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Rilkes Sonette an Orpheus

Rilke Sonette an Orpheus

Rilke Sonette an Orpheus

Christoph König-Louisa Künstler

Christoph König-Louisa Künstler

Christoph König-Irene Albers

Christoph König-Irene Albers

Teilnehmer

Teilnehmer

Caroline Torra-Mattenklott (3. v. rechts), Teilnehmer

Caroline Torra-Mattenklott (3. v. rechts), Teilnehmer

Lecture cum Seminar mit Prof. Dr. Christoph König

Datum: 5.– 6.01.2017
Ort: FU Berlin, Raum JK 33/121
Planung und Organisation: Prof. Dr. Caroline Torra-Mattenklott, Prof. Dr. Irene Albers, Louisa Künstler

Abendvortrag
"Die Arbeit am Sinn in Rainer Maria Rilkes Gedichten. Zum Potenzial einer kritischen Hermeneutik"

Datum: 5.01.2017
Ort: Seminarzentrum der FU, Raum L116

Workshop
Rilkes Sonette an Orpheus. Lecture à plusieurs

Datum: 6.01.2017
Ort: FU Berlin, JK 33/121
Kontakt: Louisa Künstler

Die Sonette an Orpheus entstanden im Jahr 1922. Rilke hatte sich ins Chateau de Muzot in der Schweiz zurückgezogen, um die lange unterbrochene Arbeit an den Duineser Elegien fortzusetzen. Will man Rilkes brieflichen Aussagen Glauben schenken, erlebte er hier einen Schaffensrausch, in dessen Zuge er nicht nur die Elegien vollendete, sondern auch – in insgesamt nicht einmal vierzehn Tagen – die 55 Sonette an Orpheus aufs Papier warf. Sie waren der letzte Gedichtzyklus, den Rilke veröffentlichen sollte. Während in der Rilke-Forschung lange die Elegien im Fokus der Aufmerksamkeit standen, gelten inzwischen die Orpheus-Sonette als der „poetisch avanciertere und ästhetisch radikalere Teil der lyrischen Doppelproduktion“ (Wolfram Groddeck). Für manche bilden sie gar die „Summa poetica Rilkes“ (Dietrich Bode).

Zugleich aber werden die Sonette an Orpheus als das vielleicht am schwersten zugängliche Werk Rilkes eingeschätzt. In der Rilke-Forschung ist die Auffassung verbreitet, dass sie sich in ihrer semantischen Offenheit, ja Dunkelheit, gegen eindeutige Sinnzuschreibungen und gegen Auslegungen, die Ausschließlichkeitscharakter beanspruchen, zur Wehr setzten. Ist die obscuritas der Gedichte Programm – oder wird sie von der Rilke-Forschung ins Feld geführt, um die Beliebigkeit von Interpretationen zu rechtfertigen?

Die Sonette an Orpheus und Fragen ihrer Interpretation hatte eine „Lecture cum seminar“ mit Prof. Dr. Christoph König (Universität Osnabrück) zum Gegenstand, die am 5. und 6. Januar an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule stattfand. Organisiert wurde die Veranstaltung mit öffentlichem Vortrag und anschließendem Workshop von Prof. Dr. Caroline Torra-Mattenklott (RWTH Aachen), Prof. Dr. Irene Albers (FUB/FSGS) und Louisa Künstler (FUB/FSGS).

Christoph König hat im Jahr 2014 eine Monografie zu Rilkes Sonetten vorgelegt, in der er die zu einer Vielzahl möglicher Interpretationen einladende semantische Ambivalenz der Gedichte bestreitet. Die Grundhaltung des in „O komm und geh“. Skeptische Lektüren der „Sonette an Orpheus“ (Wallstein) entworfenen Lektüreprogramms einer ‚kritischen Hermeneutik‘ kommt in einer durchaus provokanten Aussage des französischen Philosophen Jean Bollack zum Ausdruck, die dem Buch in programmatischer Absicht vorangestellt ist: „Die Syntax bietet keine Zweideutigkeit.“ In polemischer Wendung gegen die dekonstruktivistische „Entfesselung von Bedeutungen“ (S. 11) entwirft König das Modell einer linear fortschreitenden, ‚schließenden‘ Lektüre ‚Gedicht für Gedicht‘.

Diese Lektüreposition und die Grundannahmen seiner Lesart der Sonette erläuterte Christoph König in einem öffentlichen Abendvortrag anhand einer Lektüre des 29. Sonetts des zweiten Zyklus-Teils, O komm und geh. Grundlegend für seine Lektüre ist die Annahme, dass Rilke innerhalb des Zyklus eine neue, eigene Sprache kreiert, indem er Wörter der Alltagssprache im Verlauf des Zyklus re-semantisiert. Die zyklusinterne „Idiomatik“ verbiete daher eine Auslegung der Gedichte im Rekurs auf die alltagssprachliche Semantik der Worte ebenso wie die Einbettung dieser „Sprech- und Denkformen“ in die wechselnden Erkenntnis- und Erfahrungshorizonte zeitgenössischer wie späterer Leser. Zu oft würden Rilke-Leser, so Königs Kritik, zu „Opfern ihrer eigenen Begrifflichkeiten“. Hinzu komme, dass Rilke Denktraditionen seiner Zeit wie Esoterik oder ‚neue Mythologie‘ zwar aufgreife, seine Gedichte aber nicht in ihren Dienst stelle. Existenzphilosophische, religiöse oder mythopoetische Lesarten der Gedichte etwa stehen damit für König zur Disposition. So seien die Gedichte nicht etwa als Versuch zu verstehen, die Kraft des Mythischen in der Moderne wieder zu reaktivieren. Nicht als orphische Dichtung liest König den Zyklus, sondern als eine Reflexion über dichterische Inspiration und Kreativität, die auf die Frage hinlaufe, unter welchen Bedingungen das lyrische Subjekt ‚heute noch‘ Zugang zu Orpheus erhalten könne.

Als eine wichtige Quelle für dieses mit neuen Bedeutungen angereicherte Sprachmaterial identifizierte König Paul Valérys Dialog L’Âme et la danse (dt. Die Seele und der Tanz), den Rilke 1921 ins Deutsche übertragen hatte – und der – dies am Rande – auch thematische Parallelen zum Orpheus-Zyklus aufweist. Als eine andere Quelle will er die Korrespondenz Rilkes, speziell jene mit seiner weiblichen Leserschaft, verstanden wissen. In diesem Kontext entstehe eine spezifische Sprache, die Rilke im Zyklus übernehme. In der anschließenden Diskussion wurde vonseiten des Publikums darauf hingewiesen, dass Rilkes spezifisches Vokabular sich insbesondere auch innerhalb seines literarischen Werkes und im Verlauf unterschiedlicher Werkphasen ausgebildet habe und Referenzen daher auch im frühen und mittleren dichterischen Werks Rilkes zu suchen seien.

Das Gespräch über die dargestellten Lektüreprämissen wurde in einem zweiteiligen Workshop am nächsten Tag fortgesetzt. Gegenstand der durchaus kontrovers geführten Debatte war dabei unter anderem die von Christoph König behauptete monarchische Autorität des großen literarischen Werks, aus der die Legitimation einer selbst autoritativen Interpretation abzuleiten sei. Das Gedicht als „Subjekt“ bestimme die Möglichkeiten seiner Auslegung selbst. In seinem Rilke-Buch spricht König gar von einer „Zwangslektüre“ (S. 31), die das Gedicht aufgebe und der sich der Leser zu unterwerfen habe. Das Programm einer eng an das sprachliche Material, an Syntax und Komposition gebundenen Lektüre, die die Autorität des Gedichtes gegen die Vereinnahmung durch die Interpreten in Stellung bringt, stieß auf Zustimmung. Hinterfragt wurde aber Annahme, dass die ‚Syntax‘ tatsächlich eindeutige Anhaltspunkte für eine bestimmte Auslegung der Sonette bereitstelle. Anhand einiger Stellen aus dem Orpheus-Zyklus wurde von Teilnehmer*innen dargelegt, dass auch bei strenger Verpflichtung auf die syntaktische Struktur durchaus mehrere Interpretationen legitim wären.

Dem Workshop vorausgegangen waren eine Reihe von Lektüresitzungen, in denen sich Studierende und Doktorand*innen unter Leitung von Caroline Torra-Mattenklott und Louisa Künstler mit ausgewählten Gedichten des Zyklus und unterschiedlichen Interpretationsansätzen befasst hatten. Gesa Jessen, Daniel Schebesta (beide Peter-Szondi-Institut) und Christian Steinau (FSGS) informierten aus diesem Zusammenhang heraus in kurzen Impulsreferaten über die Lektüren der Gruppe und formulierten weiterführende Gedanken und Fragen zu einzelnen Gedichten. Mit Bezug auf das Sonett I.1 (Da stieg ein Baum …) wurde einerseits die Plausibilität einer mythologischen und intertextuellen Lektüre diskutiert. Gefragt wurde unter anderem, wie notwendig der Rückbezug auf den antiken Orpheus-Mythos und seine literarische Gestaltung in Ovids Metamorphosen für das Verständnis der Sonette an Orpheus sei. Ausgehend von Manfred Franks Lektüre der Sonette in seiner Studie zur ‚Neuen Mythologie‘ (1988) wurden die Bedeutung und der Stellenwert des Orpheus-Mythos für Rilkes Gedichtzyklus eruiert. Mit Blick auf einzelne Motivkomplexe, Themen und Eigennamen wurde erörtert, inwiefern diese als intertextuelle Verweise oder als Bestandteile eines zyklusimmanenten Bedeutungssystems gelesen werden können oder sollen. Ausgehend vom Sonett I.11 („Reitersonett“) wurde anschließend die Ergiebigkeit einer rhetorischen Lesart (vgl. Paul de Man 1979; Wolfram Groddeck 1999) der Sonette diskutiert – eine Lektüre, die sich durch den gezielten Rekurs auf bestimmte Tropen und rhetorische Figuren in einzelnen Sonetten bzw. die Hinweise auf die figurativen Qualitäten der poetischen Sprache an sich rechtfertigen ließe. Mittels bestimmter Redefiguren schaffe Rilke, so wurde z.B. mit Blick auf die Figur des Apokoinu im Sonett II.29 (4. Vers, 3. Zeile) argumentiert, womöglich ganz bewusst gerade nicht semantische Ein-, sondern Mehrdeutigkeit.

Gegenstand der Diskussion waren darüber hinaus Interpretationen ausgewählter Sonette des Orpheus-Zyklus, die aus dem Arbeitszusammenhang des von Christoph König geleiteten Peter Szondi-Kollegs hervorgegangen waren. Mitglieder des Kollegs nahmen an dem Workshop teil und diskutierten mit den Teilnehmer*innen über die Modalitäten ihrer kollektiven Lektüre (Lecture à plusieurs) des Zyklus, deren Ergebnisse in dem Sammelband „Die Sonette an Orpheus“ von Rilke. Lektüren (hg. von Christoph König und Kai Bremer, Wallstein 2016) publiziert wurden.

Schließlich stellte Louisa Künstler eine ausgehend vom Sonett II.14 (Siehe die Blumen …) eine auf weitere Teile des Zyklus ausgreifende Lektüre zur Diskussion. Im Zentrum standen Überlegungen zur konzeptuellen Relevanz der in den Gedichten allgegenwärtigen Polarität von Leichtigkeit und Schwere für die textimmanent formulierte Poetologie. Den Zyklus durchziehe eine in unterschiedlichen Motivkonstellationen zum Ausdruck gebrachte Kritik an der Tendenz „Verzweckung“ (Ernst Leisi) der Dingwelt und den Versuch ihrer Beherrschung durch begriffliche Vereindeutigung. Beide Tendenzen würden von Rilke mit der Eigenschaft der Schwere belegt. Hiervon hebe sich die im Zyklus evozierte ‚leichte‘, autonome und schwebende Welt des Poetischen ab. Zugleich werde mit dem Attribut der Leichtigkeit eine Haltung der Interesselosigkeit und Naivität versehen, die innerhalb der Sonette als Bedingung poetischer Produktion ausgewiesen werde.

Die von Rilke gebrauchte poetologische Metapher des Schwebenden wirft – wie der Orpheus-Zyklus überhaupt – grundlegende methodologische Fragen auf. Welche Konsequenzen hätte eine solche immanente Poetik für die Auslegung der Sonette? Könnte das von Christoph König vorgeschlagene Lektüremodell eine Absicherung gegen die ‚Verzweckung‘ der Gedichte durch von externen Interessen geleitete Interpretationen sein? Oder verwehrt sich der Zyklus gerade einer solchen, auf Vereindeutigung zielenden Lektüre, weil sie den schwebenden Charakter der Gedichte zerstörte? In jedem Fall hält Rilkes Orpheus-Zyklus dazu an, die im Kontext der Lecture cum seminar aufgeworfenen Überlegungen zum Verhältnis von immanenter Poetik und hermeneutischer Interpretation weiterzudenken.

Bericht: Louisa Künstler

Mitarbeit: Gesa Jessen

 


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