Flüchtlinge in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
Ort: Greifswald, Alfried Krupp Wissenschaftskolleg
Planung und Organisation: Johannes Kleine und Thomas Hardtke
Die Tagung „Flüchtlinge in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ fand am 19. und 20. Februar 2016 am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald statt. Als das gleichnamige Panel für die Jahrestagung der Friedrich Schlegel Graduiertenschule 2015 konzipiert wurde, riefen die Organisatoren Thomas Hardtke und Johannes Kleine, Stipendiaten der FSGS, und Charlton Payne, Fellow am German Department der University of California in Berkeley, unerwartet großes Interesse hervor. Aus einer Auswahl der zahlreichen Beitragsvorschläge, die dem Call for Papers folgten, konnte so ein erster wissenschaftlicher Sammelband zu diesem virulenten Thema konzipiert werden, der alsbald bei V&R unipress erscheinen wird. Um die Beiträge zu diskutieren und so eine hohe Qualität des Bandes sicherzustellen, trafen sich die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlicher im intimen Rahmen, den das Alfried Krupp Wissenschaftskolleg bereitstellte. Auch die Friedrich Schlegel Graduiertenschule und die Ernst-Reuter-Gesellschaft förderten die Veranstaltung großzügig. In den Plenumsdiskussionen konnten die großen Fragen besprochen werden:
- Können in der Gegenwartsliteratur, die Fluchtthemen verhandelt, Spezifika festgestellt werden?
- Wo liegen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu jenen Diskussionen über Autofiktion, neuen Realismus oder die Literarizität von Dokumentartexten in der zeitgenössischen Migrations- und der historischen Exilliteratur?
- Wie weit trägt das aus der Postkolonialität stammende Theorie- und Methodeninventar bei der akademischen Verhandlung von Flucht als Motiv und Narrativ?
- Wie angemessen oder eingrenzend ist die Betrachtung eines so heterogenen Korpus, der Lutz Seiler und Abbas Khider ebenso umfasst wie Michael Köhlmeier und Jenny Erpenbeck?
Die Tagung war als reiner Fachaustausch angelegt. Es wurden keine Referate oder Responses gehalten, sondern erste Beitragsentwürfe für das gemeinsame Buch, die vorher zirkulierten, besprochen und kritisiert. Der Modus erwies sich als besonders fruchtbar: Je vierzig Minuten wurde jeder Text kritisiert und kommentiert, eine gemeinsame Abschlussdiskussion fasste die Tagung zusammen und führte zu Gliederungsvorschlägen für den Band.
Charlton Payne, Mitherausgeber und Ko-Organisator der Veranstaltung, eröffnete den Freitag mit seinem Beitrag zu Ursula Krechels Roman Shanghai fern von wo (2008), in dem die Autorin die Schicksale derjenigen Juden darzustellen sucht, die sich so spät zur Flucht aus Nazi-Deutschland entschlossen, dass ihnen nur noch wenige Optionen wie das damalige International Settlement Shanghai offenstand. Payne ging insbesondere auf die Multiperspektivität von Krechels Erzählern im Roman sowie auf dessen Poetik der Literarisierung von Dokumentationsmaterial ein. Katrin Max aus Würzburg arbeitete die Vielschichtigkeit der Fluchtverhandlungen in Christoph Heins Roman Landnahme von 2004 heraus. Hein verwebt in seinem Heimatroman Nachkriegsvertreibung, DDR-Flucht und ostdeutschen Alltagsrassismus. Warda El-Kaddouri aus Gent untersuchte die Rolle identitätsstabilisierender, kollektivbildender und radikalisierender Aspekte von Religion in den Romanen Sherko Fatahs und Abbas Khiders. Stefan Alker aus Wien analysierte den satirischen Fluchtroman Auswandertag von Klaus Oppitz.
Nach dem Mittagessen ging Prof. Svetlana Arnaudova aus Sofia auf die Erzählhaltungen und Selbsterzählungsstrategien Saša Stanišićs ein, die insbesondere in seinem Debutroman Wie der Soldat das Grammophon repariert zum Tragen kommen. Martin Sablotny aus Dresden konnte zeigen, wie unterschiedliche Spielmetaphern bei Michael Köhlmeier und Ilija Trojanow sowohl eine poetologische Dimension in den untersuchten Werken aufschließen als auch das Selbst-Erzählen als Akt der Souveränität-Wiederaneignung reflektieren. Sabine Zubarik beendete das Nachmittagspanel mit einer genauen Lektüre von Lutz Seilers Roman Kruso von 2014, in dem Hiddensee gleichzeitig zu einer DDR in nuce und zu einem temporär bewohnten Grenzraum stilisiert wird. Die Beiträge des Karlsruher Germanisten René Kegelmann über Terézia Moras Roman Alle Tage und des Berliner Literaturwissenschaftlers Christian Luckscheiter über das in Peter Handkes Romanen und Erzählungen ubiquitäre Motiv des Flüchtlings beschlossen den Tag.
Am Samstag konnten vor dem Abschlussplenum drei weitere Beiträge diskutiert werden: Prof. Alexandra Ludewig aus Perth analysierte das tragische Versagen bürgerlicher Bildungsinhalte vor dem Versuch, die Wirklichkeit der Massenflucht zu begreifen, in Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen von 2015. Daniela Hrzán aus Lüneburg verglich die Selbstzeugnisse Fadumo Korns und Nura Abdis insbesondere im Hinblick auf deren Vereinnahmung in Verlags- und NGO-Kontexten. Sarah Steidl aus Hamburg schließlich beendete die Tagung mit ihrem Beitrag zu Abbas Khiders Roman Der falsche Inder von 2008, in dem sie insbesondere auf die Ambivalenz von Grenzen und die Möglichkeiten der Subversion von Machtverhältnissen einging, die der Roman verhandelt. Der Sammelband, bereichert durch einige weitere Beiträge, wird möglichst noch in diesem Jahr in der Reihe Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien (hg. v. Carsten Gansel und Hermann Korte) bei V&R unipress erscheinen.
Bericht: Johannes Kleine