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Cut-up-Rhythmen

Die „cut-up-Technik“ ist eine stark zitathafte prosodische Form, die William Burroughs und Brion Gysin entwickelt haben. Ein frühes Beispiel ist das 1958 entstandene und 1961 im International Literary Annual publizierte poem of poems, in dem Gysin Fragmente aus dem "Song of Solomon", Shakespeares Sonetten und T.S. Eliots Übersetzungen von "Anabasis" von St. John Perse kombinierte. So entstand eine verbale Collage, basierend auf dem Vorlesen jedes Textes bzw. dem zufälligen Mischen und Rearrangieren der Fragmente, bis hin zu einer vollkommen neuartigen Kombination. Burroughs hatte 1959 den entsprechenden Begriff 'Cut-up' erfunden, nachdem Gysin durch Zufall zerschnittene Zeitungsschnipsel neu zusammengeklebt hatte und dabei neue Sätze sich bildeten, wie z.B. jener, als erster Cut-up Satz überlieferte aus «Minutes to go":

"There seemed little doubt however that Mr Eisenhower said, "I weigh 56 pounds less than a man, flushed and nodded curtly. Asked whether he had a fair trial he looks inevitable and publishes: "My sex was an advantage. He boasted of a long string of past crimes highlighted by a total eclipse of however stood in his path when he redid her apartment."

1966 wurde diese Technik erneut durch Audio-Tracks unterstützt, die von Burroughs, Gysin und Ian Somerville entwickelt wurden und aus verwirrenden Permutationen von nur vier Phrasen bestanden: "Ja, Hallo?", "Sieh dir das Bild an", "Scheint es weiterzugehen? ", und "gut. Vielen Dank."

Im deutschsprachigen Raum haben dann Autoren wie Jürgen Ploog und Carl Weissner diese Tradition des Cut–up als „Schnitt-Schreibweise“ übersetzt und folgendermaßen umschrieben: „Die simpelste Form ist, 2 beliebige Seiten eigenen oder fremden Textes senkrecht zu zerschneiden & die 4 Hälften in vertauschter Reihenfolge wieder zusammenzusetzen. Man beginnt nun über die semantischen Bruchstellen hinwegzulesen.“ (Ploog 1979, 108). Auch Rolf-Dieter Brinkmann hat diese Form in seinem wenige Tage nach seinem Unfalltod in London erschienenen Lyrikband Westwärts 1 & 2: Gedichte adaptiert. Typisch dafür sind Brinkmanns lange, mehrsträngige Synchron- oder Flächengedichte, deren Zeilen auf zwei oder drei Spalten aufgeteilt sind, bestehend aus reimlosen Versen, unregelmäßigen Rhythmen, eingestreuten Zitaten (besonders aus US-amerikanischen Songtexten) und einer großen Anzahl von Zeichen.

Eine etwas gemäßigtere Variante des cut-ups ist die Lyrik Paul Wührs, die ebenfalls auf teils direkten Zitaten und Zusammensetzungen verschiedenster historischer und zeitgenössischer Diskurse basiert, wobei Wühr mittels seiner intertextuellen Verweise auch im Sinne Michel Foucaults auf die Grenzen der Autorschaft verweist, ähnlich wie Heiner Müller. Ein weiteres eindrückliches Beispiel sind die Idiolekte Ulf Stolterfohts, die komplett aus unterschiedlichen Fachsprachen bzw. Fachbüchern etwa zu Schweinezucht, Radiotechnik oder Geologie bestehen: Stolterfoht verwendet Versatzstücke aus ganz unterschiedlicher Fachliteratur, weshalb die Grenze zwischen Eigenentwurf und Fremdzitat in seinen Gedichten nicht zu trennen ist.

In diesem Zusammenhang sind auch die Grenzen zur Dialogizität im Sinne Michail Bachtins zu bedenken: Kein echtes cut-up, sondern eher eine solch dialogische Form der intertextuellen Bezugnahme stellt etwa Max Czolleks Gedicht an einen vorgeborenen dar, das einen Dialog mit Bertolt Brechts An die Nachgeborenen unternimmt. Weit eher der cut-up-Technik von Gysin und Burroughs nachempfunden ist dagegen das Gedicht rätsel, kreuz, prozeß von Michael Lentz, das Wörter und Sätze ähnlich rigoros abbricht und vorgefundene Zitate zerschneidet.

Literatur:

Fahrer, Sigrid (2005): Cut-up: eine literarische Medienguerilla, Würzburg.

Ploog, Jürgen: Der Raum hinter den Worten. In: J. Gehret (Hrsg.), „Gegenkultur Heute. Die Alternativ–Bewegung von Woodstock bis Tunix“, Amsterdam 1979.

Weissner, Carl (Hg.): Cut-up. Der sezierte Bildschirm der Worte, Darmstadt 1969.