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Künstlerische Praktiken im Zeichen von Algorithmizität und Computerisierung: digitale Artefakte zwischen Literatur und bildender Kunst

Bearbeiter: Timo Sestu

Die Geschichte elektronischer Medien, insbesondere des Computers, ist von Beginn an auch die Geschichte von mit und an ihnen operierenden künstlerischen Praktiken. Die Ursprünge künstlerischer Sprachverwendung scheinen überhaupt in kombinatorischen Modellen zu ruhen, von germanischen Runenzeichen, die Ferdinand Saussure untersucht (Starobinski 1980), bis zum chinesischen ‚I Ging‘ aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. (vgl. Wilhelm 1924).

Das Teilprojekt richtet den Blick auf die Anfänge des Computerzeitalters ab den 1950er Jahren und untersucht literarische Artefakte, die sich die Möglichkeiten des Computers zunutze machen und zugleich kritisch reflektieren. Sie kommentieren dabei einerseits den breit geführten Technikdiskurs der Zeit, der sich insbesondere auch mit der Veränderung der Arbeitswelt durch fortschreitende Maschinisierung und Automatisierung beschäftigt, andererseits stehen sie damit auch in der Tradition der historischen Avantgarden und ihrer Vorläufer, deren künstlerisches Wirken eng mit der industriellen Revolution und der Industrialisierungsschübe um 1900 verknüpft ist.

Das Projekt untersucht deutsche, italienische und französische Artefakte der 1960er und 1970er Jahre, die auf jeweils spezifische Weise mit Dispositiven des Digitalen (Algorithmizität, Referenzialität, Gemeinschaftlichkeit; vgl. Stalder 2016) verknüpft sind. Neben kritischen Impulsen affirmieren digitale Artefakte bisweilen dort Technologie, wo sie als Werkzeug von Ideologiekritik dient. Der Computer als kybernetisches Hybrid von Geist und Maschine verabschiedet etwa auratische Autorschaftsmodelle und verweist auf die Kontingenz von Sinn und Bedeutung. Solche Schreibkonstellationen im „Team ‚Mensch-Maschine‘“ (Bense 1971, S. 96) finden sich etwa bei Nanni Balestrini mit seinem Gedicht ‚Tape Mark I‘ sowie bei Oskar Pastior mit der Erstellung der Bildtafeln im Anhang des krimgotischen Fächers. Digitale Artefakte errichten auch Widerstände gegen ihre Rezeption, indem sie sich einer einfachen Handhabung entziehen: Besonders deutlich wird dies etwa bei Raymond Queneaus ‚Cent mille milliards de poèmes‘, aber auch beim ‚Landsberger Poesieautomaten‘ von Hans-Magnus Enzensberger, der Vorarbeiten zu diesem Automaten bereits 1974 anfertigte.

Unter dem Begriff „Digitale Artefakte“ werden mithin Papier-Gegenstände, Maschinenkunstwerke und Analog-Digital-Hybride über historische, geographische und sprachliche Grenzen hinweg zusammengestellt und hinsichtlich ihrer politischen Implikationen um ‚1967‘ (Stockhammer 2017) untersucht.

 

Literaturnachweise

  • Bense, Max (1971): Die Gedichte der Maschine der Maschine der Gedichte. Über Computer-Texte. In: Max Bense (Hg.): Die Realität der Literatur. Köln, S. 74–96.
  • Stalder, Felix (2016): Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp.
  • Starobinski, Jean (1980): Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure. Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Ullstein.
  • Stockhammer, Robert (2017): 1967. Pop, Grammatologie und Politik. Paderborn: Wilhelm Fink.
  • Wilhelm, Richard (1924): I Ging. Das Buch der Wandlungen. Jena: Diederichs.