Denkräume der Philologie
Datum: Wintersemester 2009/10
Ort: FU Berlin
Konzeption: Prof. Dr. Peter-André Alt
Ein gemeinsames Merkmal der Geisteswissenschaften besteht darin, dass sie es mit komplexen Texten zu tun haben, die sich dem einfachen Verstehen entziehen. Als Wissenschaft, die Texte tradiert, kommentiert und interpretiert, ist die Philologie folgerichtig eine geisteswissenschaftliche Schlüsseldisziplin. Neben der Literaturwissenschaft sind auch Philosophie, Historiographie, Kunstgeschichte, Ethnologie und Religionswissenschaft auf die Dienste der Philologie angewiesen. Die Vorlesung wird das intellektuelle Selbstverständnis philologischer Arbeit beleuchten und nach dem Beitrag fragen, den die Philologien zum Verständnis moderner Lebenswelten und kultureller Identitäten leisten können. Das hier gebotene Programm schließt Vorträge zum Charakter der philologischen Erkenntnis ebenso ein wie Überlegungen zum Verhältnis von Literatur- und Kulturwissenschaft, zur philologischen Methode, zu Maximen der Interpretation, zur Geschichte der Philologien, zur europäischen, asiatischen und arabischen Kulturwelt und ihrem Verhältnis zur Literatur(-wissenschaft). Die Vorlesung führt Vortragende aus dem breiten Spektrum der europäischen und außereuropäischen Philologien zusammen, um das Gebiet in ganzer Breite für ein geisteswissenschaftlich interessiertes Publikum überschaubar zu machen.
Programm:
15.10.2009 - Prof. Dr. Peter-André Alt: Exemplum – Historizität – Tradition. Über die Erkenntniswege der Philologie
22.10.2009 - Prof. Dr. Arbogast Schmitt: Hat die Literaturwissenschaft einen Gegenstand und eine (Erkenntnis-) Methode? Eine alte (aristotelische) Antwort auf eine neue Frage
29.10.2009 - Prof. Dr. Irmela Hijiya-Kirschnereit: Zwischen allen Stühlen: Bekenntnisse einer deutschen Japanologin
05.11.2009 - Prof. Dr. Susanne Enderwitz: Arabistik und Islamwissenschaft oder: Wer hat recht?
12.11.2009 - Prof. Dr. Andreas Kablitz: Philologie und Textauslegung
19.11.2009 - Prof. Dr. Ansgar Nünning: Philologie vs. Kulturwissenschaften – eine falsche Alternative? Zur Funktion von Literatur und zur Aufgabe der Literaturwissenschaft
26.11.2009 - Prof. Dr. Karl Heinz Bohrer: Philologie als Kunstwissenschaft
03.12.2009 - Prof. Dr. Remigius Bunia: Philologische Empirie und die Singularität poetischer Texte
10.12.2009 - Prof. Dr. Klaus Hempfer: Interpretation als „knowing how“ und einige Interpretationsmaximen
17.12.2009 - Prof. Dr. Therese Fuhrer: Fachfremde Perspektiven: Möglichkeiten und Grenzen des Imports von Theorien und Methoden in die Literaturwissenschaft
07.01.2010 - Prof. Dr. Danièle Cohn: Das Wissen der Philologie und das ästhetische Erlebnis
14.01.2010 - Prof. Dr. Christoph König: "Zwangsphilologie" - Zur Praxis insistierender Lektüre
28.01.2010 - Prof. Dr. Klaus Weimar: Was die Philologie erkennen und wissen wollte und will
04.02.2010 - Prof. Dr. Ritchie Robertson: Philologie als Subversion von Erasmus bis Nietzsche
11.02.2010 - Prof. Dr. Peter Utz: Nachreife des fremden Wortes“. Zum philologischen Mehrwert des Übersetzens, am Beispiel von Hölderlins „Hälfte des Lebens“
Berichte zu den einzelnen Vorlesungen:
15.10.2009 - Prof. Dr. Peter-André Alt: Exemplum – Historizität – Tradition. Über die Erkenntniswege der Philologie
Zur Einführung in die Vorlesungsreihe "Denkräume der Philologie" trug Prof. Dr. Peter-André Alt im gut besetzten Hörsaal 2 in der Habelschwerdter Allee 45, in dem sich universitäres und außeruniversitäres Publikum mischten, seine Gedanken über die Erkenntniswege der Philologie vor. Die Philologie präsentierte er als eine Grundlagenwissenschaft, zu deren Aufgaben es gehört, das Wissen in Gestalt überlieferter Texte vor dem Verfall und vor dem Vergessen zu schützen. In der Philologie kommt, so Alt, die "Magie des genauen Lesens" (Walter Benjamin) zum Tragen, die es dem Philologen ermöglicht, eine reflektierte Balance herzustellen zwischen den extremen Polen des Enthusiasmus einerseits und der trockenen Gelehrsamkeit andererseits. Skepsis gegenüber der Eindeutigkeit zeichnet den Philologen ebenso aus wie die Einsicht in die Unabschließbarkeit des Erkenntnisprozesses. Als Kronzeugen dieser emphatischen Philologie benannte Alt nicht nur Philologen wie Walter Benjamin oder Peter Szondi, sondern vor allem auch Schriftsteller, insbesondere Friedrich Schlegel und Franz Kafka.
22.10.2009 - Prof. Dr. Arbogast Schmitt: Hat die Literaturwissenschaft einen Gegenstand und eine (Erkenntnis-) Methode? Eine alte (aristotelische) Antwort auf eine neue Frage
Als zweiter Redner der Vortragsreihe „Denkräume der Philologie“ setzte sich Prof. Dr. Arbogast Schmitt mit der Frage nach dem Gegenstand der Literaturwissenschaft und ihrer (Erkenntnis-)Methode auseinander. In seinem Vortrag, der von Gottsched über Baumgarten zurück zu Aristoteles führte, bezeugte Schmitt eindrücklich die Aktualität von Aristoteles` Poetik. Am Anfang stand die Frage, was ein ästhetischer Zugang zur Literatur bedeutet; daran schloss sich die Frage an, ob und wie es Wahrnehmung in reiner Form geben kann. Im Zentrum stand der Gegenstand der Literatur: Nach Aristoteles kann die Wirklichkeit selbst nie Dichtung sein; Dichtung ist vielmehr immer Nachahmung (subjektiv) handelnder Menschen. Schmitt veranschaulichte seine Ausführungen anhand zahlreicher Beispiele unter anderem aus Homers Ilias und Euripides Medea-Drama.
29.10.2009 - Prof. Dr. Irmela Hijiya-Kirschnereit: Zwischen allen Stühlen: Bekenntnisse einer deutschen Japanologin
Wo findet man die Bücher des Faches Japanologie – in einer philologischen Bibliothek? In der Bibliothek eines Instituts für "Ostasienstudien"? Bei der "Weltliteratur"? Oder doch in der Fachbibliothek eines Instituts, das den "Area Studies", den Regionalwissenschaften zugerechnet wird? Dass diese Frage alles andere als trivial ist, zeigte die dritte Rednerin der Vortragsreihe "Denkräume der Philologie", Prof. Dr. Irmela Hijiya-Kirschnereit. Die Zu- und Einordnung des Faches, so ein Fazit des Vortrags, hat Konsequenzen für die Inhalte und die Ausrichtung der Wissenschaft. Eine deutsche Japanologin findet sich somit in verschiedener Hinsicht "zwischen allen Stühlen": Zum einen im Spannungsfeld zwischen der deutschen und der internationalen (vorwiegend englischsprachigen) Japanologie und der japanischen Nationalphilologie, in dem jeweils unterschiedliche Wissens- und Wissenschaftskulturen (und -sprachen) auf das Fach einwirken, zum andern aber auch mit Blick auf die inhaltliche und thematische Ausrichtung des Faches zwischen den tendentiell eher sozialwissenschaftlich ausgerichteten "Area Studies" oder Regionalwissenschaften und einer stärker philologisch orientierten, an Texten ausgerichteten Wissenschaft andererseits. Hijiya-Kirschnereit machte deutlich, dass eine philologisch basierte Japanologie, zu deren wichtigsten Projekten etwa wissenschaftlich fundierte Wörterbücher, Editionen und Bibliographien gehören, die Basis für ein Verständnis jener Übersetzungsprozesse darstellen, die alle Begegnungen mit dem Fremden prägen, die nur dann dauerhaft gelingen kann, wenn man die "Mühen der Ebenen" (also die philologische Arbeit) nicht scheut.
05.11.2009 - Prof. Dr. Susanne Enderwitz: Arabistik und Islamwissenschaft oder: Wer hat recht?
Auf den ersten Blick mutet dies wie eine Insider-Frage an, die im Rahmen des Wettstreits eher kleinerer Fächer eigentlich nur die unmittelbar betroffenen Fachwissenschaftler interessieren sollte. Doch der weit gespannte Vortrag der Heidelberger Arabistin Susanne Enderwitz zeigte die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen der Fachgeschichte der Orientalistik, der Arabistik und der Islamwissenschaft in Europa - vor allem in Deutschland und Frankreich - etwa seit 1800 und den welt-, und wissenschaftspolitischen Entwicklungen der vergangenen zwei Jahrhunderte bis in die Gegenwart. Enderwitz zeichnete eine Entwicklungslinie nach, die, in groben Zügen, von der Orientalistik als einer Hilfswissenschaft der Theologie über die Etablierung der Arabistik als einer eigenständigen, textbasierten und historisch ausgerichteten Philologie zur Einrichtung der Islamwissenschaft als einer im weiteren Sinne mit den Kulturen und lebenden Sprachen der islamischen Länder reicht. Die Entwicklung der Orientalistik in Deutschland zeigte besonders deutlich, wie sehr das Fach immer wieder in die Sphäre konkreter politischer Interessen geriet; ein Beispiel ist das Berliner Seminar für Orientalische Sprachen, das im Jahr 1887 an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin auf Anstoß des Reichskanzlers Bismarck als Reaktion auf einen akuten Mangel an Dolmetschern gegründet wurde. Gleichwohl wäre es falsch, die Entwicklung des Faches einzig in dieser geraden Linie zu sehen, an deren Endpunkt die deutlich anwendungsorientierte Wissenschaft steht: Enderwitz stellte klar heraus, dass auch die Islamwissenschaft, die den "Realien" der Gegenwartskultur große Aufmerksamkeit schenkt, auf differenzierte Sprachkenntnisse und fundierte philologische Methoden, die es erlauben, Phänomene der gegenwärtigen Kultur in Traditionszusammenhängen zu sehen, nicht verzichten kann. Zugleich plädierte Enderwitz in der Diskussion mit dem Publikum für eine thematische Öffnung der arabistischen Philologie, die eine Erforschung der wechselseitigen Durchdringung der westlichen und islamischen Kulturen im Rahmen einer transnational und transkulturell orientierten Forschung betreiben sollte.
12.11.2009 - Prof. Dr. Andreas Kablitz: Philologie und Textauslegung
Welchen wissenschaftlichen Anspruch kann die Literaturwissenschaft für das eigene Vorgehen erheben - vor allem, wenn es um ihr wesentliches Geschäft geht, nämlich die Interpretation von Texten? Andreas Kablitz, Professor für Romanische Philologie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln, stellte dem Publikum vor allem am Beispiel unterschiedlicher Interpretationen des Rolandsliedes sein Konzept einer theoretisch maßvollen Literaturwissenschaft vor, deren Ergebnisse sich jedoch an Rationalitätskriterien messen lassen müssten. Mögliche Kriterien für die Überzeugungskraft oder gar: Gültigkeit einer Textinterpretation seien demnach zum einen die Kohärenz der Interpretation, zum andern der Grad, in dem es dem Interpretationsversuch gelinge, eine möglichst große Menge an "Textdaten" sowie die Widersprüche des Textes zu integrieren. Kablitz verband dieses Plädoyer für Bescheidenheit und Rationalität mit einer Problematisierung der Bedeutung der Theorien in der Literaturwissenschaft und kritischen Anmerkungen zu Literatursoziologie und Literaturpsychologie ebenso wie zu Dekonstruktion, Poststrukturalismus, Kulturwissenschaft und "Neuropoetik".
19.11.2009 - Prof. Dr. Ansgar Nünning: Philologie vs. Kulturwissenschaften – eine falsche Alternative? Zur Funktion von Literatur und zur Aufgabe der Literaturwissenschaft
Zum Publikum des trotz Bildungsstreik voll besetzten Hörsaal 2 sprach Ansgar Nünning, Anglist und Amerikanist, Literatur- und Kulturwissenschaftler aus Gießen, am 19.11.09 über sein Konzept der Literaturwissenschaft als "Lebenswissenschaft". Er plädierte für die Stärkung philologischer Kompetenzen in der Kulturwissenschaft ebenso wie für den Einsatz kulturwissenschaftlicher Techniken in der Philologie und betonte die Notwendigkeit, zwischen den verschiedenen Auffassungen von "Literaturwissenschaft" oder "Kulturwissenschaft" in den einzelnen Disziplinen, aber auch im internationalen Kontext zu differenzieren. Denn nicht nur zwischen den verschiedenen theoretischen oder methodischen Schulen und Richtungen, sondern auch mit Blick auf die verschiedenen Wissenschaftstraditionen in den Philologien und in unterschiedlichen Ländern kommt es immer wieder zu "Übersetzungsproblemen" der Konzepte von Wissenschaftlichkeit, denen, so Nünning, begegnet werden könne mit dem eher pragmatischen Ansatz eines "problemlösungsorientierten Eklektizismus". Literarische Texte können demnach sowohl als herausragende Quellen in mentalitätsgeschichtlichen Forschungsansätzen gelesen werden, als "Lebensexperimente" oder "Gedankenexperimente", aber auch als verdichtete Kulturprodukte, die aufgrund ihrer "Erfahrungshaftigkeit" ("Experientiality") die Ambiguitätstoleranz des kundigen Lesers ebenso fördern wie seinen Möglichkeitssinn und den Sinn für Komplexität. Ausdrücklich wandte Nünning sich gegen die These, Literatur "enthalte" Wissen, und setzte dagegen, mit Bezug auf Nelson Goodman, seine Auffassung von der Literatur als "Weise der Welterzeugung".
26.11.2009 - Prof. Dr. Karl Heinz Bohrer: Philologie als Kunstwissenschaft
Karl Heinz Bohrer stellte in seinem Vortrag im gut gefüllten Hörsaal 2 bisher unveröffentlichte Notate Friedrich Schlegels über die griechische Poesie - entstanden nach dem Studium-Aufsatz, jedoch vor den Athenäums-Fragmenten - ins Zentrum seiner Ausführungen über Philologie als Kunstwissenschaft. Bohrer las Schlegels Gedanken zur Philologie, die dieser gelegentlich als Kunst, aber auch als "Hermeneutik der Kunst" bezeichnet, als Plädoyer für den Primat der ästhetischen und poetischen Qualitäten der Literatur vor ihrer Einordnung in historische, soziale oder geographische Kontexte. Philologie als Kunstwissenschaft geht - mit Schlegel und Bohrer - buchstäblich vom Wort aus: von der Semantik, der Grammatik und der Metaphorik, nicht von der Idee, der philosophisch-moralischen Dimension. In der Kulturwissenschaft dagegen, so Bohrer, verwandele sich das "unerhörte Wort" des Dichters in das allgemeine Wort des Diskurses. Der Philologe müsse daher neben der Fähigkeit, angesichts des unerhörten Wortes "erstaunen" zu können, auch die Bereitschaft zu einer erhöhten philologischen Aufmerksamkeit sowie zur Zergliederung "bis zum Haarespalten" mitbringen. Karl Heinz Bohrer schloss seine Vorlesung mit dem Hinweis darauf, dass Schlegels Diktum, man werde zum Philologen "geboren", durchaus als Aufforderung verstanden werden könne, sich eben diese Fähigkeiten anzueignen.
03.12.2009 - Prof. Dr. Remigius Bunia: Philologische Empirie und die Singularität poetischer Texte
Kann Literaturwissenschaft zu den empirischen Wissenschaften gezählt werden? Wie real sind ihre Gegenstände? Und wie valide ihre Ergebnisse? Zahlreich sind die Versuche, die Literaturwissenschaft von dem vermeintlichen Stigma zu befreien, zu den hermeneutischen Wissenschaften zu gehören, und sie den empirischen Wissenschaften zuzuschlagen, so etwa mit Hilfe der Evolutionstheorie bei Joseph Carroll oder Franco Moretti, mit Hilfe der Statistik und Mathematik in der "Quantitativen Literaturwissenschaft" oder unter Rückgriff auf die Informatik, wie in der "Digitalen Literaturwissenschaft".
Der Versuch von Remigius Bunia, die Literaturwissenschaft als empirische Wissenschaft zu begreifen, ging von einem anderen Begriff von Empirie aus. Bunia erläuterte seinen Begriff der Empirie - ausgehend von der Beobachtung, dass es sich beim "Empiricus" in der Antike um einen Arzt handelte, der sich vorrangig auf eigene Beobachtungen stützte und der Schulmedizin und damit der Theorie eher skeptisch gegenüber stand - unter Rückgriff auf Francis Bacons Novum Organum. Empirie, verstanden als Aufmerksamkeit für die Singularität des literarischen Textes und seine Details sowie als Erfahrungswissen, das im Umgang mit einer großen Menge an Texten erworben werden müsse, könne gleichsam als Antidot fungieren gegen eine Literaturwissenschaft, die zuweilen dazu neige, literarische Texte als Anwendungsfeld für theoretische Ansätze zu benutzen. Problematisch seien besonders die Versuche, Theorien aus anderen Wissenschaften - als Beispiele nannte Bunia die Chaostheorie und die Systemtheorie - in die Literaturwissenschaft zu übertragen und auf ihre "Anwendbarkeit" beim Umgang mit literarischen Texten zu überprüfen; weitaus fruchtbarer wäre, so Bunias Appell, ein Rekurs auf die "stärkste Theorietradition", die die Literaturwissenschaft selbst zu bieten habe: Die Rhetorik.
10.12.2009 - Prof. Dr. Klaus Hempfer: Interpretation als „knowing how“ und einige Interpretationsmaximen
Der Berliner Romanist Klaus Hempfer legte in seinen Ausführungen den Schwerpunkt auf die Philologie als Literaturwissenschaft und insbesondere auf das Interpretieren - bei dem es sich, so argumentierte Hempfer mit dem Sprachphilosophen Gilbert Ryle, um eine bestimmte Form der Rationalität, um ein (performatives) "Können" - "knowing how" handelt, nicht jedoch um ein zur Gänze in einer Theorie abbildbares propositionales Wissen - "knowing that". Hempfer, der die Textinterpretation als eine Form der "rationalen Disputation" zwischen dem Interpreten und anderen, "anerkannten" Meinungen beschrieb, zeigte, wie der unreflektierte Umgang mit bestimmten Prämissen theoretischer Provenienz - als Beispiel nannte er etwa die marxistische Widerspiegelungstheorie oder eine von der Romantik geprägte Vorstellung von Poesie - die Qualität der Interpretation beeinflussen. Als Orientierungshilfe nach einem Prozess, in dem verschiedene kulturwissenschaftliche Richtungen - er nannte insbesondere Gender Studies, Postcolonial Studies oder Queer Studies - darum kämpf(t)en, "anerkannte Meinungen" zu werden, und an dessen Ende, so Hempfer, eine "Implosion" der Literaturwissenschaft stattfand, schlug er einige Interpretationsmaximen vor, erläuterte sie und diskutierte im Anschluss mit dem interessierten Publikum.
Einige Interpretationsmaximen:
1. Interpretiere historisch und vermeide Anachronismen!
2. Erfasse den Text in seiner Gesamtheit und vermeide Nihilierungen!
3. Beziehe die Daten des Textes zunächst auf das literarische System!
4. Vertraue dem Text, misstraue dem Autor!
17.12.2009 - Prof. Dr. Therese Fuhrer: Fachfremde Perspektiven: Möglichkeiten und Grenzen des Imports von Theorien und Methoden in die Literaturwissenschaft
Die Latinistin Therese Fuhrer betonte in ihrem Vortrag über die "Möglichkeiten und Grenzen des Imports von Methoden und Theorien in die Literaturwissenschaft" - den sie als letzte Referentin des Jahres 2009 im Rahmen der Ringvorlesung "Denkräume der Philologie" hielt - im Gegensatz zu anderen Beiträgern der Vortragsreihe die Chancen, die darin liegen können, bei der Interpretation insbesondere antiker Texte das propositionale Wissen aus anderen Disziplinen zu nutzen und eine "fachfremde Perspektive" einzunehmen. Betrachtet man den literarischen Text als Medium, in dem Verhaltensweisen von Menschen analysiert werden, so kann - dies die Hauptthese von Fuhrer - vor allem die Rollentheorie der Sozialwissenschaft entscheidend zu dem Verständnis antiker Texte beitragen. Die Theorien, die Sozialwissenschaftler wie etwa Georg Simmel, George Herbert Mead, Helmuth Plessner oder Erving Goffman formuliert haben und die sich ihrerseits an Modelle der Literatur bzw. des Theaters anlehnen, scheinen besonders dazu geeignet zu sein, Prozesse der Konstitution und Konstruktion von Geschichte, Identität und Selbst zu beschreiben, die sich an literarischen Figuren beobachten lassen. Regel- und Normverletzungen, das Verhältnis zu Stereotypen, Konflikte zwischen den Wünschen des Individuums und gesellschaftlichen Erwartungen oder anderweitig vorgegebenen Rollen und Masken in der Literatur der Antike lassen sich mit Hilfe dieser fachfremden Modelle klarer herausarbeiten, als es ohne sie möglich wäre.
07.01.2010 - Prof. Dr. Danièle Cohn: Das Wissen der Philologie und das ästhetische Erlebnis
Die Pariser Philosophin Danièle Cohn setzte sich in ihren Ausführungen über "Das Wissen der Philologie und das ästhetische Erlebnis" exemplarisch mit dem Konzept der Literaturkritik bzw. -interpretation des Schweizer Literaturwissenschaftlers Jean Starobinski auseinander. Dieses Konzept knüpft an Konzepte des 18. Jahrhunderts an - zentrale Bezugsfiguren sind Rousseau und Kant - und stellt das Verhältnis des Kritikers und Interpreten zum Gegenstand der Kunst- oder Literaturkritik in sein Zentrum. Grundlagen für jede "richtige Interpretation" sind eine Affinität zwischen Subjekt und Objekt der Interpretation, aber auch ein "Entzücken" des Interpreten angesichts der Schönheit des zu interpretierenden Gegenstandes. Stimmen diese Ausgangsvoraussetzungen, entsteht eine Situation, in der das Kunstwerk selbst die Richtung der Interpretation vorzuschlagen scheint. Die Interpretation oder Kritik muss - um zu einem angemessenen Verständnis des Einzigartigen des Kunstwerks zu gelangen - von Einzelphänomenen (E. Auerbach) ausgehen und gerade nicht von allgemeinen Fragen, wie es eine bestimmte Auffassung von Wissenschaftlichkeit verlangen würde. Die Sprache des Literaturkritikers - die sich im Fall Starobinskis der Sprache der Literatur annähert - ist das Medium, das zwischen dem Interpreten und dem Kunstwerk vermittelt. Diskutiert wurde im Anschluss an den Vortrag vor allem die Frage, inwiefern das Konzept einer Wissenschaft von der Literatur, wie sie das deutschsprachige Wissenschaftssystem annimmt, den Konzepten in anderen europäischen Sprachen, die eher von Literaturgeschichte, Literaturkritik, Lektüre oder Interpretation sprechen, entspricht.
14.01.2010 - Prof. Dr. Christoph König: "Zwangsphilologie" - Zur Praxis insistierender Lektüre
Der dichte Vortrag befasste sich - unter den Zwischenüberschriften "Philologie als Praxis" - "Hermeneutik als Theorie philologischer Praxis" - "Verstehen und literarisches Werk" und schließlich "Geschichte der Interpretation" - mit den Bedingungen und Möglichkeiten des Verstehens literarischer Texte und ihrer Individualität. Die angemessene Interpretation des Literaturwissenschaftlers unterscheidet sich, so König, deutlich vom "populären" Verstehen, das beim Allgemeinen bzw. Pauschalen des "Inhalts" halt macht. Zur Veranschaulichung seiner These, die Bedingung des Verstehens eines literarischen Textes bestehe im Aufeinandertreffen der Aktivität des Interpreten und der "Aktivität" des Textes bei dem Versuch des Werks, sich selbst zu verstehen, führte König dem Publikum im Hörsaal 2 seine insistierende Lektüre des 28. Sonetts aus Rilkes "Sonetten an Orpheus" vor und stellte sie einer Interpretation Beda Allemanns aus dem Jahr 1951 gegenüber. Präsentiert werden sollte der Ertrag des rechten Umgangs einer als Kunst verstandenen Philologie mit dem Gedicht eines Autors, der besonders zur Vereinnahmung (zweifellos aufgrund verfehlter Lektüre) verführt. Die insistierende Lektüre trägt gerade bei Rilke, der auch als "Meister des Philosophen-Pop" gelte, wie König es in Anspielung auf Peter Sloterdijks Buch "Du mußt Dein Leben ändern" formulierte, dazu bei, das "Falsche" des Allgemeinen zu überwinden und in der "Abwehr des Pauschalen" das Profil des literarischen Textes zu schärfen.
28.01.2010 - Prof. Dr. Klaus Weimar: Was die Philologie erkennen und wissen wollte und will
Auch wenn es dem Zürcher Germanisten Klaus Weimar nicht zuletzt darum ging, die "unverwechselbare Stimme" der Philologie im "Konzert der Wissenschaften" zur Geltung zu bringen, so betonte er in seinem Vortrag, dass alle Wissenschaften - selbst die Geschichtswissenschaft - letzten Endes immer mit Gegenwärtigem zu tun haben. Das Vergangene aber sei im gegenwärtigen Zustand der von den Wissenschaften untersuchten Objekte immer auch "unübersehbar abwesend". Im Zentrum des Vortrags stand die Germanistik des 19. Jahrhunderts, die sich, so Weimar, nach dem Modell der ersten, der "Klassischen" Philologie mit "Werken und Überresten alter Zeiten" (Friedrich August Wolf) befasste. Damit ging eine "Semiotisierung des Gegenstandes" einher: Die Texte und Werke aus der Vergangenheit würden somit zum (gegenwärtigen) Signifikanten, also zu der materiellen oder quasi-materiellen Form, die auf ein (vergangenes) Signifikat, eine (frühere) Bedeutung verweise. Die Konstruktion (oder Interpretation) dieses Siginfikats sei das eigentliche Kerngeschäft der Philologie (gewesen), wenn sie Werke und Texte als "Denkmäler von Gesinnungen" betrachtete, aus denen sich Erkenntnisse gewinnen ließen über "die altertümliche Menschheit selbst". Eine Variation dieses Phänomens sah Klaus Weimar in dem Interesse der Literaturgeschichte an dem, was Friedrich Schlegel in seinen Wiener Vorlesungen über die Geschichte der alten und neuen Litteratur als "Geistesbildung" eines Volkes bezeichnete, oder an anderen Konstellationen, in denen die Literaturwissenschaft sich auf "Ideologie", "Diskurs" oder "Kultur" konzentriert.
04.02.2010 - Prof. Dr. Ritchie Robertson: Philologie als Subversion von Erasmus bis Nietzsche
In seinem Vortrag vermaß der Oxforder Germanist Ritchie Robertson Größe und Kleinlichkeit der Philologie wie der Philologen seit der Frühen Neuzeit. Bekanntlich sind die Philologen aufgrund der Sorgfalt und Genauigkeit, die der recht verstandenen Philologie eigen sind, immer wieder dem Vorwurf der Kleinlichkeit, Engstirnigkeit und Pedanterie ausgesetzt; aufgrund ihrer Beschäftigung mit (alten) Texten und Sprachen wurde ihnen zudem nachgesagt, sie seien weltfremd und hätten keinen Bezug zu der Realität außerhalb des "Elfenbeinturms"; schlimmer noch, sie seien "Dead from the waist down" ("unterhalb der Gürtellinie leblos"), wie es in Robert Brownings Gedicht A Grammarian’s Funeral heißt. Robertson schilderte dagegen eindringlich Beispiele philologischer Tätigkeit, die im Kontrast zu diesen Vorstellungen deutlich wahrnehmbare Wirkungen hervorbrachten. So zitierte er den Fall der so genannten "Konstantinischen Schenkung", bei der es sich angeblich um einen aus dem vierten Jahrhundert nach Christo stammenden Brief handelte, in dem der Kaiser Konstantin die westliche Hälfte seines Reichs der Kirche übergab. Den Beweis dafür, dass das Dokument eine Fälschung war, erbrachte der Humanist Lorenzo Valla, und zwar mit den Mitteln der Philologie. Andere Beispiele für die durchaus sichtbaren Wirkungen philologischer Aktivität wären etwa religiöse Dogmen, die durch philologische Genauigkeit bei der Revision von Übersetzungen der Heiligen Schrift in Frage gestellt werden. Robertson schloss mit einer Darstellung der "Konversion" Nietzsches, der eine Wandlung durchlief: War er zunächst einer der schärfsten und unfreundlichsten Gegner der Philologie, was sich etwa in seinen phantasievollen Schimpfnamen für die Philologen spiegelte, die er als "Schwätzer und Tändler, hässliche Geschöpfe, Stammler, schmutzige Pedanten, Wortklauber und Nachteulen, [...] Staatssclave nmit Inbrunst, verzwickte Christen, Philister" bezeichnete, so wurde er in seinem Spätwerk - so Robertsons These - zu einem Verfechter der Annahme, dass die Philologie ihre subversive Kraft darin entfalte, "die Ansprüche der Religion als Lügen zu demaskieren".
11.02.2010 - Prof. Dr. Peter Utz: Nachreife des fremden Wortes“. Zum philologischen Mehrwert des Übersetzens, am Beispiel von Hölderlins „Hälfte des Lebens“
Zum Abschluss der Ringvorlesung eröffnete der Vortrag von Peter Utz (Lausanne) den trotz Semesterende und widriger Witterung zahlreich versammelten Zuhörern im Hörsaal 2 neue Dimensionen in den "Denkräumen der Philologie", führte dabei zugleich den Ertrag komparatistisch angelegter philologischer Analyse vor und veranschaulichte gleichsam nebenbei, wie in etwa ein mancherorts bereits ausgerufener "Translational Turn" in den Geisteswissenschaften aussehen könnte. Ausgehend von paradigmatischen Analysen der Übersetzungsprozesse und -ergebnisse bei französischen und englischen Übersetzungen des berühmten Hölderlin-Gedichts "Hälfte des Lebens" aus verschiedenen Abschnitten des 20. Jahrhunderts verdeutlichte Peter Utz seine - unter anderem in Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Aufsatz "Die Aufgabe des Übersetzers" entwickelten - sechs Thesen zur "Nachreife des fremden Wortes" und zeigte, dass die genaue philologische Betrachtung und der Vergleich literarischer Übersetzungen einen erheblichen hermeneutischen "Mehrwert" zu erbringen vermag. Utz stellte sich damit bewusst in Kontrast zu der landläufigen Haltung, die in der literarischen Übersetzung in der Regel ein Verlustgeschäft sieht, wie z.B. Robert Frosts häufig zitiertes Diktum illustrieren mag: "Poetry is what gets lost in translation".
1. Die Übersetzer identifizieren in ihren Differenzen interpretationsbedürftige Stellen des Originals. Insofern wirken sie als produktive Fremdstellung des Eigenen.
2. Die Übersetzungen zeigen sich als sinnstiftende "Fortschrift" des Originals; die "Nachreife des fremden Wortes", die sie darstellen, wird dabei durch das Original induziert.
3. Die Übersetzungen indizieren als Transgression des Originals die ihm eigenen Sprachgrenzen.
4. Die vergleichende Lektüre von Übersetzungen erlaubt es, Übersetzungen historisch und kulturell zu lokalisieren, in ihrem Verhältnis zueinander und zum Original. Dieses wird seinerseits durch die Übersetzung auf seinen eigenen Ort hin befragbar.
5. Die Übersetzungen schaffen einen Raum, in dem sich der Übersetzer hören lässt. Sie entfalten die Stimme dessen, der hier liest und schreibt.
6. Sogar die Klanglichkeit und Metrik des Gedichts, die eigentlich als "unübersetzbar" gelten, gehen in den Übersetzungen nicht einfach "verloren", indem die Übersetzer sie als "Form" wahrnehmen und mit ihren Mitteln neu gestalten.
Bildquellen: FSGS