Thema der Tagung
Phronesis
Die Tugend der Geisteswissenschaften?
Im Sommersemester 1923 hielt Martin Heidegger in Marburg ein Seminar über Phronesis. Dort wurde das antirationalistische Potential dieses „ἄλλο γένος γνώσεως“, dieser „anderen Art von Erkenntnis“ erörtert. Denn die Phronesis fügt sich für Heidegger in seine Kritik an der abendländischen Seinsvergessenheit und sein Konzept der Verortung des Menschseins in der dinglichen Welt. Die Wirkung dieser Wiederentdeckung des aristotelischen Phronesis-Konzepts ist prominent in dem Hauptwerk eines der Teilnehmer dieses Seminars: in „Wahrheit und Methode“ von Hans-Georg Gadamer. Gadamer spinnt um dieses Konzept des praktischen Wissens ein Netz aus dem Begriff des Gemeinsinns, des Geschmacks, der cognitio sensitiva und des Takts. Dieses Netz, das Gadamers Verständnis der „anderen Vernunft“, das er in der Phronesis kennengelernt zu haben meinte, spann, ist seine neue wirkmächtige Methodik der Geisteswissenschaften.
Gadamer und Heidegger sind nur zwei Beispiele für eine der großen Bewegungen der Modernekritik: In dieser führen viele moderne Denker einen Kampf gegen die abstrakte, kühle Vernunft, die ein Produkt der Aufklärung und eine Essenz des modernen Selbstbewußtseins ist. Die Phronesis, d.h. die praktische Vernunft, die Aristoteles in der Nikomachischen Ethik gegen die Episteme, die wissenschaftliche Vernunft, abgrenzt, wird im Zuge dieser Modernekritik als Heilsbringer einer neuen ganzheitlichen, praktischen, erfahrungsgesättigten Wende gefeiert. Denn sie scheint eine Form der Vernunft zu sein, die alles das nicht an sich hat, was die Vernunft in der abendländischen Geistesgeschichte in Mißkredit gebracht hat. Sie ist praktisch, dem Handeln zugewandt, nicht theoretisch-spekulativ. Sie beruht nach Aristoteles (auch) auf Erfahrung – besteht nicht (nur) aus abstrakten Deduktionen. Sie ist eine Tugend des ganzen Menschen, nicht nur des Menschen, der wissenschaftlich vernünftig ist.
Deshalb konnte die Phronesis im 20. Jahrhundert zum Symbol des Aufbruchs in eine neue Epoche nach der Moderne avancieren. Sie konnte als das „Andere der Vernunft“ und dessen Überwindung inszeniert werden. Die praktische Philosophie emanzipiert sich damit zusammen mit den Geisteswissenschaften – wieder einmal – von dem Begründungsanspruch der theoretischen Philosophie und Theologie.
Es gibt demgegenüber in der Antike, von der mittleren Kaiserzeit angefangen bis in die Spätantike und ins hohe Mittelalter eine Tradition philosophischen Denkens, die das Verhältnis von Phronesis zu Episteme oder wissenschaftlicher Vernunft nicht als eines der Opposition auffaßt, sondern jene aus dieser ableitet, ohne die eine in der anderen aufgehen zu lassen. Diese Tradition ist für uns in den antiken und mittelalterlichen Platon-und Aristoteles-Kommentaren faßbar. Ihre Basis findet sie nicht in der Ethik, sondern in einem anderen Begriff von dem Wesen und der primären Funktion der Vernunft überhaupt, von der die praktische Vernunft eine Art ist. In dieser Tradition wird Vernunft oder Rationalität anders bestimmt als in der Aufklärung und von deren Wegbereitern, nämlich nicht als abstrakt-strukturelle Prozessualität, sondern als Vermögen, das die inhaltlichen Kriterien jedes Erkennens selbst zu seinem Gegenstand hat.
Die Tagung „Phronesis – die Tugend der Geisteswissenschaften?“ möchte mit der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Phronesis und Vernunft in der Antike, im Mittelalter, in der frühen Neuzeit, der Aufklärung und den folgenden aufklärerischen und anti-aufklärerischen Epochen bis in die Gegenwart einen Beitrag leisten zur Analyse und kritischen Gegenüberstellung der verschiedenen Vernunftbegriffe.
Weil die Phronesis nicht erst von Gadamer als ein Instrument und methodisches Prinzip auch der Geisteswissenschaften: der Philologien, Literatur-, Kultur- und Kunstwissenschaften entdeckt wurde, sondern seit Giambattista Vico als geisteswissenschaftliches Organon die Abtrennung der verstehenden Geisteswissenschaften von den erklärenden Naturwissenschaften vorbereitet, möchte die Tagung nicht nur einen philosophischen Diskurs führen, sondern interdisziplinär einen Dialog anregen zwischen der Philosophie und der Methodik der gegenwärtigen Literatur-, Kultur- und Kunstwissenschaften, sowie zwischen den Altertumswissenschaften und den modernen Philologien. Weil die Autarkisierung der Phronesis als Tugend der modernen Geisteswissenschaften eine Autarkisierung von der theoretischen Vernunft ist, muß an dieser Stelle auch die Frage nach den Möglichkeiten eines Dialogs mit der Theologie erörtert werden.