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Blind!

„Blind!?“

1.1 Blind:

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1.2 Blind:

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1.3 Blind:

Ich sehe Nebel.

Es ist eines dieser Experimente in der Gestalttherapie, bei denen es nicht um das „so tun als ob“ (ich blind oder sehbehindert) geht, sondern eher um das Erfahren und Erleben selbst.

Dabei ist klar, dass eine Simulation nicht vergleichbar mit der täglichen Lebenspraxis einer sehbehinderten Person sein kann – und trotzdem ist es eine Einladung zu einer Erfahrung! In der Mitte des Raumes liegen fünf Brillen, die verschiedene Augenkrankheiten simulieren sollen.

Die Brillen wurden auf Vorschlag eines Teilnehmers und in Absprache mit der Leiterin in eine gestalttherapeutische Ausbildungsgruppe, bei der ich selbst in Ausbildung bin, mitgebracht. Nun liegen sie in der Mitte.

Neugierige Blicke fallen darauf. Erste Personen greifen danach. Schauen kurz hindurch, lachen, legen sie wieder weg, geben sie weiter: „Lass mich auch mal schauen!“ – „Schau mal, das ist ja komisch, da sieht man ja wirklich gar nichts, oder doch ja, ein bisschen Licht kommt durch!“

Hintergrund des Experiments ist, dass es mehrere Personen mit Sehbehinderung in dieser Gruppe gibt, davon haben zwei eine ähnliche Augenerkrankung, bei der die Sicht bis zu 90% weniger beträgt als bei dem überwiegenden Rest der Gruppe. Diese 90% können nicht durch eine Brille ausgeglichen werden.

Irritation war eigentlich der Ausgangspunkt, der zu diesem Experiment führte.

„Mir fällt auf, dass deine Mimik kaum wahrnehmbar ist, du wirkst so starr manchmal!“

Das „irgendwie anders sein“, aber nicht greifen können, was es ist.

Die Gruppe erfuhr so von Corinna, dass sie wenig sieht.

Für Corinna[1] ist es scheinbar ein „Nicht-Thema“, das heißt, dass sie dem Wenig-Sehen-Können wenig Beachtung beimisst – durch das Außen, das Thematisieren der Irritation, wird es dann aber doch zum Thema.

Die Gruppenleiterin ermutigte im Laufe der Ausbildung immer wieder dazu, mit allem da zu sein, was ist, denn „nur dann können es auch andere möglicherweise verstehen. Wir alle können nicht alles gleich gut und entwickeln Strategien das zu kompensieren. In der Gestalt geht es darum, dessen, was ist, möglichst gewahr zu sein.“

Die Leiterin führt weiter aus, dass man die Sackgasse eines anderen nur verstehen könne, wenn man sich in die Sackgasse mit hineinversetze. Das heißt, dass man als Therapeut*in auch seine Position wechseln kann. Oder nach einem indianischen Sprichwort: „Verstehen heißt, in den Schuhen des anderen gehen.“

Die Leiterin lädt die Teilnehmenden des Ausbildungsseminars zu einem Sehexperiment ein: „Setzt die Brillen auf, für eine Stunde mindestens, wer mag, und seid damit einfach während des Seminars da!“

Es ist eine Einladung, der gefolgt werden kann oder auch nicht.

Eine Einladung an die Sehenden, sich einzulassen für eine kurze Zeitspanne; die eigenen Sehmöglichkeiten einzuschränken und zu erforschen, wie es sein könnte, weniger zu sehen; wie es ist, sich damit in der Welt zu bewegen; wie es ist, damit in einer Gruppe zu sein – dafür liegen nun die Brillen da. Beziehungsweise sitzt eine davon auf meiner Nase.

Neugierig bin ich.

Fünf Brillen, je eine andere Sehstörung, die simuliert wird.

Ich lasse mich ein auf das Experiment – ich bin die Einzige, die es über einen längeren Zeitraum ausprobiert.

Ich sehe mit dieser Brille auf dem rechten Auge nichts. Auf dem linken Auge befindet sich direkt vor meiner Pupille ein blinder Fleck und ansonsten nehme ich Umrisse war, ebenso wie Farben, Licht etc.

Die Welt ist ein bisschen wie in Nebel gehüllt.

Und aus dem „es war ein Mal eine Gruppe, in der ein Sehexperiment vorgeschlagen wurde“, wird Realität, neblige Realität.

Anders als bei Menschen, die eine permanente Sehbehinderung haben, sind meine Augen zunächst sehr mit der Umstellung beschäftigt.

Vielleicht wird mir hier eine Anstrengung bewusst, die Corinna als Normalität erfährt, da das alltäglich für sie ist?

Die Brille setzte ich auf, als wir in der ganzen Gruppe in einer Runde saßen, nichts ahnend, was in der nächsten Stunde eigentlich passieren wird.

Ich erfahre es während ich mit dem Nebel vor meinen Augen noch zu tun habe.

Die Brille drückt außerdem etwas unangenehm auf meine Nase.

In Dreiergruppen sollen wir die nächste Stunde in einer Triade an einem persönlichen Thema arbeiten in den Rollen als Klient*in, Beobachter*in und Therapeut*in. In dieser Stunde kann mit einem Anliegen der Wahl der Klient*in gearbeitet werden. Die Kleingruppe, an der ich teilnehme, beschließt, die Sitzung nach draußen zu verlegen.

Meine Augen müssen sich an die neue Situation erst gewöhnen.

Ich merke, dass ich langsamer laufe; das Treppenlaufen funktioniert schon mal. Ich spüre, dass ich meinen Tastsinn mehr hinzunehme. Auch das Schuhe binden klappt erstaunlich gut. Es macht sich bemerkbar, wie sehr manche Handgriffe im Körpergedächtnis gespeichert sind. Nur beim Zurückkommen finde ich meine Hausschuhe schlecht alleine und muss um Hilfe bitten.

Wir sitzen als Kleingruppe draußen und es wird schnell klar, dass ich die Rolle der Therapeutin übernehmen soll, da eine Teilnehmerin Beobachterin sein will und die andere Klientin.

Selbst ausgesucht hätte ich mir diese Rolle in einer solchen Situation wohl nicht, aber ich nehme die Herausforderung an. Mein Herz schlägt schneller, und ich fühle mich angestrengt, spüre eine Spannung an meiner Stirn und schwitze mehr.

Ich fühle mich unsicher, da ich meinen Sehsinn nicht in gewohnter Weise verwenden kann.

Normalerweise beobachte ich immer sehr genau, was körperlich bei der anderen Person passiert, während sie redet, da die Sprache des Körpers mir oft wichtige Hinweise gibt. Jetzt funktioniert es nur eingeschränkt und ich bin ziemlich mit mir und dem Sehen beschäftigt. Ich strenge mich an, möglichst viel von der anderen Person mitzubekommen.

Ich sehe beispielsweise, dass etwas im Gesicht der anderen passiert. Es sieht aus wie ein Lächeln, aber sicher kann ich mir nicht sein. Die einzige Möglichkeit, im Kontakt zu bleiben, nah an ihr dran, ist zu fragen:

„Ist da gerade ein Lächeln?“

Sie beschreibt, dass es ein Lächeln war, aber dass sie die Nase hochgezogen hat dabei, was eine neue Facette ist, die ich nicht sehen konnte.

„Es ist also mehr ein Naserümpfen als ein Lächeln?“

„Ja! – Stimmt.“

Immer wieder beuge ich mich während des Prozesses mehr nach vorne, um nah am Geschehen dran zu bleiben.

Die Einstiegsphase dauert relativ lange und immer wieder merke ich mein eigenes Bemühen.

Die anschließende Reflexion fällt etwas anders aus als erwartet.

Sie ist begeistert!

Interessanterweise spiegelt mir die Klient*in zurück, dass sie meine Arbeitsweise sehr angenehm fand, mein „Mich zu ihr hin Beugen“ fühlte sich für sie wie eine Zuwendung an, bei der sie mein Interesse deutlich wahrgenommen hat und sich dadurch gesehen fühlte. Dass ich weniger gemacht habe, hat ihr gut gefallen – sie hatte dadurch das Gefühl mehr Raum zu haben.

Ich bin innerlich noch ganz aufgedreht und kann es gar nicht so richtig nehmen.

Was hat sie grade gesagt? Gut fand sie es, wirklich? Puh – und dabei war ich doch oft mit meinem eigenen Sehen und dessen Grenzen befasst. Offenbar konnte ich das aber „gut“ kompensieren.

Nach Beendigung der Arbeit in der Triade und wieder zurück im Kreis der gesamten Gruppe nehme ich die Brille ab.

Farben, Formen, Gesichter – ich sehe die einzelnen Wimpern meiner Nachbarin. Ich sehe den kleinen Leberfleck rechts neben der Nase. Ich sehe eine Kette mit einem grün melierten Stein und auch die Fassung des Steines kann ich deutlich erkennen!

Ich sehe!

Farben, Formen, Linien im Gesicht, Lächeln, ernste Blicke. Und ich höre!

So viele Details, die plötzlich wieder sichtbar werden, in kleinsten Bewegungen anderer.

Ich schaue auch mich genau an, meine Hände, die kleinen Äderchen, die Linien in meiner Handinnenfläche – verwunderlich, wunderbar.

Während die Leiterin etwas erzählt, merke ich, dass ich meine Nachbarin ständig fragen könnte: „Was hat sie nochmal gesagt?“... „und jetzt?“

Mein akustisches Fassungsvermögen ist gering – oder besser gesagt, ich höre, aber ich verstehe nicht, mein Körper scheint noch sehr mit den „wieder neuen“ Seherfahrungen beschäftigt zu sein. Nach einiger Zeit ändert sich das wieder.

Sehend!

Die Momente des Übergangs wurden für mich besonders markant. Sie resultierten daraus, dass es etwas zum „Übergehen“ gab.

Einen Zustand des Sehens, von dem ich ausging und zu dem ich wieder – wenn auch mit anderer Erfahrung – zurückkehren konnte: Ein Ausflug, der aber zwangsläufig anders sein muss als ein permanenter Zustand des Wenig-Sehens. Eine Permanenz, die für andere zur Normalität geworden ist.

Was heißt es, wenn etwas zur Normalität geworden ist?

Braucht es nicht manchmal das Fremdsein, um etwas erfahren zu können?

Ich erzähle meiner Mutter von dieser Erfahrung. Ihr, die nur auf einem Auge sieht. Meine Mutter atmet durch. „Ja, manchmal vergesse ich, dass ich nur auf einem Auge sehe und wundere mich, dass ich so schnell müde werde!“

Es verwundert mich nicht.

Alles schaffen, wie alle anderen auch. Die eigenen Kinder im Kindergarten aber nicht sehen können, sondern fragen müssen „ Wo sind sie denn?“

„Na, direkt neben dir!“

Alltagsszenen für sie, Corinna. Für mich nicht.

Begreifen!

 

[1] Name geändert

 

(Januar 2015)