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Vers de Circonstance / Verse unter Umständen

Stéphane Mallarmé (1842–1898) hat als Dichter, Übersetzer und Visionär der Avantgarde-Künste ein vielgestaltiges Werk hinterlassen, das teils zumindest im deutschsprachigen Raum noch nahezu unbekannt ist. Dazu gehört die Buchausgabe der Vers de circonstance/Verse unter Umständen mit 482 Versgedichten, herausgegeben von seiner Tochter Geneviève und deren Ehemann Edmond Bonniot. 1920 erschienen, ist der Band mit dem vielsagenden und implikationsreichen Titel, der auch Verse zu Anlässen oder Verse zu Gelegenheiten ankündigen kann, nun zu seinem Jubiläum nach 100 Jahren im Rahmen dieses Projekts erstmals komplett ins Deutsche übertragen worden.

Die folgende kleine Auswahl der meist vierzeiligen Gedichte soll einen ersten Eindruck von der staunenswerten Fülle ihrer Tonarten und poetischen Bilder geben: Häufig scherzhaft, galant oder freundschaftlich-neckend spielen viele Verse auf Eigenheiten, Gewohnheiten oder Verhältnisse ihrer Adressatinnen und Adressaten an. Zur Besonderheit dieser Dichtung gehört so auch ihre Verankerung in Szenen des geselligen Lebens und entsprechend ritualisierten Praktiken und Umgangsformen, die wiederum ältere poetische Traditionen zitieren und diese für die Salons, den Künstlerfreundeskreis Mallarmés und den literarischen Markt in Paris, der ›Hauptstadt der Moderne‹, modifizieren.

Die Verse auf Briefumschlägen, Visitenkarten, gefalteten Papierfächern, Photographien, Ostereiern und Kieselsteinen bilden jedoch zudem in der untrennbaren Verbindung von Schriftträger, Schreibmaterial und graphischem Gebilde je individuelle poetische Artefakte, die hier, soweit möglich, in Abbildungen zumindest zu erahnen sein sollten.

Jede Übersetzung kann dabei nur ansatzweise die Fülle von Anspielungen, Bezügen und Mehrdeutigkeiten der teils mehrsprachigen Gedichte mit ihren vielen unübersetzbaren Eigennamen erhellen: Auch diese vermeintlich beiläufig geschriebenen Verse müssen jeweils als Schrift- und Klanggebilde gelesen werden, damit das virtuose Spiel mit Buchstaben und Lauten annähernd erfasst werden kann. Das beschriebene und beschriftete Objekt verlangt zudem je eigene Aufmerksamkeit, zumal dort, wo die Verse auf Dingen deren spezifische Materialität benennen und selbstreflexiv kommentieren.

Im gemeinsamen Versuch, das typische Silbenmaß des Vierzeilers Mallarmés und dessen charakteristische Reimstruktur nachzuahmen, zeigen sich die kollaborativ erarbeiteten deutschen Fassungen hier in mindestens fünf verschiedenen Perspektiven: Übersetzt haben Christin Krüger, Cornelia Ortlieb, Kristin Sauer, Katherina Scholz und Vera Vogel.