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Psychologische Ästhetik an der Jahrhundertwende (1860–1930): Zwischen Psychologismus und Formalismus

Datum: 10.–11.06.2016
Ort: FU Berlin, Raum JK 33/121
Planung und Organisation: Willi Reinecke und Serge Tchougounnikov
Plakat

 Diese internationale Konferenz (FU, Berlin, 10-11 Juni 2016) wurde in Zusammenarbeit von der FU (Willi Reinecke) und von der Universität Dijon (Serge Tchougounnikov) organisiert. Sie zielte darauf, die Rolle der psychologischen Grundlagen formalistischer Modelle zu untersuchen, den Beitrag der mentalistischen Psychologie zur aufkommenden Ästhetik dieses Typs und die Beziehungen zwischen dem formalistischen Ansatz und den Forschungsprogrammen der zeitgenössischen Psychologie und der zeitgenössischen Ästhetik aufzuzeigen. Die Konferenz setzte drei thematische Schwerpunkte: 1. Psychologie, psychologische Ästhetik, Formalismus; 2. Formalismus in den russischen und deutschsprachigen Traditionen; 3. Vygotskij zwischen Formalismus und Gestaltpsychologie.

Galin Tihanov (London) hat in seinem Vortrag “Quantitative Methods in (Para-)Formalism” den Fall des russischen “Para-Formalisten” Boris Jarcho analysiert. Jarchos quantitative oder statistische Methoden verortete Tihanov dabei an der „Peripherie“ des russischen Formalismus, wobei die Verbindungen von formaler Textanalyse und Psychologismus herausgearbeitet wurden. Die “large literary complexes”, rein quantitative Unterschiede zwischen literarischen Kanons und größeren literarischen Epochen, Kategorien wie „explicit action“ vs. „implicit action“ tragen zum Abbau eines psychologischen Autorbegriffs bei. Jarchos Anspruch auf Objektivität steht dabei laut Tihanov für eine Angleichung der Literary Studies an die Sciences.

Nikolaj Plotnikov (Bochum) analysierte in seinem Vortrag „Alternativen zur psychologischen Ästhetik in der Kunsttheorie der GAChN“ die im Kontext der Staatlichen Akademie der Kunstwissenschaften (GAChN) geführte Debatte der 1920er Jahre. Mit Špets Auffassung entstand eine philosophische Alternativkonzeption mit einem antipsychologischen Zug und dem Anspruch, ein integratives Konzept der Kunstwissenschaften nun im Rahmen einer phänomenologischen Ästhetik zu entwickeln. Als Alternative zu einer naturwissenschaftlich fundierten psychologischen Ästhetik bildet sich im Rahmen des Špet-Kreises das Konzept einer Charakterologie heraus, als Integration psychologischer Forschung in ein neues kulturphilosophisches Verständnis ästhetischer Subjektivität.

In seinem Vortrag “Formgefühl: Genealogical and typological analysis of a concept between psychology, aesthetics, and epistemology (1850–1910)” hat David Romand (Paris) die Herkunft und Verwendung des Begriffs „Formgefühl“ rekonstruiert und die semantische und terminologische Komplexität  kommentiert. Er hat dabei insbesondere die psychologische Relevanz dieses Begriffs unterstrichen und herausgearbeitet, welche Rolle dieser in formalistischer Ästhetik und Psychologie der Affekte im 19. Jahrhundert und darüber hinaus gespielt hat.

Bernadette Collenberg-Plotnikovs (Hagen/Münster) Vortrag „Kunst als ‚objektive Tatsache‘ und ‚sinnvolle Form‘. Zur Psychologismus- und Formalismuskritik in der Allgemeinen Kunstwissenschaft“ war der Abgrenzung zwischen der Ästhetik und der „allgemeinen Kunstwissenschaft“ (Dessoir, Utitz) gewidmet. Konrad Fiedler hat eine der Ästhetik traditionell zugesprochene Kompetenz zur Erschließung von Kunst zurückgewiesen. Diese Aufgabe fällt vielmehr der Kunstwissenschaft zu, die von der Ästhetik kategorial zu unterscheiden ist. Die Kunstwissenschaft muss das Kunstwerk (bei Fiedler: die Malerei) als das thematisieren, was seine eigentümliche Qualität ausmacht. An die Stelle von Fiedlers strikt immanent konzipiertem Formalismus tritt in der Allgemeinen Kunstwissenschaft (die ‚sinnvolle Form‘ bei Utitz) die Bestimmung der Kunst als jeweils in einer historischen Kultur positionierte Funktion.

Patrick Flack (Prag) hat in seinem Vortrag “Emil Utitz in context” die vielfältigen Quellen des Philosophen Emil Utitz (1883–1956) diskutiert. Das Werk von Utitz ist eine kritische Auseinandersetzung mit u.a. Brentano, der Gestaltpsychologie, Neo-Kantianismus, Herbartianismus und Phänomenologie. Flack situierte die Position von Utitz im dynamischen Kontext der Prager Ästhetik (Prager Philosophischer Kreis mit u.a. Patočka).

Der russisch-ukrainische Philologe Potebnja und die sogenannte Schule von Charkov war Gegenstand von Alexander Dmitrievs (Moskau) Vortrag “Kharkov School and Beyond: the Heritage of Potebnja and Psychological Aesthetics”. Die verschiedenen Strömungen innerhalb dieser Schule  rund um die Schüler Potebnjas ab den 1890er Jahren wurden dabei beleuchtet. Dmitrievs Analyse konzentrierte sich auf die redaktionelle Ausrichtung der Zeitschrift „Fragen der Theorie und Psychologie der Kreativität“ (veröffentlicht zwischen 1907 und 1923) und betraf die Beiträge von Boris Lezin, Dmitrij Ovsjaniko-Kulikovskij, Timofej Rajnov and Evgenij Aničkov.

Daran anschließend diskutierte Galina Babak (Prag) in ihrem Vortrag „’Too early forerunner‘: Ivan Franko on the outskirts of Formalism“ am Beispiel von Ivan Franko die Frage nach einem „ukrainischen Formalismus“. Frankos Traktat über die „Geheimnisse der Kunst von Gedichten“ wurde im Kontext der sogenannten „psychologisierenden Geisteswissenschaften“ vom Ende des 19. Jahrhunderts betrachtet. Mit Bezügen zu Wundt, Steinthal, Dessoir, Fechner u.a. hat Franko seine eigene Konzeption einer Psychologie der Kunst entwickelt.

Serge Tchougounnikov (Dijon) verglich in seinem Vortrag „Einfühlungsästhetik und Formalismus“ Positionen der psychologischen Ästhetik (insbesondere Ästhetik der Einfühlung) mit den Grundbegriffen des russischen Formalismus, um deren konzeptuelle Konvergenzen herauszustellen. Zwischen beiden Ansätzen gibt es demnach Übereinstimmungen in 1. der visuellen Dimension des ästhetischen Objekts; 2. der Rolle der Bewegung und des Körpergefühls im ästhetischen Effekt; 3. Ausdrucksbewegungen als Vermittler der Formwahrnehmung; 4. dem Verfremdungsprinzip und Gesetz der Stauung; 5. dem Dominanteprinzip als Stimmungseffekt.

Vladimir Feshchenkos (Moskau) Vortrag “Form and Content as War and Peace: Russian aesthetics of language after Potebnja” erläuterte, wie Potebnjas psychologische Thesen über die Sprache entweder als Waffe oder als Angriffsziel in Debatten russischer Literaturtheoretiker oder Linguisten des frühen 20. Jahrhunderts dienten. Ausgehend von Potebnjas Annahme einers untrennbaren Ganzen von Form und Gegenstand sowie des Konzepts der inneren Form argumentiert etwa Andrej Belyj – in kritischem Abstand zu Potebnjas Psychologismus – für einen Symbolismus der Sprache als Einheit von Klangform und innerer Form. Der Zeitraum zwischen Potebnjas „Gedanke und Sprache“ (1862) bis zu Belyjs gleichnamigen Essay (1910) kann als Periode einer Harmonie zwischen Form und Inhalt verstanden werden. Der nachfolgende Bruch war nicht zuletzt den futuristischen Manifesten und den Thesen des OPOJAZ geschuldet.

Ausgehend von Friedrich Theodor Vischers und Robert Zimmermanns Literaturbegriff der philosophischen Ästhetik widmete sich Matthias Aumüllers (Wuppertal) Vortrag „Sprache, Erkenntnis, Ästhetik. Der Literaturbegriff des späten 19. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen Psychologismus und Formalismus“ verschiedenen Inhalts- und Formästhetiken. Mit der Adaption von Wilhelm von Humboldts Begriff der inneren Sprachform, auf den zunächst Gustav Gerber im ersten Band seines zweibändigen Werks Die Sprache als Kunst (1871) im Zusammenhang mit einer ästhetischen Fragestellung die Aufmerksamkeit lenkte, wird der literarische Text aufgewertet. Der Germanist Wilhelm Scherer übertrug in seiner posthum erschienenen Poetik (1888) das Sprachform-Konzept programmatisch auf die Literaturbetrachtung, orientierte sich dann aber in seinen Fragment gebliebenen Ausführungen an Goethes Begriff der inneren Form. Im Unterschied dazu gab Aleksandr Potebnja bereits 1862 mit seiner Übernahme von Humboldts Begriff diesem eine textbezogene, konkrete Ausdeutung, an die anti-psychologistische Positionen anknüpfen konnten.

Die Bedeutung des Rhythmus in der Avantgarde und die Ordnung kinetischer Resonanz stand im Fokus von Georg Wittes (Berlin) Vortrag “’Drumming preparation‛: Poetics and politics of rhythm in the Soviet Avantgarde“. Mandel’štams „Staat und Rhythmus“ und Ejzenštejns „Rhythmische Trommel“ zeugen von der politischen und poetischen Reichweite des Rhythmus. In „rhythmischen Erziehungsprogrammen“ oder in Gestaltung von Arbeitsabläufen kommt die pädagogische und disziplinarische Anwendung zum Tragen, gleichzeitig ist der Rhythmus Instrument zur Selbstermächtigung. Ejzenštejns „Protoplasma“ in seiner Verschränkung von „Impuls“ und „Kontrolle“, Versrhythmik und Körperbewegung bei Bernštejn und Vyščeslavceva, rhythmische Impulse bei Brik, die metrische „Vorbereitung“ und „Erwartung“ in Tynjanovs Verstheorie gehören zum dynamischen Rhythmus-Diskurs in Avantgarde und Formalismus.

Die besondere kinästhetische Verfasstheit formalistischer Theoriebildung war Gegenstand vonIrina Sirotkinas (Moskau) Vortrag „Formalism vs. psychologism: Why kinaesthesia matters“. Die innovative Thesenbildung des OPOJAZ, seine Brüche mit der akademischen Tradition sind etwa im Fall Šklovskijs nicht abzulösen von einer körperlichen Aktivität und praktischen Qualität des Wissens (kowing how vs. knowing what). Wirkt persönliche körperliche Aktivität, überhaupt die Lebensführung (byt) auf Theoriebildung zurück? Kinästhesie ist der Schlüssel zu einem formalistischen Wissen, welches in Körperbewegungen, Tanz und Sport sein kreatives Momentum erhält.

Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Formalismus durch Vygotskij und ebenfalls ein kinästhetisches Moment verfolgte Willi Reinecke (Berlin) in seinem Vortrag „The Economics of Reaction. Vygotsky’s ‚Breathing‘ as organic Formalism“. Vygotskij unterstützt in der „Psychologie der Kunst“ die formalistische Präferenz der künstlerischen Verfahren und der Dynamik des Sujets. Die „ästhetische Reaktion“ ist für Vygotskij wie die Bewegung des Sujets „unökonomisch“. In seiner Interpretation von Bunins Novelle „Leichter Atem“ zeigt Vygotsky einen Tendenz zu einer „ganzheitlichen“ Psychologie, indem der Atem zum Aspekt der Form, des Inhalts und der Reaktion wird und dabei die „Dominante“ des Textes abgibt. Jeder Text sei laut Vygotksky sogar ein „Atemsystem“, der Atem wird zu einer besonderen „kinästhetische Reaktion“ und Ausdrucksbewegung.

Hannah Proctors(London) Vortrag „Synaesthetic Aesthetics and the Art of Psychology: Vygotsky, Luria, Eisenstein“ diskutierte die gemeinsamen psychologischen und ästhetischen Interessen von Lurija und Ejzenštejns im post-revolutionären und stalinistischen Kontext. Die ästhetische Relevanz von Lurijas psychologischen Beiträgen wird kontrastiert durch Ejzenštejns Interesse am Phänomen der Synästhesie. Die von Schockmomenten geprägte Montage-Theorie Ejzenštejns findet ein spätes Echo in Lurijas klinischen Fallgeschichten der Nachkriegszeit, welche die sozialistische Realität in ihrer Fragmentarisierung zeigt.

Erik Martin(Berlin) analysierte in seinem Vortrag „Pathos, shock, trauma: Some avant-garde (meta)aesthetic concepts and their physiological sources“ den (impliziten) Rückgriff der Avantgarde auf Physiologie und Psychologie des 19. Jahrhunderts. Drei Begriffe standen dabei im Fokus: die Kategorie des Pathos, bei Warburg und Eisenstein eng an die künstlerische Form gebunden; zweitens Benjamins Aura und die mit ihrem Verlust einhergehende Wirkung eines Schocks. Warburg bezieht sich mit den „Pathosformeln“ und der „Mnemosyne“ u.a. auf den Evolutionsbiologen Richard Semon und seine Begriffe „Mneme“ und „Engramm“. Eine der Quellen Eisensteins war die Reflexologie Pavlovs. Der Vortrag differenzierte verschiedene Facetten der Übertragung und Transformation von psychischer Energie durch Kunst.

Bericht: Willi Reinecke und Serge Tchougounnikov

 

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