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Teilprojekt A03

Transformationen von Wissen und Gewissheit in den Lachkulturen der Frühen Neuzeit

Projektleitung: Prof. Dr. H.-J. Bachorski / Prof. Dr. Werner Röcke

Laufzeit: 01/1999-09/2001

Das Teilprojekt widmete sich zunächst der Frage nach den medialen Transformationen des rituellen Wissens in unterschiedlichen künstlerischen Praktiken (Theater, Literatur, Ikonographie) am Gegenstand der vormodernen Prozessionskultur. Dabei wurde die Prozession weniger als demonstrativ symbolischer Akt, als Widerspiegelung sozialer und religiöser Ordnungen verstanden, sondern vielmehr als ein Medium der Erfahrung und der (Selbst-)Wahrnehmung erfasst und somit auf ihren epistemologischen Wert hin untersucht. Es ging darum, Rollen und Funktionen von komischen Aufführungen, satirischen Texten und Spottbildern im Prozess der Vermittlung des rituellen/ habitualisierten Prozessionswissens und seiner Transformation in diskursives/propositionales Wissen näher zu bestimmen (Gvozdeva/Velten 2011). Während einerseits die Performativität von Text und Bild im Spannungsfeld von Prozession und Memoria am Beispiel der Bildkunstwerke von Triumphzug und Ehrenpforte Kaiser Maximilians I. untersucht und dabei die komplexen Bezüge zwischen habitualisiertem Prozessionswissen (prozessionales Abschreiten) und medial bedingten Imaginationstechniken festgestellt wurden (Velten), waren andererseits die epistemologischen Dimensionen von Bildern und Texten, die Wissensordnungen im Medium des karnevalesken Umzugs ausspielen, Gegenstand der Untersuchung (Gvozdeva 2010a u. Röcke 2009a). Die Untersuchungen zum Fastnachtspiel, zu Brant, Rabelais und den Songes drolatiques de Pantagruel (Gvozdeva in Gvozdeva/Velten 2011) und zum fastnächtlichen Reihenspiel (Röcke in Gvozdeva/Velten 2011) haben gezeigt, wie die medialen Praktiken das rituelle Prozessionswissen gleichzeitig in seinen Aspekten der Teilhabe und der Wirkung aufnehmen und es ins diskursive Wissen ummünzen, wobei die Prozessionsordnung zum Bild der Wissensordnung wird.

Der zweite Schwerpunkt der Untersuchungen im Teilprojekt lag auf dem Verhältnis von Wissen und Spiel in literarischen Texten. Dabei wurde der zentrale Begriff des „spielerischen Wissens“ („savoir ludique“) theoretisch bestimmt und es wurde damit ein bisher noch kaum erforschtes Feld der Interaktion zwischen zwei verschiedenen Formen des Wissens im Rahmen der gesellschaftlichen Unterhaltung eröffnet: nämlich zwischen performativem (habitualisiertem) knowing how und propositionalem knowing that (Spielregeln, Erstellung von enzyklopädischen Spielsammlungen). Zweitens erschloss der Begriff eine konsistente Perspektive, die schriftlich fixierten, normativen Wissensdiskurse auf ihre kommunikativen Entstehungs- und Transformationssituationen im Rahmen literarischer Soziabilität zu befragen. Aus diesem Blickwinkel konnte die Zirkulation des Wissens zwischen verschiedenen Orten der Herausbildung literarischer Diskurse und den jeweiligen kulturellen Institutionen (Salons und Akademien) verfolgt werden. Leitende Fragestellungen waren: Welche Rolle kommt der ludischen Soziabilität im Prozess der Institutionalisierung der literarischen Kommunikation zu? Welche Relationen bestehen zwischen Spielpraktiken und diskursiven Praktiken? Welche Funktion erfüllt das Spiel in der Konstitution von normativen Diskursen, die auf die Kodifizierung von linguistischen Normen, die Formierung des literarischen Geschmacks, die Entwicklung neuer literarischer Gattungen ausgerichtet sind? Ist es möglich, sich einen spezifischen Wissensmodus vorzustellen, der in den Spiel- und Unterhaltungspraktiken verankert wäre und somit seinen eigenen epistemologischen Wert besäße?

Der dritte Themenbereich unterteilte sich in drei separate, doch miteinander zusammenhängende Themen, bei denen die höfische Interaktionskultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit im Mittelpunkt standen. Hier ging es um die Frage, wie Wissen und Lachen innerhalb von Kommunikationssituationen in verschiedenen literarischen Gattungen (höfischer Roman, Heldendichtung, Minnesang, Anleitungsliteratur, Dialog) interagieren. Dabei interessierten uns mehrere Themen: das Thema des Spottes und der Verspottung, das der inszenierten Beschämung (Tagung „Scham und Schamlosigkeit“, Juni 2009) als soziale Interaktionsform mit hohem emotionalem Anteil, die Lachen zur Folge haben kann, und das Thema des Zusammenhangs von Lachen und Schweigen in der höfischen Kommunikation („Grenzen und Lizenzen der höfischen Kommunikation“, Tagung Berlin 2010).

In der letzten Förderphase widmete sich das Teilprojekt einem noch nicht erforschten Feld der europäischen Lachkulturen der Frühen Neuzeit: der Herausbildung einer „Wissenskultur des Lachens“ im Übergang von performativen zu diskursiven Praktiken. Ausgangspunkt war die aus der bisherigen Arbeit gewonnene Beobachtung, dass das Lachen ab dem 16. Jh. wesentlich stärker als zuvor in die Produktion konkurrierender Wissensordnungen eingebunden ist und auch erst in dieser Zeit wissenschaftlich reflektiert wird. Die leitende Fragestellung war, ob und auf welche Weise die in Texten und Bildern fassbare Lachkultur Wissen und Gewissheiten nachhaltig zu erschüttern, aber auch eventuell zu ihrem Fortschreiten und zu ihrer Verfestigung beizutragen vermag.

  
Projektrelevante Publikationen der letzten Förderphase:

Katja Gvozdeva, Werner Röcke (Hg.): Risus sacer – sacrum risibile. Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel. (= Publikationen zur Zeitschrift für Ger- manistik, 20). Frankfurt a. M. u.a.: P. Lang 2009.

Katja Gvozdeva, Hans Rudolf Velten (Hg.): Medialität der Prozession. Texte und Bilder ritueller Bewe- gung in der Vormoderne. Heidelberg: Winter Universitätsverlag 2011 (Beihefte zur GRM, 39).

Katja Govzdeva: „Karnevaleske Statuten im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Frankreich“, in: Von der Ordnung zur Norm. Statuten in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Gisela Drossbach. Padeborn: Schöningh 2010, S. 347-365.

Katja Govzdeva: „Performative Prozesse der Kulturbegegnung und des Kulturkontakts: hybrider und paradoxer Modus“, in: Paragrana. Zeitschrift für Historische Anthropologie 2 (2010).

Werner Röcke: „Identitätsverlust und Kontingenzerfahrung. Die Dialogisierung von Fastnachtspiel und antiker Komödie im Werk Jakob Ayrers“, in: Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten. Hrsg. von Klaus Ridder. Tübingen 2009. S. 178-197.

Werner Röcke: „‘Schadenfreude ist die schönste Freude‘. Formen aggressiven Gelächters in der Literatur der Antike und des Mittelalters“, in: Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike. Hg. von Martin Harbsmeier und Sebastian Möckel. Frankfurt a. M. 2009. S. 277-296.

Hans Rudolf Velten: Scurrilitas. Studien zur Körpergeschichte des Lachens in Literatur und Kultur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Habilitationsschrift Humboldt-Universität zu Berlin 2008.

Hans Rudolf Velten: „Spott und Lachen im Ring Heinrich Wittenwilers“, in: Spott und Verlachen im späten Mittelalter zwischen Spiel und Gewalt. Hg. von Stefan Seeber u. Sebastian Coxon. Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes (2010). H. 1, S. 67-79.