Springe direkt zu Inhalt

Jahrestagungsbericht „No Masters! Anarchismus und Literatur“

Autor*innen: Nastasja Sergeeva, Djorde Kandic, Mahamadou Famanta, Raphaëlle Efoui-Delplanque

Die FSGS-Jahrestagung 2022 mit dem Titel No Masters! Anarchismus und Literatur, die am 4. November stattfand, ging der Frage nach, wie sich die Idee des Anarchismus in literarischen Formen und Praktiken niederschlägt. Der Keynote-Vortrag und fünf Beiträge in zwei Panels brachten diverse Perspektiven auf das Verhältnis von Anarchismus und Literatur, Philosophie, Gesellschaft und Theater zusammen. Zwei künstlerische Performances haben die Tagung gerahmt und eine Möglichkeit gegeben, Entstehungs- und Funktionsprinzipien einer anarchistischen Poetik vor Augen zu führen. Zum Abschluss der Tagung gewannen die Teilnehmenden und Gäste der Podiumsdiskussion einen Blick hinter die Kulissen der künstlerischen anarchistischen Praktiken. Neben den Mitgliedern und Alumni der Schlegel-Schule nahmen an der Tagung auch Forschende teil, die sich schon lange mit den anarchistischen Ansätzen in der Literaturwissenschaft auseinandersetzen. Während der Tagung wurde eine Reihe von interdisziplinären Beiträgen an der Schnittstelle zwischen Literaturtheorie und Philosophie, Geschichtswissenschaft und Anthropologie, Politik- und Theatergeschichte und Anarchismus vorgestellt.

Die Schlüsselfrage der Tagung zeigte sich im Keynote-Vortag, gehalten von Christine Magerski (Universität Zagreb), mit dem Titel Herrschaftsfreies Schreiben? Zur Möglichkeit einer anarchistischen Poetik. Als Expertin für die anarchistische Moderne führte Magerski die Teilnehmenden ins Thema ein, indem sie auf die Definitionen von Anarchie, Anarchismus und anarchistischer Literatur einging und einen historischen Forschungsüberblick bot. Am Beispiel der umstrittenen These von Paul Feyerabend „Anything goes“ erörterte Magerski die Theorie hinter einer anarchistischen Methodologie und ihre häufig übersehenen Aspekte und sprach darauf basierend darüber, ob und wie eine anarchistische Methodologie angewendet werden könnte.

Zum künstlerischen Auftakt der Tagung stellte das Kollektiv “Kreativer Anarchismus” sein Projekt mit dem Titel Û∞ – Berlîn: Eine kreativ-anarchistische urbane Flucht-Chronik vor. Das Projekt des Dichters und Übersetzers Abdulkadir Musa und der transdisziplinären Künstlerin Marta Sala beschäftigt sich mit der Entwicklung der neuen, sich den überlieferten Vorgaben entziehenden künstlerischen Formen. Die Präsentation des Projektes umfasste Berichte über die im Rahmen des Projekts stattgefundenen Veranstaltungen sowie Audio- und Video-Auszüge aus der Flucht-Chronik. Sie veranschaulichte die Entstehung der Texte und anderer Medienformen mit einem Anspruch auf ästhetische Autonomie und bot den Teilnehmenden die Möglichkeit an, Merkmale einer kreativ-anarchistischen Poetik ausfindig zu machen.

Das erste Panel eröffnete Andreas Schmid (University of Oxford) mit seinem Beitrag Anything Goes – Everywhere? Literary Theory after Anarchist Anthropology, der ausgehend von Arbeiten David Graebers, Umberto Ecos und Paul Feyerabends einen spielerischen Vorschlag zu möglichen “Fragments of an Anything Goes kind of Anarchist Anthropology of Western Literary Theory” bot. Dabei ging er auf die Zirkulationsgeschichte des Textes “Toto-Vaca” von seinem Maori-Ursprungskontext bis in das “Dada Almanach” ein. Wenn die Situiertheit der westlichen Literaturtheorie deutlich wird, entstehe auch die Möglichkeit einer nicht eurozentrischen Literaturanalyse. So würde zum Beispiel der Blick auf Maori-Perspektiven gelenkt werden können – nicht nur in Hinsicht auf das Toto-Vaca Gedicht, wie es von Tristan Tzara im Dada-Almanach veröffentlicht wurde, sondern auch auf kanonische Texte der westlichen Literatur.

Im Anschluss daran wandte sich das Gespräch wieder den anarchistischen Phänomenen der Avantgarde zu. Carolin Kosuch (Georg-August-Universität Göttingen) stellte in ihrem Beitrag Anarchismus trifft Lebensreform: Erich Mühsam auf dem Monte Verità anarchistisches Denken mit der Ausrichtung auf die rebellische Utopie im Zusammenhang mit der generationellen Erfahrung am Beispiel vom Leben und Werk Erich Mühsams vor. Ihr Vortrag machte deutlich, wie persönliche Erfahrungen und Selbstpositionierung des Autors auf anarchistische Gemeinschafts- und Zukunftsvisionen einwirken, was ein anschauliches Beispiel für eine der Fragen, die die Tagung aufwarf, gegeben hat.

Einen Ausflug in die benachbarten Ideenfelder ermöglichte DS Mayfield (Universität Heidelberg) mit seinem Vortrag Anarchic Content, Artful Discourse. Concerning the Interplay of Chaotization and Order in Cynicism. In seinem Vortrag ging Mayfield den überlieferten Strategien der Zyniker und insbesondere des Diogenes nach, mit denen sich diese der Herrschaft des Gesetzes nicht nur zu entziehen trachteten, sondern auch eine Autonomisierung und Souveränität des eigenen Selbst anstrebten. Sind die den Zynikern zugeschriebenen Ideen und Begebenheiten meistens in Anekdoten überliefert, so entfaltet sich dadurch ein interessantes Spannungsfeld, das zur Untersuchung des narrativen Charakters, der Überlieferungswege sowie der übersetzerischen Leistung in Bezug auf die Anekdoten der zynischen Selbstbehauptung anregt.

Unter dem Titel The Theatrics of Free Expression: How Emma Goldman Promoted Anarchism in Theater and Theater in Anarchism trug Elise Naceur anschließend – ausgehend von einem Artikel Candace Falks – über die Verbindung zwischen Theater und Anarchismus vor. Dabei ging sie zunächst auf Goldmans Definition des Anarchismus und deren Kontext ein, um anschließend zu beschreiben, wie Goldman ihr eigenes Auftreten theatralisch gestaltete. Dass dramatische Elemente dabei eine politische Wirkung erzeugen sollten, wurde unter anderem am Beispiel eines Gerichtsprozesses deutlich, den Naceur und Falk näher beschrieben haben. Im Gegenzug zeigten sie anhand der Schrift “The Social Significance of the Modern Drama”, dass Goldman dem Theater eine revolutionäre Rolle zuschrieb, die sie zum Beispiel in Stücken von Eugène Brieux’s oder Henrik Ibsens erkannte.

Am Abend kamen die Wissenschaftlicher*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen Jule Govrin, Julio Linares, Dennis Shep und Cassie Thornton zur Podiumsdiskussion Anarchism as Sensibility zusammen. Im Gespräch erörterten sie, was eine anarchistische Sensibilität ausmachen könnte. Ausgehend von der eigenen Arbeit berichteten sie unter anderem über die anarchistischen Elemente ihrer Praxis in Bereichen der Kunst, des Geldes bzw. alternativer Ökonomien, sowie der Gesundheit bzw. eines alternativen Gesundheitssystems. Dabei wurde deutlich, dass die anarchistische Sensibilität keineswegs eine individualistische Praxis zur Voraussetzung hat; im Gegenteil insistierten die Panelist*innen auf den kollektiven und politischen Aspekten ihrer Arbeit. Durch die Beispiele, die sie aufgriffen, zeigte sich zudem eine internationale Vernetzung und das anarchistische Potential für Perspektivenwechsel außerhalb der eurozentrischen Linse.

Zum Abschluss fand die Performance The Momentary Lapse of Speech statt, organisiert vom FSGS-Doktoranden und Mitglied des EXC Temporal Communities Omid Mashhadi Abdolrahman und seinen Kolleg*innen vom künstlerischen Kollektiv Un-formula. Dabei erprobten und erkundeten sie an den Grenzen der Sprachfähigkeit neue Formen sprachlichen Ausdrucks, der sich von jeglichen festgelegten Normen abzulösen versucht.

Zur Website Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften
GeschKultLogo
Dahlem Research School
Deutsche Forschungsgemeinschaft
logo einstein grau