Filmische Erzählung I
Filmische Erzählung |
Oben ist schon ein einmal von dem ‚kinematographischen Material‘ des Films gesprochen worden. Mit diesem Material ist konkret die Summe der technischen, anthropomorphen und gegenständlichen Dinge des auditiven und visuellen Kanals gemeint, die zu einem Film gehören und mit dessen Hilfe wir den filmischen Erzähler und seine Präsentation der filmischen Erzählung erfassen können. Kamera, Schauspieler, Ausstattung, aber auch Licht, Musik, Soundeffekte und der Schnitt (der im ganzen Montage heißt) werden zum kinematographischen Material gezählt. Manchmal wird auch ein Voice-Over-Erzähler, der auch Voice-Over-Narration (kurz: VON) genannt wird (Narration ist hier nicht mit dem deutschen Begriff zu verwechseln, der den „Akt der Narration“ im Sinne Genettes bezeichnet, S. 15) eingesetzt. Diese VON ist keine Stimme aus dem Off. Die letztere gehört meistens einer Person der filmischen Diegese, die gerade nicht im Bild (On-Screen) zu sehen ist (Off-Screen). Die VON ist aber die explizite Erzählerstimme einer Person, die sowohl auf einer anderen technischen Ebene als auch auf einer anderen Erzählerebene angesiedelt ist. In der Lerneinheit „Filmnarratologische Analyse“ wird auf die VON als Erzählerstimme noch näher eingegangen. Die Gesamtheit dieses kinematographischen Materials, nennt der Semiotiker Umberto Eco den „kinematographische[n] Code“:
Umberto Eco: Einige Proben: Der Film und das Problem der zeitgenössischen Malerei. In: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zu Theorie des Films. 5. Auflage. Stuttgart 2003 (= RUB 9943), S. 305–324; hier S. 305.Der kinematographische Code stellt also in Verbindung mit dem filmischen Code
die Regeln bereit, die mittels der „Erzählregeln“ helfen, das
‚Wie‘ der filmischen Erzählung noch näher zu bestimmen.
Der Film – bzw. der filmische Code – als Gesamtheit, so wie wir ihn
letztendlich auf der Leinwand sehen, greift somit auf dieses oben im einzelnen
aufgelistete kinematographische Material zurück, während er gleichzeitig
erst durch sie konstituiert wird. Wenn im Folgenden also von den einzelnen Komponenten
oder dem Material des kinematographischen Codes gesprochen wird, ist damit immer
deren Realisation im filmischen Code gemeint.
Diese Realisation befindet sich auf der gleichen Ebene wie bei einem literarischen
Text, der bestimmte erzähltechnische Merkmale aufweist, denn Film und Literatur
erzählen beide, nur das Material, mit dem sie es tun, ist unterschiedlich.
Anna und Peter waren sich einig darüber, dass in ihrem Film „viel auf
einmal passiert“ ist. Nun, da deutlich wurde, dass der Film über das
kinematographische Material im filmischen Code erzählt, können wir entschlüsseln,
dass Anna auf eine bestimmte Form des Schnitts reagiert hat, den Parallel-Schnitt:
Während zunächst eine bestimmte Handlung an einem bestimmten Ort abläuft,
kann – mittels eines Schnitts zum nächsten Bild – eine andere
Handlung mit anderen Personen an einem anderen Ort gezeigt werden. Durch mehrmaliges
Hin- und Herwechseln zwischen diesen beiden Orten wird für den Zuschauer
klar, dass die Handlung sich zur gleichen Zeit abspielen muss. In dem Film, den
Anna und Peter gesehen haben, wurde durch diesen Parallel-Schnitt Spannung erzeugt.
In der Literatur wäre es sehr ungewöhnlich, wenn man Satz für Satz
von einer Handlung zur anderen springen würde. Höchstens in Abschnitten
oder Kapiteln wäre diese Form des gleichzeitigen Erzählens denkbar.
Ein Bestandteil des Erzählers im Film wird also durch die Montage bzw. den
einzelnen Filmschnitt ausgemacht, der vor allem das Zeitkontinuum, aber auch die
Abfolge von – manchmal gleichzeitigen – Ereignissen innerhalb eines
Films regelt.