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V. Y. Mudimbe - Samuel Fischer-Gastprofessor im Sommersemester 1999

Als zweiter Lehrstuhl-Inhaber der Samuel Fischer-Gastprofessur für Literatur leitete der congolesische Schriftsteller und an den Universitäten Stanford und Duke lehrende Autor V. Y. Mudimbe im Sommersemester 1999 am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin ein Seminar über Theorien der Differenz.

Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler veröffentlichte zahlreiche Bücher, die sich mit der Zerrissenheit Afrikas zwischen Tradition und europäischem Einfluß auseinandersetzen. Er beschreibt den Prozeß der Auflösung und Zerstörung, verursacht durch die Kolonialisierung, Missionierung und Entwicklungshilfe.

Over the past two decades, Professor Mudimbe has written twenty-one books (including three novels and a book of poems), co-edited thirteen volumes, and published a body of essays that have established him as a world-renowned scholar in the field of African studies. His The Invention of Africa (1988) is now acknowledged by specialists and non-specialists alike as a breakthrough book and one that fundamentally reshapes the entire field of inquiry.

Professor Mudimbe is at home as much in European as in non-European philosophy, is a noted classicist, Romance linguist, literary Africanist, and novelist, and has published on questions of African history, religion, and society. His work since the mid-1980s has become increasingly more interdisciplinary in scope. Both in his own writing and in his editing projects, Professor Mudimbe is bringing a number of disciplines to bear not only on the culture of Africa but also on the relation of different ethnic groups in other parts of the world.


Kurzvita

  • geboren am 8. Dezember 1941 in Likasi, Zaire
  • 1961-1965  Studium der Wirtschaftswissenschaften, Linguistik und Soziologie in Kinshasa, Löwen und Paris
  • Promotion in Romanischer Philologie
  • 1966-1971  Lecturer in Kinshasa, an der Louvain Universität, Belgien und an der Universität von Paris-Nanterre
  • 1971-1980  Professur für Linguistik und vergleichende Grammatik der indoeuropäischen Sprachen an der Universität von Zaire in Lubumbashi
  • 1981-1987  Professur am Haverford College, Haverford, Pennsylvania
  • 1988-1994  Professur für Romanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Duke University, Durham, North Carolina
  • seit 1995  Professur für Literatur und African Studies an der Stanford University, California
  • Gast-Professuren in Österreich, Belgien, Kanada, England, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, Mexico, Schweden, den Niederlanden, Norwegen, USA und verschiedenen afrikanischen Ländern
  • Herausgeber von Zeitschriften wie The Encyclopedia of African Religions and Philosophy, African Studies Review, World Literature Today


Publikationen

Romane:
  • Entre les Eaux. Roman.
    Paris (Présence Africaine) 1973,
    englisch: Between Tides. Translated by Stephen Becker.
    New York (Simon and Schuster) 1991.

  • Le bel immonde. Roman.
    Paris (Présence Africaine) 1976,
    deutsch: Auch wir sind schmutzige Flüsse. Übersetzt von Peter Schunck.
    Frankfurt am Main (Otto Lembeck) 1982.

  • L’Ecart. Roman.
    Paris (Présence Africaine) 1979,
    englisch: The Rift. Translated by Marjolijn de Jager.
    Minneapolis (University of Minnesota Press) 1993.

  • Shaba deux. Roman.
    Paris (Présence Africaine) 1989.
 

Poesie:
  • Déchirures. Poems.
    Kinshasa (Editions du Mont Noir) 1971.

  • Entretailles, Précédé de Fulgurances d’une lézarde. Poems.
    Paris (Editions Saint-Germain-des-Près) 1973.
 

Monographien:
  • The Invention of Africa. Gnosis, Philosophy and the Order of Knowledge.
    Bloomington (Indiana University Press) 1988.

  • Fables and Parables.
    Madison (University of Wisconsin Press) 1991.

  • The Idea of Africa.
    Bloomington (Indiana University Press) und London (James Currey) 1994.

  • Tales of Faith.
    London (Athlone Press) 1997.
 

Sonstiges:
  • Réflexions sur la Vie Quotidienne.
    Kinshasa (Editions du Mont Noir) 1972.

  • Autour de la Nation.
    Kinshasa (Editions du Mont Noir) 1972.

  • L’Autre Face du Royaume: Une Introduction à la Critique des Langages en Folie.
    Lausanne (L’Age d’homme) 1973.

  • Les Fuseaux Parfois.
    Paris (Editions Saint-Germain-des-Près) 1974.

  • La Culture et la Science au Zaïre 1960-1975. Essai sur les Sciences sociales et humaines.
    Brussels (mimeo) 1980.

  • L’Odeur du Père. Philosophical essay.
    Paris (Présence Africaine) 1982.

  • Les Corps Glorieux des mots et des êtres.
    Montréal (Humanitas) und Paris (Présence Africaine) 1994.
 


Medienecho

 

Bericht

Mudimbes Ausgangsthese ist radikal: Sämtliche ›Differenzen‹ sind konstruiert. Sie sind künstlich und daher wandelbar, re-interpretierbar. Mit Michel Foucault fragt Mudimbe, wie die Diskurse der Differenz als Diskurse der Macht zu verstehen sind: als keineswegs ›unschuldiges‹ oder ›natürliches‹ Wissen, sondern als grundsätzlich problematische Konditionierungen unserer Wahrnehmung von eigener ›Identität‹ und fremder ›Andersheit‹. Mudimbe führte den Studenten in seinen Erörterungen vor Augen, wie diese Diskurse sich historisch formierten und welche Veränderungen sie durchliefen.

In der Tradition klassischer französischer Philosophen wie Descartes und Sartre nahm Mudimbe seinen Ausgangspunkt in der Frage nach der ontologischen, existentiellen und phänomenologischen Dimension der grundlegenden Kategorien ›Ich‹ (›I‹) und ›Wir‹ (›We‹, ›Us‹), ›Sie‹ (›They‹) und ›Anderer‹ (›Other‹). – Mudimbe erläuterte die Etymologien der Kern-Konzepte ›Differenz‹ (lat. dif-ferre), ›Diversität‹ (lat. di-vertere, di-vergere), ›Normalität‹ (lat. norma), ›Anomalie‹ (griech. an-ómalos, nicht: a-nomos!), Pathologie (griech. páthos), Wissen (lat. cognoscere, cum-nasci, span. conocer) etc.

Die Konstruktionen verschiedener ›rassischer‹, ›geschlechtlicher‹ und ›sozialer‹ Differenzen untersuchte Mudimbe diskursgeschichtlich: Als Altphilologe fragte er beispielsweise, wie in der europäischen Antike die ›Identität‹ der Pólis sowie deren ›Differenzen‹ imaginiert wurden. Autoren wie Herodot, Diodorus und Strabo beschrieben etwa das Reich der Amazonen, das sie in einer exotischen Fremde verorteten, als subversive Antithese des griechischen Modells. Als Diskursanalytiker zeigte Mudimbe, welchen Einfluß verschiedene historische Formen der Wissens-Organisation (z.B. Focus auf Ähnlichkeiten, Klassifizierung nach Unterschieden, Historie, Analogien) auf die Wahrnehmung von Differenzen hatten: So legte er etwa dar, wie das von französischen Autoren entwickelte, ursprünglich soziale Konzept einer aristokratischen ›Rasse‹ (die sich als altfränkischer Adel germanischen Blutes gegenüber einer romanischen Bevölkerung imaginierte) u.a. mit dem Aufkommen des Nationalismus im 19. Jahrhundert und mit der naturwissenschaftlichen Umstellung der Humanwissenschaften (z.B. auf Biologie) in ein ethnisches um-codiert wurde.

Mudimbes Ausführungen beinhalteten eine Reihe provozierender Fragen: Wenn 25 Millionen US-Amerikaner unter Depressionen leiden – was ist dann noch normal und was deviant? Wenn ein Prozent aller Neugeborenen als Hermaphroditen von den Ärzten stillschweigend ›korrigiert‹ werden – welchen Einfluß hat dies auf die Wahrnehmung der Differenz von ›weiblich‹ und ›männlich‹? Wenn ein brasilianischer Wissenschaftler von tiefdunkler Hautfarbe in seinem Reisepaß aus sozialen Gründen als ›Weißer‹ definiert wird – wie stabil sind dann unsere Vorstellungen von Hautfarbe und Rasse? Mudimbe beschrieb amüsiert, wie ihn ein Dekret der Regierung Mobuto zwang, seine europäischen Vornamen (Valentin Yves) zu afrikanisieren und in Vumbi Yoka zu verdoppeln. Die Initialen V. Y. sind also zweifach lesbar – oder sogar mißverständlich: Zu einer feministischen Konferenz war Mudimbe einmal als einziger ›Mann‹ eingeladen worden – weil die Veranstalterinnen annahmen, daß sich hinter seinen Initialen weibliche Vornamen verbargen.

Als Autor von The Invention of Africa und The Idea of Africa nahm Mudimbe kritisch Stellung zu verschiedenen zur Zeit diskutierten ›Minority Discourses‹ wie ›Afrocentricity‹, ›Négritude‹ oder ›Subaltern Studies‹. Als jemand, der innerhalb des US-amerikanischen Elite-Universitäts-Systems funktioniere, könne er selbst es sich nicht anmaßen, für Minderheiten zu sprechen, stellte Mudimbe fest. Mit pointierten Thesen und Statements wie diesem sowie mit einer Reihe anekdotischer Exkurse in den Wissenschafts-Betrieb würzte Mudimbe seinen im übrigen in Form einer didaktischen Vortragsreihe nach französischem Stil durchgeführten Unterricht, an den sich jeweils am Ende der Sitzungen ein oder zwei Fragen aus dem studentischen Publikum anschlossen.

Das Seminar bezog sich auf die ›Klassiker‹ des Feldes wie Frantz Fanon, Judith Butler, Martin Bernal, Eric Hobsbawm, Edward Said, Louis Althusser und Simone de Beauvoir.

Ergänzt wurde V. Y. Mudimbes Seminar durch einen Vortrag und ein anschließendes Gespräch mit dem Romanisten und Afrikanisten János Riesz im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek in der Potsdamer Straße und eine Diskussion mit Peter Weibel im Haus der Kulturen der Welt sowie eine Lesung aus V. Y. Mudimbes literarischem Werk in Verbindung mit einem intellektuell-biographischen Gespräch am Institut für AVL.

Oliver Lubrich