. Anders als der letzte Mensch ist es weder glücklich noch behaglich. Statt des Glücks der Schafherde ist es pessimistisch gestimmt und äußerst überdrüssig. Die Selbstverleugnung des Lebens bedeutet den Niedergang und Rückgang der Macht des Geistes; und die Entwertung der Werte führt direkt zur Entwertung des Lebens. Ohne die Willen erregenden Werte und Ziele weiß es nichts zu tun, außer nach Betäubung und Trost zu suchen. Der Buddhismus stellt eine typische Art des passiven Nihilismus dar. Das ist auch der Weg Schopenhauers: Er hat den Glauben an Gott gelöst und zugleich den Sinn des Lebens und des Seins negiert. Das ist die Negation des Lebens durch sich selbst, die aber die gleichen Folgen hat wie die Negation des Lebens durch die obersten Werte – in beiden Fällen wird das Leben verneint. Daher ist Schopenhauer immer noch „ein Stehen- und Steckenbleiben in eben den christlich-asketischen Moral-Perspektiven“. Ein solcher Nihilismus ist in der Tat der Pessimismus, „der müde pessimistische Blick, das Misstrauen zum Rätsel des Lebens, das eisige Nein des Ekels am Leben“ – All dies sind Nachfolgen der christlichen Moral: Die Verneinung des Irdischen und des Lebens. Während das Christentum dabei ein jenseitiges Himmelreich zu Hilfe nimmt, verneinen die Schopenhauerschen Pessimisten die irdische Welt durch Selbstverleugnung. Diese dekadenten Pessimisten sind die zweite Art von Menschen, die nach dem Tod Gottes hervorgebracht wurde.

Es gibt jedoch noch eine dritte Art von Menschen: Die Entwertung der Werte führt nicht zwangsläufig zum Pessimismus, sondern kann auch einen positiven Pessimismus bewirken. „Nun wissen wir schon die schändliche Herkunft dieser Werte, deshalb scheint alles wertlos, sinnlos zu sein…, aber das ist nur ein Übergang“. In welchem Sinne stellt das nur einen Übergang dar? Da alle bisherigen obersten Werte aufgehoben sind, kehrt alles zu einem neuen Anfang zurück, zu einem Zustand ohne jeden Wert. Wenn dieser Zustand nicht zwangsläufig zum Pessimismus der Selbstverleugnung führt, wenn der Mensch nicht in der Euphorie glücklicher Selbstgefälligkeit zum letzten Menschen wird, dann kann dieser wertfreie Zustand als ein Zustand der Leere von neuen Möglichkeiten erfüllt sein, d.h. Möglichkeiten neuer Wertsetzungen. In diesem Sinne bedeutet die Absetzung der bisherigen obersten Werte eine Art Befreiung – der Mensch wird die einstigen Lasten und Ziele los, wird unbelastet und frei; sie bedeutet die Möglichkeit der Neugeburt nach dem Tode Gottes sowie die Möglichkeit aktiver Schöpfung des Lebens. Kann das Leben neue Werte schöpfen, die anders sind, als die alten Werte Gottes? Gerade in diesem Sinne wird die Entwertung bisheriger oberster Werte zu einem Übergang, der neue Werte errichtet. Auf diese Weise können wir die positive Einschätzung des Nihilismus durch Nietzsche verstehen. „Der Nihilismus nimmt unsere Hilfe in Anspruch, um alles zu zerstören… der Nihilismus ist ein Zustand vom eisernen Geist und Willen“. Der Nihilismus ist die Zerstörung vor der Schöpfung, die als die notwendige Bedingung und Voraussetzung der Schöpfung dient. Es kann „produktiv sich nun auch wieder ein Ziel, ein Warum, einen Glauben setzen.“ Solcher Nihilismus ist „Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes“. Wenn Gott tot ist, bedeutet die Entstehung des positiven Nihilismus das Aufkommen des Übermenschen. Während der Tod Gottes in der Aufklärung den letzen Menschen erscheinen lässt, ruft er bei Nietzsche umgekehrt den Übermenschen hervor. Das Ergebnis der Aufklärung ist nicht die Abtrennung von Gott, denn es besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen dem letzten Menschen und dem Christen, weil beide die Sklavenmoral teilen. Nur Nietzsche setzt der Sklavenmoral die Herrenmoral entgegen. Der Streit zwischen Herren und Sklaven ist der Streit zwischen den beiden Arten von moralischen Werten. Für die Aufklärung ist die Wertanschauung des letzten Menschen auch die der Herde, die eine reaktionäre Wertanschauung ist.

 

Teil 3

Was ist der Kern dieser Wertanschauung? In der Genealogie der Moral beschreibt Nietzsche den Kampf der beiden Wertanschauungen in der europäischen Geschichte. Seit dem Juden- und Christentum beginnt der Sieg der sklavischen Wertanschauung, die trotz vorübergehender Unterlegenheit in der Renaissance die politischen Aristokraten Europas in der Epoche der Aufklärung wieder besiegt hat: alle Menschen sind gleich, die Mehrheit hat das Privileg. Die moralischen Ideale der Sklaven haben wieder gewonnen (das Christentum gilt als die Vorbereitung und Vorankündigung dieser Bewegung). Napoleon ist derjenige, der die Situation erstaunlicherweise umgekehrt hat – die Herrschaft der Minderheit verkommt und das noble Ideal tritt wieder auf. Aber die Demokratie der Moderne hat letztendlich die Herren wie Napoleon begraben – die sog. herrschende Moral der modernen Ideen wird von Nietzsche als niedrige Sklavenmoral verachtet, als die Moral der Herdenmenschen und der Masse. Hochmütige und abenteuerliche Individuen werden von der Gesellschaft geringgeschätzt, während die mittelmäßige Herde gewürdigt wird. „Die Herde ist Mittel, nicht mehr! Aber jetzt versucht man, die Herde als Individuum zu verstehen und ihr einen höheren Rang als dem Einzelnen zuzuschreiben, – tiefstes Missverständnis!!! Insgleichen das, was herdenhaft macht, die Mitgefühle, als die werthvollere Seite unserer Natur zu charakterisieren!“ Die Wertanschauungen der modernen Gesellschaft – egal ob Liberalismus oder Sozialismus – sind alle sklavisch. In diesem Punkt unterscheiden sich Christentum und europäische Aufklärung nicht. Die demokratisch-aufklärerische Bewegung hat den Angriff gegen das Christentum nie beendet. Trotzdem sind die beiden aus der Perspektive Nietzsches in manchen entscheidenden Hinsichten miteinander einig: die Herrschaft der Sklavenmoral, die Betonung der Gleichheit – die Gleichheit vor Gott im Christentum und die Gleichheit vor dem Gesetz in der aufklärerischen Demokratie, die Negation der Hierarchie, keine Distanz zwischen den Menschen, die Ablehnung der Gewalt, des Abenteuers und der Ausbeutung, die Betonung des Mitleids, der Liebe und der Uneigennützigkeit, mit einem Wort, der Niedergang der Kraft und die Herrschaft der décadence. All dies läuft Nietzsches Forderung an die Adligen und seiner Moraleinstellung zuwider. Die christliche Moral ist Sklavenmoral, während „das demokratische Europa nur auf eine sublime Züchtung der Sklaverei hinausläuft“.

Das moderne Europa erstreckt sich auch auf der vom christlichen Europa gelegten Bahn der Sklavenmoral. Warum kämpft Nietzsche gegen die aufklärerische Modernität? Die Modernität verkündet den Tod Gottes, bleibt aber immer noch im Schatten Gottes und wandelt im Geiste des Platonismus und des Christentums. Der von der Modernität neu produzierte Wein der Aufklärung befindet sich noch in der fast zweitausend Jahre alten Flasche des Platonismus und des Christentums. In gewissem Maße sind die Kraftlosigkeit und die Sinnlosigkeit der Menschen der demokratischen Aufklärung im Vergleich zur Epoche des Christentums sogar schlimmer geworden: „[I]st nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung seit Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte? Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin – er ist Tier geworden, Tier, ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott (‚Kind Gottes‘, ‚Gottmensch‘) war... Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? ins Nichts? ins ‚durchbohrende Gefühl seines Nichts‘?“

 

Übersetzung von: Zhang Shuo, Zhu Kejia, Cheng Lin


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(Alle Fußnoten in der pdf)

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