Distanz und Perspektive
Distanz und Perspektive |
In der Lerneinheit „Einführung in die Filmnarratologie“ wurde
bereits darauf hingewiesen, dass es im Film keinen Erzähler gibt, der als
anthropomorphe Gestalt die diegetischen Anteile einer Geschichte erzählt,
es sei denn es wird eine Voice-Over-Narration eingesetzt oder die Schauspieler
übernehmen als Teil des visuellen Kanals die narrative Funktion. In der Literaturwissenschaft
wird der Erzähler immer noch oft, wenn auch implizit, in die Nähe dieser
menschlichen Erzählergestalt gerückt, obwohl schon Wolfgang Kayser,
ein prominenter Erzähltheoretiker aus den fünfziger Jahren, die genaue
Beschaffenheit des Erzählers hinterfragte:
„Der Erzähler des Romans – das ist nicht der Autor, das ist aber auch nicht die gedichtete Gestalt, die uns oft so vertraut entgegentritt.“
Wolfgang Kayser: Wer erzählt den Roman? In: Ders.: Die Vortragsreise. Studien zur Literatur. Bern 1958. S. 82–101; hier S. 98.
Der Erzähler ist demnach kein Medium, das zwangsläufig mit menschlichen
Attributen zu uns Lesern bzw. Zuschauern spricht, er bleibt „ein Schemen“
Wolfgang Kayser: Wer erzählt den Roman? In: Ders.: Die Vortragsreise. Studien zur Literatur. Bern 1958. S. 82–101; hier S. 98.
, auch wenn er bisweilen so nah an
den Figuren ist, dass er scheinbar mit ihnen verschmilzt. Das Gleiche kann für
den Film gelten: Eine narrative Instanz erzählt und dies mit allen ‚Puzzleteilen‘
des kinematographischen Codes. Diese helfen, diegetisches Erzählen im Film
möglich zu machen, teilweise von dem unbestimmten Ort der VON aus, teilweise
aus der hochgradig sichtbaren Figurenperspektive, die ein Verschmelzen von Figur
und Erzähler evoziert.
Selbst wenn man in Bezug auf den Erzähler eine Analogie zwischen der literarischen
und der filmischen narrativen Instanz feststellen kann, besteht für den Film
weiterhin das Problem der Schriftsprachlichkeit. Denn wie soll eine narrative
Instanz im Film diegetische Sachverhalte vermitteln, die in der Literatur über
den Erzählertext transportiert werden? Da Film zwar keine Sprache ist, aber
als Zeichensystem wie eine Sprache funktioniert
Vgl. James Monaco: Film verstehen. 5. Auflage. Reinbek bei Hamburg 2004, S. 158.
werden einige Aspekte, die anhand eines schriftsprachlichen
Textsystems entwickelt wurden, an das Zeichensystem Film ‚angepasst‘.
Eine der wesentlichen Differenzen zwischen literarischem und filmischem Erzählen
ist die Gleichzeitigkeit. Es wurde in der Einführung zur Filmnarratologie
schon beschrieben, wie diese Gleichzeitigkeit sich durch das filmische Zeichen
konstituiert und sich auch auf den ‚höheren‘ Ebenen, den Erzählregeln
des filmischen Codes, wieder finden lässt.
Im Bereich des filmischen Modus fallen die beiden wesentlichen Kategorien, Distanz
und Perspektive, zusammen. Wenn man den schriftlich-linearen Text
auf seine modalen Eigenschaften hin analysiert, nimmt man die diegetischen Anteile
des Textes (Erzählung von Ereignissen) und prüft sie auf ihre Perspektive
und Fokalisierungen hin. Bei den mimetischen Anteilen (Erzählung von Worten)
lassen sich verschiedene Formen der Personenrede feststellen, die man ebenfalls
mehr oder weniger präzise aufspüren und benennen kann. Auf diese Weise
ist es möglich, die Regulation von narrativer Information in einem Text narratologisch
zu bestimmen.
Der filmische Code, vorausgesetzt es handelt sich um einen Tonfilm, funktioniert
anders: Hier bildet die Kamera (bzw. das Kameraverhalten, das wir im filmischen
Code sehen), darauf wurde schon in der vorherigen Lerneinheit hingewiesen, mit
ihrem ‚stummen‘ Zeigen der visuellen Komponenten des Films so etwas
wie eine ‚diegetische Basis‘. Die Kamera erzählt auf visueller
Ebene die Ereignisse (Diegesis) und verbindet damit auch die auditive Ebene, auf
der die Erzählung von Worten liegt (Mimesis). Damit unterstützt sie
auf eindrückliche Weise Genettes Beobachtung, dass alle mimetischen Anteile
einer Erzählung im Grunde eine „Mimesis-Illusion“ (S. 118) sind.