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Zhang Yuanshan

(deutsche Übersetzung von Qian Ran)

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Zhang Yuanshan

(2001)

 

 

 

Also sprach das Abfallerz:
Liu Xiaofengs „Esoterische Worte
und exoterische Deutung Nietzsches“

 

„Meine Lehre ist in Gefahr, Unkraut will Weizen heißen!“

(Nietzsche)

 

Der Ausgangspunkt: Wessen „esoterische Worte“ eigentlich? Das darf nicht vernachlässigt werden!

Der Aufsatz „Esoterische Worte und exoterische Deutung Nietzsches“ (in: Shuwu (Housebook), 2000 Vol. 10) mit einem Umfang von 30.000 Zeichen vom Herrn Liu Xiaofeng ist ein aufwühlender fabelhafter Aufsatz. Er ist grandios und clever, sodass man erstaunt ausrufen muss; doch er ist gleichzeitig kryptisch und kompliziert, dass man sich verwirrt und ratlos fühlt. Ich bin immer für solche cleveren und komplizierten Texte, habe deshalb sofort Leute angerufen, oder ihnen gemailt, den Aufsatz weiter zu empfehlen, nachdem ich ihn einmal gelesen, aber nicht ganz verstanden habe – heimlich habe ich auf ihre Hilfe gehofft. Diese Freunde sind auch alle Stammleser von Shuwu und haben deren Artikel fast nie zu lesen ausgelassen. Bevor ich den Aufsatz empfohlen hatte, hatte kaum jemand ihn gelesen. Manche haben sich Mühe gegeben, ihn zu lesen, nachdem ich ihn empfohlen hatte, aber kein Einziger hat ihn am Ende durchgelesen und deshalb kann Niemand die große Verwirrung in mir auflösen. Ich habe daher den Artikel immer wieder gelesen, jedes Mal habe ich ihn etwas besser verstanden. So ist mir die Idee gekommen, meine Eindrücke zu diesem Buch aufzuschreiben und mit anderen Lesern auszutauschen. Unter den ein paar zehntausenden Lesern, die ich kenne, muss es ja jemanden geben, der den Artikel zu Ende gelesen hat, sonst hätte der Aufsatz nicht den Preis letztes Jahres gewinnen können, der aufgrund der vielfältigen Zustimmung der Leser entstanden ist. Doch ich hatte in dem folgenden halbem Jahr verschiedene Dinge zu tun, bis ich im April dieses Jahr von Peking zurück nach Shanghai gekommen bin und endlich wieder Zeit hatte, zu diesem schwierigen Thema zu kommen.

In diesem Aufsatz gibt es ein Geflecht von Bezügen und Mehrdeutigkeiten, doch bleibt m.E. ein Satz Heideggers der Leitfaden, den Liu zitiert hat: „Für Nietzsche - und so auch Platon - ist die Frage der Philosophie nicht in erster Linie das, worüber wir nachsinnen, sondern das Verhältnis der Philosophie zum Volk“. Nur von diesem Satz ausgehend, ist es möglich, für uns aus dem „Esoterischen Worte und der exoterischen Deutung Nietzsches“ die „Esoterischen Worte und exoterische Deutung“ Liu Xiaofengs herauszufinden.

 

I. „Über das von Nietzsche Gesagte hinaus“, „von sich und für sich selbst“ reden

 

Von den drei revolutionärsten „Propheten der Postmoderne“ des 20. Jahrhunderts: Karl Marx, Sigmund Freud und Friedrich Nietzsche, zeigt, laut Liu Xiaofeng, „nach dem Kalten Krieg nicht Freud oder Marx, sondern Nietzsche entscheidend mehr Lebenskraft“. Nach Liu Xiaofeng sei Nietzsches Reiz dadurch zu erklären, dass die Rechten Marx nicht mögen, während die Linken den sehr rechten Nietzsche jedoch richtig schätzen würden. Gleichzeitig meint er, die Werke der ersten zwei seien scholastisch und könnten erst durch Auslegungen und mehrfache Übermittlungen die Massen erreichen. Während Nietzsche keinen Übermittler braucht. Seine unakademischen, schönen Aufsätze scheinen alle Ohren zu erreichen, auch diejenigen der nicht philosophisch geübten.

So fragt Liu Xiaofeng: Stimmt das wirklich? Ist Nietzsche wirklich so leicht zu verstehen? Ist der Nietzsche, den ihr (durch Zarathustras Zunge) verstanden zu haben glaubt, der echte Nietzsche? Liu Xiaofeng fragt, ob die Worte Zarathustras die Worte sind, die Nietzsche selbst sagen wollte. Seine Antwort ist: „Schwer zu sagen“. Er deutet darauf hin, dass der Zarathustra Nietzsches vielleicht genauso wie Platons Sokrates eine Figur des Philosophen sei. Weil wir nicht sicher sind, ob Platon mit jedem Wort seines Sokrates einverstanden ist, können wir auch nicht sicher sein, ob Nietzsche mit jedem Wort Zarathustras einverstanden ist.

Doch da Liu Nietzsche viel mehr als einen Philosophen denn als einen Dichter ansieht, muss er auch wissen, dass ein Dichter mit den Worten seiner Protagonisten (sogar in autobiographischen Werken) oft nicht einverstanden ist, während ein Philosoph definitiv für die Worte eines Protagonisten in seinen eigenen allegorischen (寓言) Werken einsteht. Das ist der Grundunterschied zwischen einem Philosophen und einem Dichter. In den platonischen Dialogen gibt es zweierlei Worte Sokrates, nämlich die, die Sokrates tatsächlich gesagt hat – das ist der historische Sokrates – und der Rest, den Platon Sokrates in den Mund gelegt hat, und was er selbst sagen wollte – das ist der falsche Sokrates, d.h. der wirkliche Platon. Platon ist nicht unbedingt überzeugt von allen Worten des historischen Sokrates, aber bestimmt von jedem Wort des falschen, denn das sind nämlich seine eigenen Worte. Die Beziehung zwischen Nietzsche und Zarathustra muss zu den letzteren gezählt werden. Da Platon der Schüler des historischen Sokrates und Nietzsche nicht der Schüler Zarathustras ist, ist Nietzsches Zarathustra in Wirklichkeit Nietzsche selbst. Dass Liu mit dem Umstand, dass Zarathustra nicht der wirkliche Nietzsche sei, umfänglich argumentiert, ist eine im Grunde völlig nutzlose Anstrengung.

Warum sind Philosophen so begeistert von einer solchen (allegorischen) Redekunst, jemand anderen seine Worte in den Mund zu legen? Warum sagen sie nicht direkt „ich finde...“, stattdessen sagen sie „er [mein Lehrer beispielsweise Platon oder mein geistiger Führer z.B. Zarathustra] hat gesagt ...“? Weil die meisten Philosophen glauben, dass sie die einzige höchste Wahrheit bereits gefunden haben. Doch wenn sie sich überall als diejenige präsentieren, die die Wahrheit kennen, fürchten sie sich vor dem Ressentiment der Massen, davor, von allen gesteinigt zu werden. Deshalb verfälschen unzähligen Philosophen in der Geschichte Edikte: so erlässt z.B. Sokrates Edikte unter dem Namen Apollos, Menzius unter dem Namen Konfuzius, Paulus unter dem Namen Jesus, Buddhisten unter dem Namen Buddhas, Shenhui unter dem Namen Huinengs, Dantes unter dem Namen Vergils, Montesquieu unter dem Namen der Perser, etc. [...]

Allegorien dienen v.a. dazu, Philosophen zu helfen, so, wie der Affe vor einem Spiegel seine Widerspieglung schamlos lobt: Wie großartig, wie richtig er (d.h. ich) ist, wie sehr er über den durchschnittlichen Menschen steht! Alle seine Worte sind Wahrheit! Ein Wort wirkt mehr als zehntausend! Wenn ihr seinen Worten nicht gehorcht, ihm nicht Schritt für Schritt folgt, ihn nicht völlig verehrt, seid ihr also die äußerst dummen, freiwillig verkommenen, unbelehrbaren, verdammten, unterwürfigen Wesen – mit Lius Worten: „der erzene Mensch“ oder: „Abfallerz und Billiges-Eisen“. Die Raffiniertheit der Allegorie besteht darin, dass die Philosophen einerseits sich wichtig geben, andererseits aber sich möglichst zurückhaltend verhalten können. Die Abfallerze beneiden jedoch die Philosophen, dass sie gutes Glück haben, die Wahrheit immer direkt vom Wahrheitsempfänger verkündigen zu lassen und das heimliche Erbe der reinen Lehre antreten zu können; und bedanken sich dafür, dass diese Philosophen über alle Erwartungen das Erbe der reinen Lehre ihnen, dem Abfallerz und billigem Eisen, weiterleiten!

Genau wie die anderen erlässt Nietzsche gern falsche Edikte: Er formuliert seine eigenen Gedanken mit Zarathustras Zunge und tritt gleichzeitig zurück und preist Zarathustra in aller Ruhe und mit aller Begeisterung. Erst in seiner späteren Zeit, als er wegen eines Rückfalls seiner Geschlechtserkrankung (die wahrscheinlich der Hauptgrund für seine Aversion gegen Frauen war) wahnsinnig wurde, hatte er endlich die Allegorien satt und warf die Maske der Metaphern von sich. Nun fing Nietzsche in seiner autobiographischen Schrift Ecce homo endlich an, „stürmisch seine Gefühle aus[zu]drücken“: „Warum ich so weise bin“, „warum ich so klug bin“, „warum ich so gute Bücher schreibe“ (die Titel der ersten drei Kapitel); „Warum ich ein Schicksal bin“ (der Titel des letzten Kapitels). So sehr das eigene Gesicht zu vergolden, bedeutet, Gott vertretend sich einen goldenen Körper zu schaffen. Doch wenn das Blattgold abgedeckt wird, zeigt sich auch nur der fleischliche Körper, der dem der Abfallerze gleicht.

Lius Argumentationen verwirren sehr: Einerseits sagt er, dass „wir auf keinen Fall das ‚so Gesprochen[e]’ Zarathustras mit den wahren Sprüchen Nietzsches gleichsetzen dürfen“, dass „es im Grunde nicht wichtig ist, wer die Rolle Zarathustras einnimmt“; andererseits aber sagt er, „was wichtig ist, ist das, dass das ‚so Gesprochen[e]’ Zarathustras mit höchster Wahrscheinlichkeit eine Lüge ist“. Daraufhin bereitet Liu für sich eine große offene Bühne, wo die Abfallerze ihm schwierig widersprechen können, und fängt an, die im Titel (dieses Aufsatzes) gezeigten „esoterische[n] Worte und exoterische Deutung Nietzsches (oder Zarathustras)“ uneingeschränkt frei zu interpretieren. Alle, die ein wenig Sinologie kennen, müssen sofort wachsam sein, denn alle „esoterischen Worte und exoterischen Deutungen“ sind schließlich nur vergebliche Jagden nach einem Schatten. Aber Lius Nachjagen nach dem Schatten ist fast schon paranoid zu nennen.

Esoterische Worte und exoterische Deutungen sind die gängigen Tricks, die die späteren Konfuzianer unseres Landes beim „Kommentar zum ‚Ich’ mit den sechs Klassikern“ oft benutzen: Die untrennbare andere Seite dessen, „die Weisen zu vertreten und ihre Worte zu ergründen“, ist nämlich, dass „die Weisen mich vertreten und meine Worte gründen lassen“. Diejenigen, die auf diesem Gebiet gut bewandert sind, sind imstande, alle ihre eigenen Worte zu esoterischen Worten und exoterischen Deutungen der Weisen zu erklären. Klar, dies sehen nur die goldenen Menschen ein - die Abfallerze verstehen das nicht; das ist nämlich die theoretische Grundlage des Spruchs: „mit einer Hälfte des Lunyu (Analekten des Konfuzius) das Universum (unter dem Himmel) regieren“ sowie des Spruchs: „mit einem heiligen roten Buch das Universum regieren“. In anderen Worten, „der esoterische Nietzsche“ ist in der Wahrheit Lius „Zarathustra“. Nietzsche ist der Vertreter des sein Selbstgespräch führenden Liu Xiaofengs geworden. Nach ganz langen Umschweifen und einer umfangreichen „Beweisführung“ ist Liu imstande, alle seine eigenen Worte mithilfe von Nietzsches Zunge laut zu auszusprechen. Liu ist nun in seine eigene „Allegorie“ eingetreten. Nur weil ihm das nietzscheanische dichterisch-philosophische Sprachtalent und der Mut, Worte zu begründen, fehlen, begibt er sich auf einen scholastischen Weg, obwohl er sicher weiß, dass die scholastischen Marx und Freud nicht so einflussreich sind, wie der nicht-scholastische Nietzsche; sodass dieser riesen Aufsatz mit seinen 30,000 Wörtern noch viel schwieriger nachvollziehbar ist, als alle seine frühere Aufsätze.

[...] Beim Lesen von Lius Aufsatz „Esoterische Worte und exoterische Deutung“ darf man sich ebenfalls nicht durch Lius Allegorie täuschen lassen. Man darf nicht fragen, ob sich in Nietzsches Texten tatsächlich jene esoterischen Worte sowie exoterischen Deutungen finden lassen. Mann kann auf jeden Fall feststellen, dass Liu gewiss einige esoterische Worte und exoterische Deutungen verwendet, aber durch Nietzsches Zunge. Chen Jiaqis Anmerkung zu diesem Aufsatz landet einen Volltreffer: „Menschen können nur das beachten, was sie beachten wollen. Deshalb ist es unvermeidbar, dass sie mit Worten anderer ihre eigene Gedanken ausdrücken, obwohl es nicht unbedingt solche ‚esoterischen Worte’ gibt, die indirekt ausgedrückt werden müssen.“

Aber Liu muss Nietzsche noch ein wenig maskieren, damit Nietzsche Lius Stellvertreter, Lius Rolle spielen kann, weil Nietzsches Werke jederzeit zu finden sind. Damit Nietzsche als eine Marionette willkürlich gespielt werden kann, braucht Liu noch einen Helfer. Der gelehrte Dr. Liu findet sehr schnell einen solchen Helfer, nämlich Heidegger. Liu enthüllt mit nicht zu verschleiernder höchster Begeisterung: „Heidegger beginnt Nietzsches ‚revolutionäre’ Aktivitäten auszulegen, die die ganze Tradition der westlichen Metaphysik vernichtet: Nietzsche ist der letzte Metaphysiker des Abendlandes. Er hat die Essenz des Platonismus geerbt, indem er diese Tradition vernichtet hat.“ „Die Beiträge Heideggers zur Auslegung Nietzsches sind nicht zu übersehen: Er hat als erster Nietzsches Philosophie tiefgehend mit dem Platonismus in Verbindung gesetzt.“

Ich erlaube mir hier eine kurze Pause zu machen und eine kleine Frage zu stellen (die große Frage, was „die Essenz des Platonismus“ eigentlich ist, werde ich unten beantworten): Was ist denn das „Revolutionäre“ der Nietzsche-Interpretation Heideggers? Liu sagt uns, „Weiluote (Schreibfehler/Druckfehler: von Löwith) hat wahrscheinlich Recht: das Revolutionäre der Nietzsche-Auslegung Heideggers liegt nicht in der Nietzsche folgenden Destruktion der herkömmlichen Metaphysik, sondern darin, ‚über das von Nietzsche Gesagte hinaus’ ‚von sich und für sich selbst’ zu reden.“ Wir bedanken uns, dass Liu sich so unverblümt zu sich selbst bekennt. Sonst würde ich nicht so leicht zu dieser Erkenntnis kommen: Der entscheidende Punkt dieses Aufsatzes ist „über das von Nietzsche Gesagte hinaus, von sich und für sich selbst zu reden“; ­­­aber gleichzeitig besteht Liu wiederum darauf, dass dieses doch die esoterische Bedeutung Nietzsches sei, die die Abfallerze und Billigen-Eisen nicht verstanden hätten.


II. Die Dealer verraten den großen Drogenhändler und den Drogenboss

 

Ab jetzt ist Liu nicht mehr scheu und rumdrucksend. Er ist ganz sicher geworden: „Nietzsche trachtet nach der Wahrheit, bloß spricht er diese nicht direkt aus.“ Doch Liu trachtet nicht nur nach der Wahrheit, er traut sich sogar, die Wahrheit laut zu sagen. Die esoterische Bedeutung, die Liu aus Nietzsches Selbst-Überwindung ausgegraben hat, ist, dass „die ‚Selbst-Überwindung’ der Philosophen genau in der Überwindung des Wunschs besteht, dem gemeinen Menschen die Wahrheit zu sagen“. Doch Liu selbst hat diesen Wunsch und somit sich selbst nicht überwunden. Aber er hat alle Philosophen und sogar den Übermenschen, Nietzsche, überwunden. Zwar ist er nicht ein Übermensch und ein Philosoph geworden, aber ein Über-Philosoph. Herzlichen Glückwunsch dazu!

Die Leser sind nun bestimmt völlig verwirrt. Warum wollen die nach der Wahrheit trachtenden Philosophen die Wahrheit nicht mit den Menschen teilen, die sie nach ihrem langen Grübeln erkannt haben? Sind Philosophen so kleinlich, dass sie wie Kinder sind, die ihre Köstlichkeit nicht mit anderen Kindern teilen wollen? Nein. Die Wahrheit, die Liu meint, ist bloß für „die Philosophen“ eine Köstlichkeit, für den Menschen ist sie aber Gift. Lius schlauste Stelle der Allegorie ist vielleicht das letzte Nietzsche-Zitat des Aufsatzes: „Nun, Philosophie muss das Gift der Kultur sein“. Deshalb muss Liu so verstohlen sein und gleichzeitig Nietzsche auch als einen verstohlenen Dealer verkleiden. In Wahrheit ist Liu selbst der einzige Dealer, doch ist er weder der erste noch der größte Drogenhändler in der Geschichte. Er ist bloß ein ängstlicher kleiner Dealer, wahrscheinlich sogar nicht mal dieser, sondern ein klammheimlicher Drogennehmer. Er ist allen jenen Drogenhändlern, die ihm Drogen schenken ­– von Platon bis zu Heidegger ­– sehr dankbar und will unbedingt für die Nase der Drogenpolizei Nietzsche – der während der Razzia auch ein wenig durch Drogen verunreinigt wird – auch ein Hauch Heroin abbekommen und erklärt ihn zu einem heimlichen Drogennehmer oder Drogenhändler.

Dieser Text Lius ist so verworren: Mitte in dem Aufsatz redet er wieder von Kang Youweis Datongshu (Buch von der großen Gemeinschaft) und erklärt, warum Kang das Buch nicht vor seinem Tod veröffentlichen lassen wollte. Der heilige Kang sei nämlich auch dafür, dass man die Wahrheit „nicht erklären“, dass die Wahrheit „nicht gesprochen werden“ darf, sonst würde „die Welt in die Katastrophe geraten“. (...)

Die sogenannte „Essenz des Platonismus“ ist also das Gift, mit dem Heidegger oder Liu das Volk unbedingt füttern wollen. Was ist das? Nietzsche, Zarathustra? Oder weder-noch? Nur Liu will mit der Zunge Zarathustras etwas laut sagen. Aber was will er eigentlich sagen? Liu sagt, Nietzsche sei ein Philosoph. Nun, nach einer ewigen und komplizierten Beweisführung, enthüllt er endlich die Lösung des Rätsels: „Die Philosophen sind nicht die im üblichen Sinne, sondern die Philosophenkönige der Politeia.“ In anderen Worten: der nietzeanische Übermensch ist der platonische Philosophenkönig. Was Nietzsche nicht direkt aussagen und Kang nicht erklären konnten, ist nämlich die Essenz des Platonismus im Politeia: die „edle Lüge“ – es gibt vier Stufen von Menschen: die goldenen, silbernen, erzenen und eisernen. Die Goldenen und Silbernen müssen die Erzenen und Eisernen beherrschen. Amitābha! Am Ende wollen sich die Philosophen doch Könige nennen und Hohe Herrscher, die ihrer hohen Intelligenz entsprechen.

Was Liu nicht verbergen kann ist, dass Platon die Rede [der vier Geschlechter] von Gold, Silber, Erz und Eisen als „Lüge“ darstellt, die er mühsam in der Politeia gefunden hat. Wie zornig müssen diejenigen wie Liu sein: Warum gestehst Du, verdammter Platon, dies sei eine Lüge? [Schimpfe...]

[ein ganzer Paragraph Schimpfe...]

Dieser Aufsatz Lius ist deshalb so dunkel und kryptisch, anders als alle seine früheren Texte, die sich schön und fließend lesen, weil es hier v.a. um eine fast unlösbare Aufgabe geht, nämlich, die Lüge, die Platon selbst gesteht, als Wahrheit darzustellen; und am Besten so ein Wunder zu schaffen, dass die Leser auch glauben, dass diese Lüge für Platon die Wahrheit sei. Ich denke, auch die Göttin der Weisheit würde sich nicht trauen, dies zu versuchen. Doch der höchst intelligente Liu hat die Methode gefunden.

Erstens [muss man] beweisen,

Philosophen lügen gerne.

Mit anderen Worten: wenn Philosophen A sagen, meinen sie B, und umgekehrt. [...] Nach dieser Logik:

Wenn Philosophen behaupten, die Wahrheit zu erklären, so lügen sie;

Wenn Philosophen behaupten, dass sie lügen, sagen sie die Wahrheit;

Dementsprechend: die edle Lüge, die Platon behauptet, sei die Wahrheit.

Ob du es glaubst oder nicht. Liu schreibt 30,000 Zeichen um dieses absurde Fazit zu „beweisen“. Klar habe ich das so „exoterisch“ zusammengefasst, Lius Aussage ist „esoterisch“. Ich weiß nicht, wie die anderen Leser es sehen, aber ich bewundere Lius Aufgabe unglaublich und muss laut sagen: Gut gemacht! Das ist schöner, als die vier Wege des Gottesbeweises des heiligen Thomas! Ich habe noch nie einen solchen unvorstellbaren philosophischen Aufsatz wie diesen gelesen. Wang Guoweis Aussage „das Liebenswerte ist unglaubwürdig und das Glaubwürdige ist nicht liebenswert“ assoziierend muss ich sagen, Liu ist liebenswert! Er ärgert sich zwar über den unangemessenen Status aller Philosophen seit der Aufklärung, hätte aber – wenn seine Beweisführung folgerichtig wäre – alle Philosophen in die 18. Hölle gejagt. Alle Philosophen seien ja der „Wolf“-rufende-Hirtenjunge. Oder hätte er sie durch seine wilden Fantasien in das Labyrinth auf Kreta eingeschlossen – es würde dann von Liu in ein Konzentrationslager aller Philosophen umgebaut, unter denen niemand nicht lügt. Nun muss man fragen, ob du, Liu Xiaofeng, auch ein Philosoph bist? Zählst du auch zu den Kretern, die bei jedem Wort lügen?

Die Idee der platonischen Philosophenkönige ist das Gleiche, wie die Idee des Suwang (die die Talente eines Königs besetzen, doch nicht an der richtigen Stelle, nämlich der Stelle eines Königs, sind) der Han-Konfuzianer. Es ist nur der Tagestraum jener relativ Intelligenten. Sie sind deshalb relativ intelligent, weil die noch Intelligenteren wie z.B. die weltlich (入世) bleibenden Sokrates oder Konfuzius keine politische Ambition auf den Posten des Königs haben, geschweige denn die absolut Intelligenten wie der transzendierende (出世) Buddha oder der zwischenweltliche (间世) Zhuangzi. Sie freuen sich, weg von der politischen Bühne zu sein und grübelnd zu leben und kritisieren die Realität mit den Ergebnissen ihres Grübelns; sie sagen ganz aufrichtig die Wahrheit und tragen zum Wohle der Zivilisation sehr viel bei. Wenn die Philosophen tatsächlich Könige und weltlichen Herrscher geworden wären, wie können sie noch grübelnd leben? Liu erklärt, der Wille zur Macht der Philosophen sei ein besonderer Wille zur Macht, d.h. sie werden nicht die weltlichen Herrscher, sondern die Herrscher der Seele. Sicher ist das eine gemeinsame Krankheit aller Philosophen in der Tradition oder der traditionellen Philosophen. Sie glauben, sie hätten die einzige letzte Wahrheit des Universums erkannt, sie wollen nicht wie die weltlichen Herrscher sein, die allen leiblichen Gehorsam verlangen, sondern sie verlangen den Gehorsam der Seele. Doch leider ist eine solche goldene Zeit oder silberne Zeit – die im Grunde die barbarische Zeit ist – für ewig vergangen. Seit der Aufklärung ist die Menschengeschichte in die Bronzezeit, die Eisenzeit eingetreten. Die moderne demokratische Zeit ist die Zeit der Abfallerze und Billigen-Eisen. Kein Wunder, dass die traditionellen Philosophen, die sich selbst als goldene Menschen definieren, unzufrieden sind und denken, dass die Sitten in der modernen Gesellschaft verloren gegangen sind, dass ein Haufen Schurken an der Macht ist, dass die Diktatur des gemeinen Volkes herrscht und dass die Gesellschaft völlig im Chaos ist... Mit Ah Qs Wort: „Söhne hauen Väter“.

Lu Xun hat einmal von seinem Sohn erzählt: „Manchmal war er sehr unzufrieden mit mir. Einmal sagte er zu mir, ‚wenn ich der Papa wäre, wäre es bestimmt besser...’ Manchmal war er beinahe ‚reaktionär’ und kritisierte mich einmal ganz bitter so: Was für einen Papa bist Du?!’“ Diejenigen platonischen Philosophen, die sich für vernachlässigt halten, denken bestimmt, „Wenn der goldene Mensch wie ich der Herrscher wäre, wäre ich viel besser als die Abfallerze und Billigen-Eisen, die gerade an der Macht sind.“ Doch Lu Xun kommentierte die reaktionäre Erklärung des Sohnes so: „Ich bin nicht überzeugt von ihm. Wenn man der Sohn ist, gibt man sich als einen zukünftigen guten Vater aus. Doch wenn man eines Tages einen Sohn kriegt, hat man die einst gegebene Erklärung vollkommen vergessen.“ Ich glaube auch nicht, dass der goldene Mensch der bessere Herrscher wäre. Ich bin sicher, dass die platonische Diktatur eine Tyrannei sein müsste, auch wenn der Herrscher tatsächlich ein goldener Mensch wäre. Während ein Herrscher in der modernen Demokratie seit der Aufklärung auf keinen Fall ein Tyrann wäre, auch wenn tatsächlich Abfallerz wie Bill Clinton an Macht kommt. Selbst jener muss besser sein, als die Diktatur unter einem goldenen Menschen.

 

III. „Ein Leben der Lügen ist das Schicksal aller Philosophen“?

 

Liu Xiaofeng meint: „Die ‚Gefahr’ eines Philosophen besteht im Konflikt zwischen der edlen Natur des Nachsinnens – eines besonderen Willens zur Macht – und des Willens zur Macht des Volkes. Wenn der Wille zur Wahrheit der Philosophen unbedingt das Schicksal des Staates, der Nation und des Volkes bestimmen muss, folgt daraus nur eine Katastrophe für sie selbst und die anderen. Deshalb ist der Tod des Sokrates nur eine Sache der Philosophen und darf nicht als Vorbild genommen werden. Platon hat das ganze Leben darüber gegrübelt. Da Ich von Natur aus ein Denker (im Sinne von Denkendem) bin, und damit es nicht eine Katastrophe für alle wird, ist ein Leben der Lügen mein unvermeidbares Schicksal.“

Doch konnte Liu eine einfache Frage nicht beantworten: warum muss ein Philosoph mit dem Willen zur Wahrheit freiwillig das „Leben des Lügens“ wählen? Wenn die Wahrheit, die die Philosophen durch das Nachdenken erkennen, tatsächlich eine Katastrophe für alle verursachen würde, sobald diese bekanntgegeben wird, warum können sie nicht schlicht ihren Schnabel halten und sich nachsinnend ausruhen? Warum müssen diese Philosophen, die die erschreckende Wahrheit entdeckt haben, unbedingt lügen? Verstehen sie „das Recht des Schweigens“ wirklich nicht? (...) Schließlich ist diese Frage für Lius Philosophen „unumgänglich“, nämlich: Ist die Lehre [der vier Geschlechter] Gold, Silber, Erz und Eisen die Wahrheit oder eine Lüge? Wenn es die Wahrheit ist, warum gibt Platon zu, dass es eine Lüge ist? Und wenn es eine Lüge ist, warum hat Liu mit großer Anstrengung Strategien entworfen und behauptet, dass die Wahrheit, die die Philosophen aussprechen wollen, verschwiegen werden müssen?

In der Wirklichkeit ist die Lehre von „Gold, Silber, Erz und Eisen“ keine absolute Lüge, aber auf keinen Fall auch nicht die Wahrheit, sondern eine plumpe Metapher, nämlich die von der Ungleichheit aller Dinge so, wie sie der Wahrnehmung der Menschen entspricht: die Begabungen, die Veranlagungen der Menschen sind unterschiedlich – das ist eine nicht zu verneinende Tatsache. Zu dieser Tatsache gibt es unzählige metaphorische Darstellungen: man kann sie in vier Teile teilen – außer der Teilung in vier Geschlechter Gold, Silber, Erz und Eisen gibt es noch „Literaten, Bauern, Handwerker und Händler“, die vier Völker im antiken China, die vier Kasten in Indien und die, im Vergleich zur platonischer Teilung viel schlauerer, der vier Schichten Feng Youlans. Oder man kann auch in drei Teile teilen, wie die französischen Generalstände; oder in fünf Teile [...]. Natürlich gibt es noch unzählige viele Teilungen. Solange man ein wenig Intelligenz besitzt, kann man eine, zumindest für einen selbst, folgerichtige Lehre erschaffen.

Daraus lässt sich schließen, die Lehre „Gold, Silber, Erz und Eisen“ ist nur ein scheinrichtiger Blödsinn. In welcher Gesellschlaft in der Geschichte bitteschön sehen sich die Herrscher nicht als das reinste Gold und Silber an? In welcher Gesellschaft bislang werden die meisten Menschen nicht, egal ob ausdrücklich oder heimlich, als Abfallerz und Billige-Eisen angesehen? Obwohl Platon gezwungen wurde, einräumend zu formulieren, dass manchmal aus einem Gold ein silberner Nachkommen, aus Silber ein goldener Nachkommen, gezeugt werden; oder manchmal können Erz und Eisen sogar goldene bzw. silberne Nachkommen zeugen [...]. Das scheint auf den ersten Blick zu bedeuten, dass der Herrscher nicht durch Erbfolge bestimmt werden soll. Oder die Herrscher haben nicht nur einen Sohn und können dann wahrscheinlich immer einen rein goldenen unter den Haufen Nachkommen finden. Was die Aufstellung der Ausgezeichneten unter den Bürgern betrifft: hat nicht jeder Kaiser, gleich welcher Dynastie, egal ob in China oder im Ausland, denjenigen die Gelegenheiten zum Hof angeboten, die schmeichelnd und sehnsüchtig ihm zu Willen waren? In China gab es seit alters her Minister aus dem Kreise der normalen Bürger. Die englische Königin verleiht bis heute „Knight Bachelor“. – Wird ein normaler Mensch einfach durch die Auszeichnung eines weltlichen Titels sofort zu einem Goldenen? So lässt sich folgen, diese „edle Lüge“ kann die Legitimation für Herrscher aus allen politischen Systemen sein, besonders für die Despoten, und darf deshalb nicht die Wahrheit sein. [...]

Der schlaue Liu sagt so: „Damit die Stabilität der Gesellschaft nicht zerstört wird, sprechen sie umherschweifend. Dies sind ‚edle Lüge’. Eine ‚edle Lüge’ schmeichelt aber nicht dem Volk, sondern sagt die Wahrheit nicht direkt.“ Liu glaubt, eine „edle Lüge“ schmeichelt dem Volk nicht, sondern dient nur der „Stabilität der Gesellschaft“. Doch wenn die „Stabilität“ nicht denjenigen schmeichelt, die kleinmütig sind und in den Tag hinein leben, wem schmeichelt sie denn dann? Überdies sind diese Art von Lügen vage und gehen daher auf die narzisstischen Neigungen der meisten Menschen ein. Denn die meisten Menschen täuschen sich gern und übertreiben ihre eigene Begabung unbewusst. [...] Deshalb heißen auch viele von den Abfallerzen und Billigen-Eisen diese Theorie willkommen.

Liu sagt, „Selbstverständlich ist die Lüge deshalb ‚edel’, weil es unterschiedliche Begabungen von Menschen gibt. Die gute Ordnung eines Landes besteht in einem Rang, der aufgrund des verschiedenen Grads der Begabung angeordnet wird. Die niedrig begabten Menschen sollten von den hoch Begabten beherrscht werden. Die Tugenden sind doch aus Gold, nicht jedoch aus Erz und Eisen. Aus der Natur des Volks – heute nennt man sie das Naturrecht des Menschen – kann keine moralische Gesellschaft entstehen. Das darf natürlich nicht ausdrücklich gesagt werden, denn sonst würde es dem Volk nicht gefallen und die Leute würden rebellieren – das ist ‚die Moral der Sklaven’.“

Der Satz „das darf nicht ausdrücklich gesagt werden, denn sonst würde es dem Volk nicht gefallen“ ist jedoch fragwürdig. Denn so, wie Platon sagt, würde sich das Volk nicht ärgern, weil nicht viele sich selbst zum „Volk“ zählen, besonders wenn das Volk die dumme Masse bedeutet; – aber in der besonderen Zeit, in der das „Volk“ „die klügsten Armen“ bedeutet, wollen natürlich alle das „Volk“ sein. Deshalb, solange die Philosophen abstrakt und umherschweifend die Masse kritisieren, freuen sich die meisten, oder zumindest tun sie so, als ob sie sich freuen würden, um zu zeigen, dass sie nicht zu dieser Masse zählen. Nur wenn Philosophen die dumme Rede führen, wie: „nur Professoren, die einen Doktortitel haben oder irgendwelche anderen klaren Voraussetzungen – sind goldene Menschen. Die anderen müssen versklavt werden“, kommen diejenige, die keinen Doktortitel oder den Titel eines Professors haben, aus der Balance und werden wütend und rebellieren. Doch bislang haben noch keine Philosophen solche dummen Reden gehalten, ein Grund dafür ist, dass die meisten großen Philosophen keine Doktoren und Professoren sind. Wenn jemand so etwas sagt, ärgert sich das Volk bestimmt auch nicht, geschweige denn es rebelliert; sondern lächelt und sagt: dieser Typ ist so dumm wie ein Doktor, wie ein Professor, der darf kein Philosoph sein.

Der Teil der Wahrheit in der Lehre der vier Geschlechter besteht in der Verschiedenheit der menschlichen Begabung, eine von dreijährigen Kindern verstandene Plattitüde und verdient nicht die Bezeichnung der Wahrheit; der Teil der Lüge ist: in der Gesellschaft muss man „die Mangelnden herabmindern, um dem Überfluss zu dienen“, also mit einem künstlichen System die angeborene Ungleichheit verstärken; nicht jedoch „den Überdruss herabzumindern, um die Mangelnden zu fördern“, d.h. durch aposteriorische Erziehung und Aufklärung die angeborene Ungleichheit zu schwächen – die kann nie beseitigt werden. Abgesehen von der Plattitüde ist die Lehre „Gold, Silber, Erz und Eisen“ ein absolutes Dschungelprinzip und eine gänzliche Lüge in einer zivilisierten Gesellschaft; sie besitzt keine kleines bisschen edle Eigenschaften. Wenn die goldenen Philosophen sich einbilden, dass es ihr Schicksal wäre, sich aus dem antiken Dschungel in die moderne Polis zu retten und den Erzen und Eisen diese Lüge mitzuteilen, dann verlasst ihr Philosophen bitte die Polis und haut ab zurück in euren Dschungel!

übersetzt von Qian Ran

 

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(Alle Fußnoten in der pdf)

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