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Aesthetics of Access

Ein Gespräch zwischen Kristin Flade und Rafael Ugarte Chacón

Kristin Flade

Rafael, manchmal bist du zu Gast bei den Sitzungen von The Aesthetics of Applied Theatre. Wenn wir uns so besprechen und vielleicht ein bisschen anfangen, uns im Kreis zu drehen, ist es immer wieder schön und hilfreich, dich zu hören und eine andere Perspektive zu bekommen. Du hast dich nicht mit angewandtem Theater in deiner Dissertation beschäftigt, wenn man es streng nimmt. Vielleicht erzählst du ein bisschen, worum es ging?

Rafael Ugarte Chacón

Gerne. Ich habe mich mit Theateraufführungen beschäftigt, die sich gleichermaßen an ein gehörloses wie hörendes Publikum richten. Dabei war es mir wichtig, diese Ereignisse als Kunstereignisse zu verstehen. Sehr oft werden in diesem Kontext entsprechende Aufführungen unbesehen als therapeutische, heil- oder sozialpädagogische Maßnahme betrachtet. Dabei wird übersehen, dass – zumindest in den von mir gewählten Beispielen – durchaus neue Ästhetiken entstehen, die ich im Theater der Hörenden und auch dem der Gehörlosen nicht entdecken konnte. Gleichzeitig sind in so einem Aufführungskontext soziale, hierarchische, kulturelle und sprachliche Unterschiede innerhalb und zwischen den Akteuren und Zuschauern relevant, die Beachtung finden müssen – eine ‚rein ästhetische’ Betrachtungsweise ist daher meines Erachtens schwierig. Hier sehe ich die Anknüpfungspunkte zum Applied Theatre.

K.F.

Ich finde interessant, inwiefern solcherart Einschätzungen als "therapeutische, heil- oder sozialpädagogische Maßnahme" in einen Produktionsprozess gelangen, also an die Leute, die an diesen Inszenierungen beteiligt sind. Du bist ja auch an einigen Produktionen einer Gruppe involviert. Kannst du sagen, mit welchem Interesse diese Gruppe aufeinander getroffen ist? Und wie wurde und wird sie nach nun einigen Produktionen von anderen eingeschätzt?

R.U.C.

Ich arbeite als Produktionsassistent beim Verein Possible World e.V., der Theater- und Medienprojekte mit gehörlosen und schwerhörigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen realisiert. Einige von ihnen sind mehrfachbehindert, fast alle haben einen Migrationshintergrund. Außerdem arbeiten professionelle hörende Schauspieler mit. Als ich 2009 die erste Inszenierung der Gruppe gesehen habe, Frühling Erwache! frei nach Wedekind, war ich begeistert. Ich kannte die Gruppe damals noch nicht und wusste nicht, was mich erwartet. Die Regisseurin Michaela Caspar arbeitet viel mit Ein- und Ausschlussverfahren. So wird der Text teilweise in Gebärdensprache, teilweise in Lautsprache geäußert. Allerdings handelt es sich dabei nicht um Verdolmetschung, sondern um eine asymmetrische Informationsvergabe. Je nachdem, welchen sprachlichen Hintergrund ich habe, erhalte ich z.T. unterschiedliche Informationen zu unterschiedlicher Zeit. Das bedeutet, dass jeder im Publikum die Erfahrung des zeitweiligen Nichtverstehens und Ausgeschlossenseins aufgrund der Sprache macht – eine Erfahrung, die für Gehörlose alltäglich ist, aber Hörende sehr verunsichern kann.

In der Rezeption wurde oft auf die Biographien der Akteure eingegangen, ihre Gehörlosigkeit, ihren Migrationshintergrund. Auch die Finanzierung stammte nicht nur aus Mitteln der Kulturförderung, sondern auch aus Töpfen für soziale und pädagogische Projekte. All das weckt natürlich genau diese Assoziation an ein sozialpädagogisches Projekt für Jugendliche mit Behinderung. Allerdings ist in den Rezensionen deutlich geworden, dass sowohl unter Hörenden als auch Gehörlosen die Inszenierung als Kunst ernst genommen worden ist, die neue Erfahrungen ermöglicht und durchaus streitbar ist.

Die Gruppe ist auch nicht als sozialpädagogisches Projekt entstanden. Vielmehr hat die Regisseurin das Interesse gehabt, mit Jugendlichen, mit Laien zusammenzuarbeiten. Zusätzlich war sie schon seit Längerem von Gebärdensprache fasziniert. Also hat sie ein Casting an einer Berliner Gehörlosenschule veranstaltet. Ich selbst bin erst später dazu gestoßen.

K.F.

Ich kann dieses Gefühl der Verunsicherung in der Orientierung gut nachvollziehen und erinnere mich daran, wie ich eine von den Arbeiten gesehen habe, ja. Und auch daran, wie ich es als sehr eindrückliche politische Haltung empfunden habe, das zu behaupten, und jede Person im Publikum diese Lücken aushalten zu lassen.

In Vielem, was du schreibst, klingen die Dinge an, mit denen die Macherinnen und Macher von Applied Theatre auch immer wieder beschäftigt sind. Eine seltsame Zwischenposition, die, wie mir scheint, in vielen Fällen von außen klein gehalten wird und mit dem Label ‚Nicht-Kunst’ versehen wird. Ich frage mich da immer, wer das eigentlich entscheiden soll.

Gleich zu Anfang hast du über die Schwierigkeit gesprochen, die Aufführungen, die du beschreibst ‚rein ästhetisch’ zu betrachten. Wie bist du mit dieser Spannung methodisch umgegangen? Und ich meine das sowohl auf deinen Text hin, auch hauptsächlich auf ihn, aber auch mit Blick auf deine praktische Involviertheit, wenn du mir darüber etwas erzählen kannst.

R.U.C.

Mir ist im Laufe der Arbeit mehr und mehr klar geworden, dass ich selbst nur eine beschränkte Sichtweise auf die Ereignisse habe. Die Aufführungen richten sich an gehörlose und hörende Zuschauer – mir steht jedoch nur die Perspektive als Hörender offen. Die Wahrnehmungswelt Gehörloser bleibt mir verschlossen. Ich kann mir nicht einfach die Ohren zuhalten und sagen: „Jetzt bin ich mal taub.“ Die Wahrnehmung Gehörloser kann ich mir nicht vorstellen. Gehörlose haben eine andere visuelle und taktile Auffassungsgabe als Hörende. Neben physiologischen Wahrnehmungsunterschieden haben die meisten Gehörlosen auch eine andere sprachliche und kulturelle Prägung als Hörende und bewegen sich in anderen sozialen Kontexten. Auch diese stehen mir nur bis zu einem gewissen Maße offen.

Gleichzeitig ist eine Hierarchie festzustellen. Die Lebenswelt Gehörloser ist größtenteils von Hörenden bestimmt, die beispielsweise über die Bildung, medizinische Versorgung und Lebensführung Gehörloser weitreichende Entscheidungen treffen. Dies hat sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart zu Unterdrückung und Diskriminierung geführt – so war zum Beispiel Gebärdensprache in Ausbildungskontexten Gehörloser lange Zeit verboten, das hat sich erst ab den 1960er Jahren sehr langsam geändert. Das Verbot wurde wissenschaftlich begründet.

Daher habe ich als hörender Wissenschaftler, der über Gehörlose schreibt, eine gewisse Verantwortung, solche Strukturen nicht aufrechtzuerhalten. Die meisten Probleme zwischen Gehörlosen und Hörenden sind genau aus dieser Konstellation entstanden: Hörende schreiben über Gehörlose. Wie kann ich mich berechtigt fühlen, dies auch zu tun, ohne dabei ethisch fragwürdig vorzugehen?

In meiner Arbeit habe ich daher neben den Aufführungsanalysen, die natürlich auf meiner eigenen Wahrnehmung beruhen, weitere Vorgehensweisen gewählt. Zum einen habe ich mir Wissen über kulturelle Werte und Normen der Gehörlosencommunity angeeignet, die ich auf die untersuchten Aufführungen bezogen habe, um diese in das kulturelle Gefüge der Gehörlosen einzuordnen. Zudem habe ich Kritiken tauber Rezensenten berücksichtigt und z.T. auch Gespräche mit tauben Zuschauern geführt. Daneben habe ich die gewählten ästhetischen Mittel analysiert – also wie die Theatermacher selbst die Heterogenität des Publikums reflektieren und damit umgehen. Nicht zuletzt habe ich versucht, meinen eigenen Standpunkt transparent zu machen. Dazu gehört auch, die entsprechenden Unsicherheiten zuzulassen und auszusprechen. Wenn ich etwa gebärdensprachige Anteile nicht verstanden habe, wenn mir bestimmte kulturelle Codes nicht offenstehen, wenn mich mein eigenes Ausgeschlossensein verunsichert – das alles sind Faktoren, die mein Aufführungserleben prägen und für das Zusammentreffen von Gehörlosen und Hörenden typisch sind.

K.F.

Wie offen bist du mit deiner Forscherposition umgegangen, insbesondere dann, wenn du in die Probenprozesse künstlerisch und sozial integriert gewesen bist?

R.U.C.

Das ist eine schwierige Frage. Meine praktische Arbeit hat letztendlich relativ wenig mit meiner Forschung zu tun. In meiner Dissertation befinde ich mich in der Regel in der Zuschauerperspektive.

Die entsprechenden Probleme meiner Position waren mir am Anfang auch überhaupt nicht bewusst. Mir ist erst nach und nach klar geworden, dass ich einerseits nur eine beschränkte Perspektive habe, andererseits mich als Hörender auch in einer gewissen Machtposition befinde. Dies war für mich neu, da dies in der Theaterwissenschaft – anders als etwa der Ethnologie – in der Regel kaum reflektiert wird. Und schon gar nicht im Bereich von Behinderung und Gehörlosigkeit. Daher habe ich mich mit Gender und Postcolonial Studies beschäftigt, da hier entsprechende Hierarchien, historische Entwicklungen etc. im Fokus stehen, die ich versucht habe, auf mein Gebiet zu übertragen. Ob es mir gelungen ist, in meiner Arbeit Gehörlose auf eine angemessene Weise zu repräsentieren oder ob sich diese im Gegenteil bevormundet und falsch dargestellt fühlen, müssen letztendlich die tauben Leser entscheiden.

In der praktischen Arbeit ist dies noch einmal anders. Hier geht es vor allem um Arbeitsprozesse in der Gruppe. Dort haben wir weniger wissenschaftlich reflektiert als versucht, eine Balance zwischen den für die Teamarbeit notwendigen Hierarchien und der Einbindung Gehörloser in Verantwortungspositionen zu finden. Dies war und ist eine Entwicklung – eine Patentlösung gibt es nicht. Aber bei der aktuellen Produktion haben wir nun erstmals einen gehörlosen Dramaturgieassistenten sowie professionelle taube Schauspieler dabei. Außerdem können inzwischen alle hörenden Mitwirkenden ein Minimum an Gebärdensprache, sodass wir als Arbeitssprache nun Gebärdensprache gegenüber Lautsprache bevorzugen. Das ist eine große Veränderung der Arbeitsprozesse, die das Gruppengefühl sehr stark zum Positiven hin verändert hat.

K.F.

Eine bemerkenswerte Entwicklung!

Seid ihr mit anderen Gruppen im Austausch über solche Verhandlungen und Entwicklungen? Inwiefern tragt ihr solche Prozesse nach außen, in die Presse zum Beispiel? In diesem eurem begrenzten Rahmen praktiziert ihr ja vielleicht mehr oder weniger damit auch eine Form politischer Utopie, wenn dies das richtige Wort sein kann. Die von mir immer wieder befragte Nähe zum Aktivismus solcher Kunstpraktiken wäre etwas, was sich da für mich gedanklich anschließt. Hast du das Gefühl, dass das passiert?

R.U.C.

Natürlich haben wir ein Netzwerk von Kooperationspartnern und Praktikern, die Erfahrung in solchen Kontexten haben und uns in Gesprächen und Workshops neue Sicht- und Arbeitsweisen nahegebracht haben. Allerdings gibt es nur wenige, langfristig bestehende gemischte Gruppen, sodass ein solcher Austausch also eher mit Einzelpersonen stattfindet.

Die entsprechende Veröffentlichung solcher Arbeitsprozesse erfolgte bisher eher sporadisch. Bei dem, was ich dir erzähle, handelt es sich auch um sehr rezente Entwicklungen – ehrlich gesagt habe ich über eine Veröffentlichung bisher gar nicht nachgedacht. Ich denke auch nicht, dass unsere Arbeitsweise für alle Gruppen die beste sein muss – unsere Konstellation ist ja schon sehr speziell. Außerdem ist dies auch erst durch das Zusammenwachsen der Gruppe möglich geworden, die jetzt seit rund fünf Jahren zusammenarbeitet.

Ich weiß nicht, ob ich das Wort ‚Aktivismus’ wählen würde. Mein Interesse war zunächst einmal das Finden neuer ästhetischer Formen und die Nutzung des künstlerischen Potentials, das Gehörlose u.a. mit ihrer Gebärdensprache in eine Produktion einbringen können. Die politische Seite, die du erwähnst, ist mir auch erst später voll und ganz bewusst geworden. Das hängt natürlich damit zusammen, dass mir die Quantität und Qualität der entsprechenden Machtgefälle in der Gesellschaft auch erst später bewusst geworden sind. Ich denke, dass wir mit unserer Arbeit zeigen, dass Differenz und Heterogenität ein ästhetisches Potential bergen. Inklusion muss keine Pflichtübung und keine lästige Aufgabe sein, sondern kann eben Ergebnisse zeitigen, die man sich vorher nicht vorstellen konnte. Wie gesagt: ein Potential. Natürlich ist das nicht immer einfach, weil man sich von Denkgewohnheiten und vertrauten Arbeitsprozessen verabschieden muss – das dauert seine Zeit und ist mit Rückschlägen verbunden.

Wir haben aber nicht primär ein aktivistisches oder didaktisches Anliegen. Wir wollen interessante Inszenierungen machen und Leute ins Theater holen – sowohl auf die Bühne als auch ins Publikum –, die man dort nur selten antrifft.

 

Rafael Ugarte Chacóns Monographie “Theater und Taubheit” ist 2015 bei transcript Verlag erschienen.

 

(März 2013)