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Jahrestagungsbericht „Borrowed Wor(l)ds. Aneignung jenseits des Anführungszeichens“

Mit welchen Formen von Aneignung beschäftigt sich die Literaturwissenschaft? Und welche Vorstellungen von Ursprung, Eigentum und Subjektivität liegen literaturwissenschaftlichen Aneignungen zugrunde? Die von 2020 auf 2021 verschobene Jahrestagung der FSGS Borrowed Wor(l)ds. Aneignung jenseits des Anführungszeichens widmete sich Fragen dieser Art und eröffnete eine interdisziplinäre Debatte zwischen Philologie antiker und moderner Sprachen, Komparatistik und Literatursoziologie. Am Abend präsentierten Künstler*innen der Berliner Literaturszene ihre literarischen Aneignungen und Aneignungsstrategien. Im Anschluss daran führten Gesa Jessen und Alexander Kappe ein Werkstattgespräch mit den Künstler*innen über die Rolle der Aneignung in der Kunst und Literatur. Die Tagung fand im hybriden Format statt. Alle Sessions, einschließlich der in Präsenz tagenden Paneldiskussionen, waren über einen eigens für die Tagung eingerichteten Blog zugänglich: https://userblogs.fu-berlin.de/borrowed-worlds.

Seit geraumer Zeit lebt die Debatte über cultural appropriation in den Literatur- und Kulturwissenschaften. In der Komparatistik hat sich der Terminus appropriation literature eingebürgert. Das Stichwort der ‚Appropriation‘ lenkt zunächst den Blick auf das Proprietäre – auf das Eigentum. Das deutschstämmige Wort ‚Aneignung‘ dagegen bezeichnet eher den Prozess der Übertragung, sodass z. B. Wissen, Sprachen, oder gar ganze Wissensbestände angeeignet werden können, ohne dass dabei Eigentumsverhältnisse ausgehandelt werden. Vor diesem Hintergrund zielte die Tagung darauf ab, die vielfältigen Formen der Aneignung mit Blick auf Literatur zu untersuchen.

Außerhalb des europäischen Kulturraums, aber auch in der europäischen Vormoderne begegnen uns Literaturen, die von der zeitgenössischen literaturwissenschaftlichen Debatte oftmals übersehen werden – kompositorische Praktiken, die ein genuin unproblematisches Verhältnis zu Übernahmen und Aneignungen haben, ja zum Teil gar auf solchen Prozessen fußen. In der jüngeren Geschichte hat die Literatur sich zunehmend neuen Medien geöffnet, ist aber zugleich neuen geopolitischen Eingrenzungen und Transformationen ausgesetzt. Die Tagung nahm daher eine außergewöhnliche Spannbreite an Literaturen in den Blick: Von Homer über transnationale Literaturen der ehemaligen Sowjetunion bis hin zu geklauten Tweets in den sozialen Medien wurde hier unterschiedlichsten Formen und Bewertungen von Aneignung nachgespürt.

Im ersten Panel des Tages trafen Glenn Most (University of Chicago/Scuola Normale Superiore di Pisa), Islam Dayeh (Freie Universität Berlin) und Jane Gilbert (University College London) unter Leitung von Bernhard Huß (Freie Universität Berlin) aufeinander. Dieses Panel erkundete Aneignung aus der Perspektive antiker griechischer, mittelalterlicher romanischer und moderner arabischer Schreib-, Überlieferungs- und Editionspraktiken.

Im zweiten Panel kamen Gisèle Sapiro (EHESS/CNRS, Paris), Zaal Andronikashvili (Leibniz Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin), Ethel Matala de Mazza (Humboldt-Universität zu Berlin) und Maria Rubins (University College London) unter Leitung von Susanne Frank (Humboldt-Universität zu Berlin) zusammen. Aneignung wurde in diesem Panel aus einem Spektrum moderner Forschungsperspektiven diskutiert: von der russischsprachigen literarischen Diaspora über die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, die Literatursoziologie mit Beispielen aus dem modernen französischen Kulturbetrieb, bis zur Frage der Beziehung zwischen minor literature und world literature am Beispiel der kulturellen Entwicklung der Stadt Tbilisi.

In einer Session zwischen diesen beiden Panels wandelte sich der Hörsaal zum regelrechten Theorielabor: Im Vorfeld aufgezeichnete Videobeiträge und PowerPoint-Präsentationen von Promovierenden der Schlegelschule wurden nun im Hörsaal gezeigt und parallel auf dem Tagungsblog live geschaltet. Tagungsgäste konnten vor Ort oder von Zuhause die Beiträge über den Blog kommentieren und mit den Promovierenden in Echtzeit diskutieren.

Aneignung jenseits von Epochen, Institutionen und Grenzen
Aneignung ist ein alltäglicher Begriff. Das Wort hat jedoch zugleich eine lange Tradition in der Philosophie. In der Stoa bezeichnet Aneignung die Art und Weise, wie Wissen mit Ethik verbunden ist. Bei den christlichen Philosophen der Spätantike wird dieses Verhältnis von Wissen und Ethik nicht selten durch gastrische Metaphern dargelegt, z. B. bei Augustinus (354–430), der den Genuss Gottes als Ziel des menschlichen Strebens bestimmt, oder bei Philon von Alexandria (ca. 20 v. u. Z.–50 u. Z.), der zwischen der Unersättlichkeit des menschlichen Strebens nach Wissen und dem Glück göttlicher Schau unterscheidet (vgl. Carsten Flaig).

Zwischen der antiken philosophischen Bedeutung von Aneignung und der späteren juristischen Bedeutung des Einverleibens eines fremden Sachwerts ist eine ästhetische Dimension zu identifizieren. Francesco Petrarca (1304–1374) beschreibt in seinen Briefen seine Dichtung explizit als (manchmal unbewusste) Aneignung. Er spürt, dass er nach wiederholtem Lesen eines Textes diesen in seinem Gedächtnis nicht mehr vom eigenen Werk unterscheiden kann (vgl. Nicolas Longinotti). Diese Art der unbeabsichtigten, aber gleichzeitig unvermeidbaren Aneignung erweist sich schnell als ein Charakteristikum beispielweise der romanischen Literaturen der Renaissance. Ist aber nicht ein ähnliches Phänomen auch in modernen, postmodernen und post-postmodernen Literaturen zu beobachten – etwa in Form der Montage, des Remix und der geklauten Tweets?

Tweetklau auf Twitter ist ein allgegenwärtiges Phänomen. Immer wieder wird diskutiert, inwiefern Literatur, die auf sozialen Medien publiziert wird, urheberechtlich geschützt werden soll (vgl. Paul Wolff). Trotz der neuen Medien der Literatur ist das Phänomen des Wiederverwendens von Textmaterial nicht neu. So zeigt z. B. die „journalistische“ Tätigkeit des Anarchisten Félix Fénéon (1861–1944), dass anonymisierte Aneignung und das Zuschneiden von Texten anderer zu den Praktiken der historischen Avantgarde gehören (vgl. Ethel Matala de Mazza).

Hier wird die unleugbare Nähe zwischen ‚Aneignung‘ und ‚Appropriation‘ sichtbar. Wie ist die Arbeit der Literaturschaffenden einzuordnen, wenn diese Arbeit zu nicht geringem Teil aus Praktiken des Leihens, Klauens, Zuschneidens, Wiederverwendens – oder kurz: des Aneignens – besteht? Diese sozialen und rechtlichen Dynamiken im Spiel der Literaturproduktion werfen nicht nur die Frage nach dem Autorsubjekt auf, sondern auch eine Frage nach dem Verhältnis von schreibendem Menschen, Verlagsbetrieb und staatlichen Institutionen wie Kulturförderung etc. (vgl. Gisèle Sapiro).

Literatur im Kontext moderner und gegenwärtiger Soziologie und Politik bedarf außerdem einer Reflexion der geopolitischen und demographischen Veränderungen, denen die Literatur stets ausgesetzt ist. Migration bringt immer kulturellen Wandel mit sich, ob in der Herkunfts- oder in der aufnehmenden Kultur. Wenn Literatur migriert, wandelt sich ihre Kommunikation. Wenn aus der Fremde zurückgekehrte Migranten erleben, in ihrem Heimatland nicht mehr verstanden und akzeptiert zu werden, vermischen sich An-eignung und Ent-eignung (vgl. Amêvi Akpaglo). Umgekehrt kann Diasporaliteratur als positiver Katalysator linguistischer und kultureller Entwicklung fungieren, indem sie eine eigene dritte Position zwischen Majoritätssprache bzw. Majoritätskultur und Minorität eines geographischen Gebiets bildet (vgl. Maria Rubins). Wieder anders können Aneignungspraktiken zu einem dezidierten Identitätsmarker werden im Versuch, eine transnationale und kosmopolitische Identität zu entwickeln (vgl. Zaal Andronikashvili).

Zeichen und Stimmen der Aneignung
Editorische Praktiken explizieren die Aneignung bisweilen semiotisch. So markieren die Kopisten des romanischen Mittelalters in ihren Handschriften Übereinstimmungen von Reimen mit Reimen oder von Stimmen mit Personen sowie Strukturen innerhalb von Sonetten anhand graphischer Klammern (vgl. Jane Gilbert). Auch den Editionspraktiken der arabischen Moderne ist solch semiotische Aneignung nicht fremd. Während Ḥasan Ḥusni al-Ṭuwayrānī ein ausgeklügeltes, neuartiges Zeichensystem für Interpunktion und Vortrag arabischer Texte vorlegt, adaptiert Aḥmad Zakī Pāshā (1867–1934) die editorischen Praktiken europäischer Kollegen – mit erheblichen Konsequenzen für die arabische Schriftsprache (vgl. Islam Dayeh).

Semantische Aneignung hingegen ist bei der historischen Figur der Margery Kempe (1373–1438) und der biblischen Figur der Judith zu erkennen. Die Analphabetin Kempe bemächtigt sich in einer Zeit, als das Schreiben noch das Privileg der männlichen Gelehrten war, ihrer eigenen Biografie, indem sie sich die Stimme Jesu aneignet und ihn zu ihr selbst sprechen lässt. Um es in zeitgenössischen Begriffen zu sagen, übt Kempe eine feministische Praxis durch mystische Aneignung (vgl. Marlene Dirschauer). In der historischen Rezeption der biblischen Judith ist zu erkennen, wie kulturelle und literarische Aneignung bisweilen (wenn auch nicht immer) ein gegenwärtiges, subjektives oder politisches Ziel verfolgt (vgl. Marie Kleiber). Bei Friedrich Schelling (1775–1854) hinwiederum gilt die Aneignung des Mythos als Ausweg aus dem Kerker der Vernunft, in dem sich der Mensch nach Ansicht des Romantikers gefangen sieht (vgl. Sepid Birashk). Nicht zu vergessen der Ahnherr aller (europäischen) literaturwissenschaftlichen Diskussionen um Autorschaft, Homer, dessen Biografie sich durch die Jahrhunderte immer wieder neu schreibt, je nachdem, wie sich Epochen und Gelehrte die Figur Homer jeweils zu eigen machen (vgl. Glenn Most).

Lehrstuhl für Lippensang
Nach einem intensiven Tag der theoretischen Auseinandersetzung mit ‚Aneignung‘ lud die Abendveranstaltung zur Vorlesung mit den Schriftsteller*innen Özlem Özgül Dündar, Dagmara Kraus und Alexander Lehnert also known as Audrey Naline ein. Audrey eignete sich das Podium des Hörsaals an und ernannte sich zur Professorin für Lippensang. Ihre Antrittsvorlesung an der „Humboldt Universität“ (sic) bestand in mimischem Mitsingen zweier Texte von Dündar und Kraus. Außerdem vermochte Audrey die Zukunft einiger Gäste anhand eines Föhnes und eines dime novel vorherzusagen.
Ob Lippensang, Klangkollage (Kraus), fiktionalisierte Aufarbeitung realer Ereignisse (Dündar), Übersetzungsprozess, Verfremdung, Zitat, Inszenierung… – Aneignung zeigte sich auch in der Abendveranstaltung als eine Irritation und Inspiration für die künstlerische Arbeit mit der Sprache.

Aneignung als kritischer Begriff
Ganz am Anfang des Tages stand die Begrüßungsrede der Direktorin der Schlegelschule, Jutta Müller-Tamm. Sie erinnerte uns daran, dass Aneignung sich zwischen zwei Extremen bewegt: zwischen wertschätzender Bezugnahme einerseits und übergriffiger Inbesitznahme andererseits. Die Produktivität der Aneignung gründet genau in dieser Zwischenposition. Deshalb auch steht die Aneignung als Praxis Wissenschaftler*innen nur dann zur Verfügung, wenn sie Verantwortung für die darin inbegriffene Machtausübung übernehmen. Aneignung ist nicht gratis; im besten Fall ist sie ein gegenseitiger Austausch.

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