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Traum und Trauma der digitalen Utopie. Eine Studie zu Entwicklung und Spezifik der russischen Literatur im Internet

PD Dr. Henrike Schmidt. DFG-Forschungsprojekt

Je nach ästhetischem und weltanschaulichem Credo wird das technische Potenzial von Computer und Internet für die Literatur positiv betrachtet als Erweiterung ihrer Gestaltungsmöglichkeiten oder negativ als ihre ›automatische‹ Banalisierung und massenhafte Profanierung. Die digitale Utopie – sie erscheint als Traum oder als Trauma. Dabei richtet sich der Blick oftmals auf die scheinbar universalen technischen und medialen Produktions- und Rezeptionsweisen der Computer- und Internetliteratur und verdeckt deren Verwurzelung in den historischen und kulturellen Kontexten. Das Forschungsvorhaben setzt sich vor diesem Hintergrund das Ziel, Entwicklung und Spezifik der russischen Literatur im Internet in den Jahren von 1994 bis 2004 zu untersuchen. Den Hintergrund der Betrachtung bildet die These, dass dem Internet im Russland der (Post)Perestrojka eine besondere Bedeutung für die zeitgenössische Literatur zukommt, da seine Verbreitung in eine Zeit des Zusammenbruchs der kulturellen Institutionen und des tradierten literarischen Normsystems fällt. In der Folge bilden sich spezifische Nutzungsweisen, literarische Inhalte und ästhetische Präferenzen heraus.

Die Studie umfasst entsprechend drei Kernbereiche: die literaturtheoretische Diskussion des Phänomens »Netzliteratur« im russischen Kontext, die Entstehung einer literarischen Infrastruktur und die Herausbildung einer spezifischen digitalen und kooperativen Ästhetik im russischen Internet. Etabliert sich im russischen Web ein Verständnis von Netz-Literatur, das stärker auf den inhaltlichen-normativen als auf den medial-ästhetischen Aspekt abstellt? Es soll untersucht werden, ob diese – hypothetische – Entwicklung neben dem zeitgeschichtlichen Hintergrund in einem historisch tradierten Medienbegriff begründet liegt, der dem Medium nur eine Trägerfunktion zubilligt und den Kern – die ›Essenz‹ des kulturellen Inhalts – nicht berührt.

Die Zielsetzungen der Arbeit entfalten sich in der Konsequenz auf verschiedenen Ebenen. Auf der faktographischen Ebene soll die Entstehung des russischen literarischen Internet exemplarisch dokumentiert werden. Auf einer literatursoziologischen Ebene sollen anschließend die Prozesse der Strukturierung des russischen literarischen Internet analysiert werden. Anhand von Fallstudien elektronischer Zeitschriften, Wettbewerbe, Bibliotheken und Foren wird dargestellt, welche Funktionen das Internet vor dem charakteristischen kulturellen Hintergrund (Samizdat, (Anti)Copyright, Graphomanie) für die Organisation der literarischen Kommunikation übernimmt. Die methodische Grundlage stellen die literatursoziologischen Arbeiten Pierre Bourdieus dar, dessen Kategorien des literarischen Feldes, des Habitus sowie des symbolischen Kapitals für die Analyse der Hierarchiebildungen im (russischen) literarischen Internet als besonders geeignet erscheinen.

Auf der Ebene der literarischen Genres (Hypertext, multi-mediale und interaktive Literatur, digitale und kinetische Poesie) steht die Frage der Ausbildung einer spezifischen digitalen und performativen Ästhetik im Zentrum. Besonderes Augenmerk wird dabei zum einen der digitalen Poesie mit ihren Verwurzelungen in der russischen Avantgarde gewidmet, zum anderen interaktiven Genres wie literarischen Tagebüchern oder Mystifikationen, denen innerhalb der russischen Netz-Literatur eine besondere Rolle zukommt. Methodisch werden hier Ansätze der Avantgarde-Forschung zu Grunde gelegt, die sowohl die historische Folie als auch das – zu modifizierende – analytische Instrumentarium liefern. Denn die technische Potenz der digitalen Technologie verändert, so die Hypothese, die Schock-Ästhetik der Avantgarde. An die Stelle des markierten literarischen Verfahrens tritt die kommunikative Strategie, an die Stelle der Verfremdungsästhetik die künstlerische Mimikry.

Insbesondere soll die Verknüpfung von Entwicklungen im Bereich der literarischen Infrastruktur mit der Herausbildung einer digitalen und interaktiven Ästhetik untersucht werden. Insofern grenzt sich das Forschungsprojekt auch von Herangehensweisen ab, die das Phänomen der Netzliteratur primär über die Kriterien der Innovation zu erfassen versuchen. Erforderlich ist vielmehr eine vergleichende Betrachtung von Einzelwerken innovativen Charakters und avantgardistischen Anspruchs mit massenkulturellen Schreib- und Lesepraktiken, die für das (russische) Internet in hohem Maße charakteristisch sind, etwa die besonders populären Selbstpublikationsforen oder die sich rasant entwickelnden literarischen Web-Tagebücher. Gerade vor dem Hintergrund des allgemeinen Transformationsprozesses, dem die russische Literatur in den 1990er Jahren unterworfen war, sind normative Verschiebungen im literarischen Gefüge und ästhetische Fragestellungen stark miteinander verwoben. Das Forschungsvorhaben wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert und von Prof. Dr. Georg Witte wissenschaftlich begleitet.