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Ehrendoktorwürde für Marcel Reich-Ranicki

Foto: Ausserhofer

Laudatio von Prof. Dr. Rolf-Peter Janz

(Institut für Deutsche und Niederländische Philologie)

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Sehr verehrter Herr Reich-Ranicki,
meine Damen und Herren,
liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen,

Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler sind einander in herzlicher Abneigung zugetan, jedenfalls in Deutschland. Mit Liebe und ebensoviel Argwohn werden von beiden Seiten die Vorurteile gepflegt. Literaturwissenschaftler sind gründlicher, scheuen aber das unübersichtliche Gelände der Gegenwartsliteratur, und was sie schreiben, ist unverständlich, so heißt es. Kritiker dagegen sind oberflächlich und bloß „subjektiv“, sagt man. Sie, Herr Reich-Ranicki, haben, auch als Gastprofessor an mehreren Universitäten, sehr viel getan, um mit diesen wechselseitigen Animositäten aufzuräumen. Sie haben in Ihrer eigenen kritischen Praxis das journalistische Temperament auf einzigartige Weise mit dem Habitus des Wissenschaftlers verbunden, der sich beim Lesen größte Genauigkeit abverlangt und der seine Urteile gut begründen muß, sollen sie glaubhaft sein und die Leser überzeugen. Das aber, seien wir ehrlich, geht im Zweifelsfall nicht ohne Polemik.

Das Genre „Laudatio“ hat seine Tücken, und kaum einer dürfte das besser wissen als Sie, denn Sie haben selbst mehr als eine Lobrede gehalten und mehr als einer zugehört.

Dieser Ehrung heute geht freilich eine Reihe von außerakademischen Titeln voraus, die man Ihnen, verehrter Herr Reich-Ranicki, im Laufe der Jahre zuerkannt hat, und die meisten stammen wohl von Journalisten; manche sind schmeichelhaft, andere weniger: einen Literaturpapst hat man Sie genannt, einen Pop-Star, einen Literatur-Wüterich, einen sadistischen Polemiker, einen Übertreibungskünstler etc. (Sie ahnen es: die Liste ist länger.) Gegen einige haben Sie sich öffentlich verwahrt, – vergeblich, soweit ich sehe.

Polemik ist also im Spiel, wenn es um die Literaturkritik geht, also um Ihren Hauptberuf, und zu Recht verweisen Sie auf Lessing, den Sie einmal den „Vater der Literaturkritik“ genannt haben. Ihr Lessing-Portrait hebt vor allem drei Züge hervor: Er hat darauf bestanden, daß Literaturkritik ohne Polemik nicht zu haben ist, er hat zur Institutionalisierung der Kritik in Deutschland erheblich beigetragen, und es ist ihm gelungen, Journalismus und Kritik ins rechte Verhältnis zu setzen.

„Die Herkunft vom Journalismus ist der kritischen Prosa Lessings fast immer anzumerken“, schreiben Sie in der Einleitung zu „Lauter Verrisse“. „Das hat ihr nicht geschadet. Im Gegenteil: Sie ist gerade in dieser Hinsicht vorbildlich (...) geblieben. Denn er [Lessing] diente der Wissenschaft mit dem Temperament des Journalisten und betrieb den Journalismus mit dem Ernst des Wissenschaftlers.“

Kein Zweifel, wer in dieser Weise Lessing portraitiert – und neben ihm andere Kritiker wie Fontane, Alfred Kerr, Alfred Polgar oder Tucholsky –, verfaßt zugleich auch ein Selbstportrait.

Kritik als Beruf, das hieß früher vor allem, sich heftigen Anfeindungen auszusetzen. Besonders beliebt war es, Kritiker mit Tieren (etwa Läusen, Flöhen oder Wanzen) zu vergleichen; der junge Goethe machte da keine Ausnahme. Von ihm stammt die Verszeile: „Schlagt ihn tot den Hund! Es ist ein Rezensent“. Doch unübertroffen in ihrer Radikalität bleibt wohl die Bemerkung Nietzsches, die Sie einmal mit Vergnügen zitieren: „Die Insecten, stechen nicht aus Bosheit, sondern weil sie auch leben wollen: ebenso unsere Kritiker; sie wollen unser Blut, nicht unsern Schmerz.“

Kritik als Beruf, das heißt für Sie, eine Vielzahl von Rollen gleichzeitig zu übernehmen, gleich ob Sie sie selbst gewählt haben oder ob sie Ihnen aufgedrängt worden sind. „Zwei Seelen wohnen [...] in des Kritikers Brust“, haben Sie 1963 in Ihrer „Selbstkritik des ‚Blechtrommel’-Kritikers“ angemerkt, in zwei Rollen tritt er gleichzeitig auf: als Rechtsanwalt und als Staatsanwalt.“

Als Anwalt vertreten Sie „mit liebevoller Teilnahme“ und unter Hinweis „auf mildernde Umstände“ die Sache der Literatur, weniger die des Autors; zugleich aber fahndet der Staatsanwalt im Kritiker nach allem „Schwachen, Fragwürdigen und Schlechten. [...] Im Interesse der Literatur kann ich nicht zu streng sein. Mein Schützling ist auch mein Opfer.“ Eine Rezension aus Ihrer Feder ist im Idealfall die Summe aus beiden Plädoyers.

Ein Richter, der Urteile spricht, wollen Sie nicht sein, und die im 18. Jahrhundert gängige Rede vom Kritiker als „Kunstrichter“ lehnen Sie ab. Urteile, sagen Sie, würden später einmal „von den hohen Richtern, den Literaturhistorikern gefällt.“ Auch wer geneigt ist, das als Kompliment zu nehmen, muß sich fragen, ob Sie uns, den Literaturhistorikern, nicht doch einen Teil der Arbeit abnehmen. Haben literarische Wertungen, in „Verrissen“ zumal, nicht doch den Charakter von Urteilen, mit spürbaren Folgen für das Buch, das Sie besprechen? Und für den Autor? Daß Autoren Ihnen einen Verriß nachtragen, bezeugt vielleicht nicht nur deren gekränkte Eitelkeit, sondern auch die Reichweite Ihrer Kritik.

Kritiker seien wie Lakeien vor der Saaltüre bei einem Hofball, hat Heinrich Heine einmal bemerkt, und ich denke, Sie haben auch ihn mit Vergnügen zitiert: zwar können sie unberechtigte Leute abweisen und andere einlassen, aber sie selbst, die Türsteher, dürfen nicht hinein. - Der Ballsaal ist den Schriftstellern vorbehalten, dort tanzt die Literatur.

Und eine weitere Doppelrolle haben Sie schließlich auch noch übernommen: die des Pädagogen und des Entertainers. Daß Nörgler Sie gelegentlich der Schulmeisterei bezichtigen, macht Ihnen nicht das Geringste aus, und daß Sie als ‚Lehrer’ auch noch ihr Publikum blendend unterhalten, ist ein Glücksfall – für die Literatur, das literarische Leben, für uns alle.

Sie haben bei älteren Literaturkritikern gelernt, Sie ziehen es vor, Ihre Kriterien aus den Werken selbst zu gewinnen und halten es statt mit der Theorie eher mit dem common sense, der besser ist als sein Ruf und den hinter sich zu lassen der Literaturtheorie oft schlecht bekommt. Deutungen eines Werks, die sich bei der Biographie des Autors rückversichern, sind Ihnen suspekt. Nur in einem Punkt sind Sie unerbittlich, und wer Gelegenheit hatte, Sie im „Literarischen Quartett“ in Aktion zu sehen, gegenüber den Mitstreitern nicht immer generös, hat es oft gehört: Literatur darf alles Mögliche, nur langweilen darf sie nicht. Doch Sie gestehen zu, oft schweren Herzens, daß ein anderer Leser das gleiche Werk, das Sie langweilt, faszinierend finden kann.

Ihre sensationelle Popularität hat vermutlich viel mit Ihrer Streitlust zu tun. Dabei wird – und das ist erklärlich – beharrlich ausgeblendet, daß sie nicht nur „Lauter Verrisse“, sondern auch ihr Gegenstück, „Lauter Lobreden“ herausgebracht haben. Einige spezielle Tugenden haben Sie zu einer Ausnahmeerscheinung in der deutschsprachigen Literaturkritik gemacht: anschauliche Sprache [knapp, „ohne Mayonnaise“], Verständlichkeit, intellektuelle Neugierde und der Mut, lieber falsch als halbherzig zu urteilen. Die größte Ihrer Tugenden aber ist die Passion für die Literatur, eine Leidenschaft, die sogar Ihre Gegner bewundern. Dabei gelten Ihre stärksten Sympathien der Lyrik. Seit mehr als dreißig Jahren veröffentlichen Sie in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Gedichte, lassen sie interpretieren und bringen sie in der „Frankfurter Anthologie“ heraus. Die Lyrik hat in Deutschland im Vergleich zur Prosa traditionell einen schweren Stand. Um so wichtiger ist es, daß Sie mit solchem Elan ein öffentliches Forum für die Lektüre von Gedichten unterhalten und damit selbst die Gebildeten unter ihren Verächtern erreichen. – Ich breche den Tugendkatalog hier besser ab, denn wer Ihnen, verehrter Herr Reich-Ranicki, Ihre Verdienste vorzählt, tut ja so, als seien es so wenige, daß ihrer einzeln gedacht werden müßte.

Es wäre für einen Kritiker aussichtslos, seine Vorlieben zu verheimlichen, das war Ihnen früh bewußt, und so machen Sie keinen Hehl aus ihnen und kehren immer wieder zu ihnen zurück: zu Heinrich Heine, Stendhal, Theodor Fontane, Thomas Mann, Nabokov und – neben Schiller – natürlich Goethe. Aber, Sie werben unermüdlich auch für Autoren, die wenig Aufmerksamkeit gefunden haben, so Wolfgang Koeppen oder Hilde Spiel.

„Über Ruhestörer“ heißt das Buch aus dem Jahre 1989, das Sie über jüdische Autoren geschrieben haben, denen die literarische Anerkennung lange verweigert wurde: unter ihnen wiederum Heinrich Heine, Ludwig Börne, Peter Weiss, Hermann Kesten, auf den Sie auch eine der „Lobreden“ verfaßt haben. Sie widmen es dem "Andenken jener, die von Deutschen ermordet wurden, weil sie Juden waren; und Sie nennen Ihren Vater, Ihre Mutter und Ihren Bruder.

Im August 1999 ist Ihre Autobiographie „Mein Leben“ erschienen. Auf dem Vorsatz steht: „Für Teofila Reich-Ranicki und Andrew Alexander Ranicki.“ Das Buch ist rasch ein Bestseller geworden, es wurde in viele Sprachen übersetzt, und der unglaubliche Erfolg hat alle überrascht, sicher auch Sie selbst. Der umstrittene Kritiker hat unversehens das Metier gewechselt und präsentiert sich als ein anderer, als Erzähler seines Lebens, der diesmal breite Zustimmung findet. Dieser Lebensbericht ist in vielen Passagen gerade deshalb ergreifend und bewegend, weil er leise Töne anschlägt, weil er Zweifel äußert, weil er auf Distanz bedacht ist und diskret bleibt. Beinah nüchtern berichtet er von der Todesangst der Juden während des Naziterrors in Polen. Man spürt, daß hier ein Erzähler am Werk ist, der nach der Flucht mit seiner Frau aus dem Warschauer Getto den Polen, die sie in ihrem Haus versteckten, über Stunden, Wochen und Monate Geschichten erzählen mußte, um zu überleben. Es waren Geschichten aus den Stoffen der Literatur.

Ihr Buch ist zugleich die einzigartige Geschichte Ihres Lebens und ein zeitgeschichtiches Dokument, und über beiden liegt – wie auch anders – eine unüberhörbare Melancholie. Überdies bieten Sie im Schlußteil eine Innnenansicht des literarischen Lebens in Deutschland, die kennenzulernen nicht immer vergnüglich ist.

Der kritische Türsteher, von dem Heine sprach, ist mit dieser Geschichte seines Lebens schließlich doch in den Ballsaal eingetreten, in dem nur die Schriftsteller tanzen. Und die haben Sie willkommen geheißen.

Das Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, der frühere Fachbereich Germanistik, hat 1982 die Ehrendoktorwürde an Hermann Kesten und Fritz Landshoff verliehen und damit ihre außerordentlichen Verdienste um die deutsche Exilliteratur in den Verlagen Allert de Lange und Querido in Amsterdam gewürdigt. Querido hat u.a. die Werke Klaus Manns verlegt. Einige Jahre später erhielt sie Leo Löwenthal, der Freund Adornos und Horkheimers, der mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung ins amerikanische Exil gegangen war. Wir freuen uns sehr, heute mit Ihnen diese Tradition fortsetzen zu können.

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