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„Denken ist Unterscheiden – Kritische Erkenntnisbegründungen in Antike und Moderne“

Tagung vom 24.-26. April 2008 in Marburg (Tagungsort: Marburger Schloß)

Daß der Grundakt des Denkens das Unterscheiden von etwas Bestimmtem ist, ist die Basiseinsicht, die im frühen Griechenland die abendländische Philosophie und Erkenntnistheorie begründet hat. Daß seiend demnach das ist, was unterschieden werden kann, also etwas Bestimmtes, legte den Grundstein für die erste kritisch begründete Ontologie und Metaphysik und die Hinwendung zu einer über das dingliche Sein hinausgehenden Suche nach den Kriterien des Seins und des Denkens.

Es war der eleatische Philosoph Parmenides, der mit seiner Seinsanalyse die Einsichten formulierte, die Platon in seinen Dialogen als systematische und umfassende Philosophie explizierte und in ihren Konsequenzen für die Möglichkeit der Erkenntnis des Sinnlich-Wahrnehmbaren und eines kritisch begründeten Handelns in der empirischen Lebenswelt durchdachte.

Auch Aristoteles fußt mit seiner Wissenschaftstheorie und Konzentration auf die Bedeutung des Widerspruchsaxioms auf diesen Erkenntnissen. Die aristotelische und platonische philosophische Tradition der Spätantike und des (christlichen, jüdischen und muslimischen) Mittelalters ist in diesen Bahnen weitergegangen und hat im philosophischen Unterricht, in den sog. Artes liberales und den mittelalterlichen Summen und Artistenfakultäten die Basis geschaffen für ein konsequent unterscheidungsphilosophisches Denken in Philosophie, Wissenschaft, Literatur und Theologie, das beinahe 1000 Jahre lang unangefochten blieb.

Demgegenüber wurde in den drei großen Philosophenschulen des antiken Hellenismus eine neue philosophische Bewegung kultiviert, die den Seinsbegriff ebenso wie die Grundkonzeption des Denkens revolutionierte. Als Grundakt des Denkens galt nun nicht mehr das Unterscheiden, sondern die kritische Repräsentation von passiv rezipierten Anschauungsbildern vor dem Bewußtsein. Damit erschien nun auch das sinnliche Existieren als primäre Bedeutung des Verbum „Sein“. 500 Jahre lang bis zur Wiederetablierung platonischen Denkens als dominante philosophische Bewegung im 3. Jh. n. Chr. durch Plotin prägte dieses bewußtseinsphilosophische Denken die europäische Geistesgeschichte mit enormen Konsequenzen für alle philosophischen und wissenschaftlichen Disziplinen, für Kunst, Literatur und Religion.

Die Wiederentdeckung dieser hellenistischen, bewußtseinsphilosophischen Antike in der Frühen Neuzeit hat diese Gegenbewegung gegen den antiken Platonismus und Aristotelismus zu der prägenden Denkfigur modernen Denkens und Selbstverständnisses avancieren lassen. Neue Formen eines kritischen, d. h. dem Wortsinn nach: „unterscheidenden“, Denkens wurden seit den spätmittelalterlichen Vordenkern der frühen Neuzeit, allen voran Johannes Duns Scotus, etabliert und fanden ihre kongeniale Weiterentwicklung in Descartes’ kritischer Methodologie der Meditationes und Kants drei Kritiken. Alle diesen Wenden wurden immer als Überwindung einer vorgeblich naiven, unkritischen Antike entworfen. Als diese unkritische Antike wird vor allem die platonische und aristotelische Antike stilisiert – und damit die Antike, die das krinein, das Unterscheiden zu ihrem höchsten Prinzip erhoben hatte.

Diese Wendebewegungen der Moderne gegen die Antike müssen aufgearbeitet werden. Die Basis dieser Aufklärungsbewegung des modernen Denkens über sich selbst aber ist die Einsicht in die Konstitution der platonischen Philosophie als Unterscheidungsphilosophie und ihrer Verschiedenheit von einer auf der Analyse der Repräsentation von rezipierten Vorstellungen gründenden Bewußtseinsphilosophie, wie sie die Neuzeit und Moderne zur Vollendung geführt haben. Der Begriff und die Konzeption des Unterscheidens und der Kritik sind in diesen Kontexten in der Forschung bislang nicht hinreichend und nicht als allgemeine geistesgeschichtliche Leitfäden in der Konstitution der Moderne einer Revision unterzogen worden, die alle verschiedenen Möglichkeiten des krinein in den Blick nimmt.

Die Tagung „Denken ist Unterscheiden: Kritische Erkenntnisbegründungen in Antike und Moderne“ faßt diese Zusammenhänge zwischen Erkenntnisbegründung und wissenschaftlicher und literarischer Praxis daher dadurch ins Auge, daß der Begriff ‚Kritik‘ bzw. ‚kritische Erkenntnisbegründung‘ auf neue Weise durch eine erweiterte historische und interdisziplinäre Perspektive thematisiert wird.

Es möchte so in der Gegenüberstellung mit neuzeitlichen kritischen Wenden einen Beitrag leisten zur Analyse des kritischen Potentials der platonischen und aristotelischen Philosophie und der Gründe, warum dieses Potential in Neuzeit und Moderne bestritten werden konnte.

Der Begriff ‚Kritik‘ führt unmittelbar ins Zentrum der Überwindungsbewegungen, in denen sich die Moderne gegen die Antike abgegrenzt und ihr Selbstverständnis entwickelt hat. Um die Wirkmacht dieser Kritikbewegungen gegen die Antike vor Augen führen zu können, ist es erforderlich, diesen Kontexten interdisziplinär im Dialog zwischen Philosophie, Literatur- und Kunstwissenschaften nachzuspüren.