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Lettristische Dekomposition

Die lettristische Dekompositionen ist eine atomistische Zerlegung der Sprache in ihre kleinsten und nicht weiter teilbaren Einheiten sowie die Rekombination dieser Einzelelemente, so etwa bei Valeri Scherstjanoi, Gerhard Rühm, Ernst Jandl, Hans G Helms, Franz Mon, Oskar Pastior, und Michael Lentz. Die lettristische Dekomposition unterscheidet sich eben dadurch von traditioneller Poesie, weil in dieser traditionellen Poesie "das Wort dominiert" (Jandl 1999, S. 217), wie es der österreichische Dichter Ernst Jandl formilierte. Die begriffliche Fixierung dieser Dekompositionstechnik geht zurück auf den im 20. Jahrhundert geprägten Begriff „Lettrismus“, den der Franzose Isidore Isou mit seiner 1946 gegründeten Bewegung „Lettrisme“ entwickelte. Allerdings betonte Richard Grasshoff, dass eine genuin lettristische, also dem einzelnen Buchstaben zugewandte Dichtung, die den Buchstaben als solchen – jenseits seiner Funktion einer wortsemantisch organisierten Sprache – ins Blickfeld rückt, weit älter sei. So etwa betonte der Dadaist Raoul Hausmann in seinem Rückblick „Am Anfang war Dada“, er habe schon 1918 sogenannte „Buchstabenplakatgedichte“, d.h. "(g)roße sichtbare Lettern, also lettristische Gedichte“ verfasst (Hausmann 1980, S. 11).

Dieser dekompositorische Lettrismus ist nicht mit dem Prinzip der Montage oder Collage zu verwechseln, sondern stellt eine eigenständige Dekompositionstechnik dar, die sich von den genannten Dekompositionstechniken deutlich unterscheidet. Anders als die Collage bedient sich die lettristische Dekomposition der Buchstaben als den kleinsten Elementen der Schriftsprache, ohne diese wieder zu Wörtern und Sätzen zusammenzufügen. In der lettristischen
Dekomposition wird also weit stärker als in jeder anderen Dekompositionsform eine Entsemantisierung der Literatur betrieben, werden Worte und Sätze zu Buchstaben fragmentiert. Montagen im Sinne einer Neuanordnung sprachlich-semantischer Strukturen findet man zwar auch schon im italienischen Futurismus oder im Dadaismus, beispielsweise im „i-Gedicht“ von Kurt Schwitters oder in der „tavole parolibere“ von Filippo Tommaso Marinetti. Diese Techniken unterscheiden sich jedoch durch ihre lesbar bleibende Textur von genuin lettristischen Texten wie etwa Raoul Hausmanns Plakat- bzw. Lautgedicht "fmsbwtözäu / pggiv-..?mü", das nicht mehr resemantisierbar ist. Denn im Unterschied zu der bis dato bekannten Lautdichtung bleiben Hausmanns Laute abstrakt, werden also nicht durch eine Überschrift oder erkennbare Lautmalerei in einen semantisch erkennbaren Kontext stellt. Aus Hausmanns genuin lettristischer Dekomposition entwickelte Kurt Schwitters erst später die syllabische Dekompositionstechnik seiner Ursonate: "Fümms bö wö tää zää Uu, / pögiff, / kwii Ee", die nun ebenfalls eine rein klangliche Qualität aufweist.

Auch nach 1945 basiert die Lautdichtung auf solchen "Mikropartikeln der menschlichen Stimme", wie Bob Cobbing es einmal formulierte, überspringt also die syntaktischen und semantischen Sprachebenen, indem sie Gedichte auf die Anordnung von Buchstaben, Buchstabenfolgen und Silben nach bestimmten Mustern oder Serien reduziert. Die Technik der lettristischen Dekomposition findet sich nun etwa in der Poésie sonore des französischen Dichters Henri Chopin, in den Text-Klangkompositionen der Schweden Lars-Gunnar Bodin und Bengt Emil Johnson sowie bei Carlfriedrich Claus. Weitere Beispiele finden sich in der Dichtung der Australierin Amanda Steward, des Niederländer Jaap Blonk, des Russen Valeri Scherstjanoi, des Österreichers Gerhard Rühm, oder bei Michael Lentz, selbst Autor und Theoretiker des Lettrismus nach 1945. Das wohl bekannteste Beispiel findet sich in dem berühmten Band "Laut und Luise" des Österreichers Ernst Jandl. Zum einen teilt auch Jandl die poetischen Worte in Silben auf und reaktiviert damit die dadaistischen Klanggedichte etwa von Hugo Ball und Kurt Schwitters. Daneben finden sich hier aber auch die lettristischen Formen der Lautdichtung im Stile etwa von Hausmanns "fmsbw", so beispielsweise im Gedicht schtzngrmm.

Literatur:

Emanuely, Alexander: Das Gedicht à la lettre: Isidore Isou und der Lettrismus als Literatur des Widerstandes, in: Zwischenwelt 30,1 (2013) S. 37-41.

Hausmann, Raoul: Am Anfang war Dada. Herausgegeben von Karl Riha und Günter Kämpf. Gießen 1980.

Jandl, Ernst: Autor in Gesellschaft: Aufsätze und Reden, Darmstadt 1999.

Seaman, David W.: French Lettrisme: Discontinuity and the Nature of the Avant-Garde. In: Henry, Freeman-G (Hrsg.): French Literature Series, Vol. XXI, 1994. S. 159-169.