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Liu Xiaofeng

(deutsche Übersetzung)

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Liu Xiaofeng

 

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Nietzsches lakonische Worte und ihr großer Sinn


1. Wer ist Nietzsche?

 

Seit langem hört man die Behauptung, dass Karl Marx, Sigmund Freud und Friedrich Nietzsche als die revolutionärsten Denker des zwanzigsten Jahrhunderts gelten sollen.

Was aber ist hier mit „revolutionär“ gemeint? Nach dem alltäglichen Wortgebrauch soll das „anti-traditionell“ heißen. Es wird gesagt, dass diese drei angeblichen Propheten der Postmoderne jegliche traditionellen Werte umgestürzt und eine neue Ethik und Lebensorientierung an ihrer Stelle aufgerichtet haben. Ob die mittlerweile banale Äußerung zutrifft oder nicht, Freud und Marx stehen in der Tiefe und Wirkung des revolutionären Denkens weit hinter Nietzsche zurück. Freud wurde offensichtlich von Nietzsche beeinflusst und hat nur eine Facette seines Gedankens weiter entwickelt. Marx hat zwar zahlreiche gesellschaftliche Revolutionen angetrieben und angeregt, könnte aber in zwei Aspekten nicht mit Nietzsche verglichen werden: zuerst, Marx stürzte die westliche Tradition um, während er immer noch innerhalb einer Nebentradition der Aufklärung stand. Nietzsche hat nicht nur die Aufklärung, sondern auch die von Sokrates und Jesus gestaltete Haupttradition umgestürzt. Außerdem nehmen die Ideen von Marx dem Kapitalismus ihre Lebenskraft. Als Wortführer des Kommunismus steht er stets dem Kapitalismus entgegen. Hingegen geht Nietzsche weit über den Gegensatz zwischen Kapitalismus und Kommunismus hinaus. Dass Nietzsches Ideen, und nicht die von Freud oder Marx, nach dem Kalten Krieg immer lebendiger wurden, ist daher nicht schwer zu verstehen.

In der Tat übt Nietzsche bei weitem mehr Einflüsse aus, als Marx und Freud. Den Rechten würde Marx nie gefallen. Die Linken sind dagegen besonders von dem sogenannten extrem rechten Nietzsche angetan. Nietzsches Texte strahlen einen Glanz der Schönheit, Groteske und Imposanz aus. Niemand bezeichnet Marx als Dichter-Philosophen. Die Werke von Marx und Freud wirken leicht pedantisch und das darin enthaltene Ideengut muss zuerst interpretiert werden, bevor es dem intellektuellen Publikum mitgeteilt werden und somit reale geistige Kräfte bieten kann. Nietzsches Texte scheinen keiner Interpretation bedürftig zu sein und können mittellos dem intellektuellen Publikum zur Verfügung gestellt werden. Dafür bietet die Rezeptionsgeschichte von Nietzsche im chinesischen intellektuellen und kulturellen Kreis einen Beweis: kurz nach seinem Tod findet Nietzsche schon Eintritt in die Denkwelt der Repräsentanten der „chinesischen Seele“, wie z.B. bei Wang Guowei und Lu Xun. Welcher Autor aus dem Westen wird so oft wiederholt und jeweils unterschiedlich ins Chinesische übersetzt wie Nietzsche? Auch wenn eine staatliche Partei sich mühelos für die Übersetzung von Marx einsetzt, könnte die Übersetzung von Nietzsche kaum übertroffen werden. Trotzdem lässt sich fragen: Wer ist Nietzsche?

Wer kennt Nietzsche nicht? Ist er nicht der große oder wahnsinnige Deutsche, der „alle Werte umwerten“ will, der an den „Willen zur Macht“ appelliert, die „Ethik des Übermenschen“ und die Konzeption der „ewigen Wiederkehr “ entwickelt und sich gerne als Antichrist vorstellt? Ist er nicht der deutsche Dichter-Philosoph, dessen Lehre von den Nazis ausgenutzt wurde?

Ist Nietzsche wirklich der so verstandene Nietzsche?

Nietzsche selbst und die meisten Nietzsche-Forscher betrachten Also sprach Zarathustra als sein eigentlichstes und tatsächlich einflussreichstes Hauptwerk (es wurde auch am häufigsten ins Chinesische übersetzt). Aber spricht Nietzsche selbst in diesem Buch? Nein, der Redner ist Zarathustra. Ist Nietzsche der sprechende Zarathustra? Schwer zu sagen. Nietzsche hätte ruhig sagen können, dies alles habe also Zarathustra gesagt, nicht er selbst. Er sei nichts anderes als ein Protokollant, wie Plato, dessen Dialoge nicht von ihm, sondern von „seinem Hauptdarsteller“ (nach Strauss) Sokrates und seinen Schülern geführt wurden: Ist Zarathustra nicht auch ein Darsteller?

Nietzsche, der aus einer lutherischen Pfarrerfamilie stammte, war ganz begeistert von Luthers historischer Leistung und Wirkungskraft in der deutschen Sprache und nahm ihn als Vorbild für die Sprachkunst. Aber Nietzsches Versuche in der deutschen Dichtung sind nicht ganz gelungen, nicht weil Dichter vor Nietzsche, wie Goethe, den Nietzsche am meisten bewunderte, Novalis, Büchner, Kleist u.a. die geniale dichterische Begabung zum vollen Maß entfaltet haben, sondern weil Nietzsche als Poet eben nicht talentiert genug war. Sonst hätte er auch einen hervorragenden Platz in der Geschichte der deutschen Dichtung beanspruchen können, so wie Rilke oder Trakel. Für richtige Dichter sind Nietzsches Gedichte genauso lächerlich wie die von Heidegger. Seine Prosaschriften und Aphorismen sind im besten Fall mit denen von Hölderlin, F. Schlegel und Novalis zu vergleichen, abgesehen von den stilistischen Unterschieden.

Nietzsche ist schließlich kein Dichter, sondern ein Philosoph. Seine angeblich „poetischen“ oder aphoristischen Schriften zeigen eben nur als philosophische Schriften eine ausgezeichnete Qualität. Auch diese Form ist nicht ein originelles Geschöpf von Nietzsche. Für diejenigen, die Schiller, Hölderlin, Novalis, F. Schlegel gut kennen, ist es ganz klar, dass die „Poetisierung“ der Philosophie bzw. das aphoristische Schreiben eine große Leistung der deutschen Romantiker ist. Aber auch die Romantiker können sich nicht als Initiatoren des Stils behaupten, sie beleben nur die Textform von Aristoteles und besonders von Plato.

Gesteht man zu, dass Also sprach Zarathustra die individuellste Schrift von Nietzsche ist, worin besteht dann das Individuelle darin? Damit stehen wir immer noch vor derselben Frage: Wer ist Nietzsche?

Also sprach Zarathustra ist ein philosophisches Werk, und zwar ein westliches. Aber sein Erzähler steht nicht in der Tradition der westlichen Philosophie: er ist weder der von Nietzsche umschwärmte griechische Philosoph Heraklit, noch der griechische Gott Dionysos, dem Die Geburt der Tragödie gewidmet ist. Wer ist der Zarathustra? Ein Weiser aus der persischen Religion. Dass man seine Worte einem Perser in den Mund legt, ist nicht neu in der europäischen Geistesgeschichte. Man denke nur an die Lettres Persanes von Montesquieu. Dass Nietzsche hier auch durch einen Perser spricht, deutet eventuell an, dass Nietzsche von einem erhabenen Standpunkt aus, der außerhalb der europäischen Tradition des Denkens steht, den europäischen Geist zu beurteilen versucht. Andererseits ahmt Also sprach Zarathustra offensichtlich die Evangelien in der Struktur und Erzählweise nach und stellt in vier Teilen Zarathustras Wandern, Träume und Fantasien dar. Die metaphorische Erzählung ist voller Fabeln und Gleichnisse. Die der Bibel entnommenen Gedanken zählen aber nicht als Philosophie. Quid ergo Athenis et Hierosolimis? (Tertullian). Nimmt Nietzsche eigentlich heimlich den Standpunkt der Bibel ein, um gegen die Philosophie zu sprechen? Ist er ein anti-philosophischer Philosoph?

Philosophiert Nietzsche „mit dem Hammer“, übernimmt er nur das, was Jehovah sagt: „Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der HERR, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?“ (Jeremia 23:29). Aber Nietzsche spricht nicht mit dem Mund des jüdischen Wahrsagers oder von Jesus. Er wollte gar nicht an die Stelle des von christlichen Evangelien besetzten Standpunkts der Bibel rücken. Das Sprechen Zarathustras nimmt eher den belehrenden Ton und die Erzählweise der Evangelien an, nur um gegen Jesus Christus zu argumentieren. Was Zarathustra ausspricht, steht stets punktuell dem Worte Christi in den Evangelien entgegen. Durch die Gestaltung der Figur Zarathustras entzieht Nietzsche sowohl der griechischen Philosophie als auch dem Christentum, also den zwei Hauptquellen des westlichen Denkens, den Boden. Zählt er nun immer noch als Philosoph? Zählt Also sprach Zarathustra immer noch als ein philosophisches Werk?

Kann sein, dass die Figur Zarathustra eine Variante von Dionysos darstellt und somit die anti-philosophische Tradition der Tragödiendichter vertritt. Jedoch würden die Nachfolger der Tragödiendichter wie z.B. „ein Goethe, ein Shakespeare[,] nicht einen Augenblick in dieser ungeheuren Leidenschaft und Höhe zu atmen wissen, […] Dante [ist] gegen Zarathustra gehalten, bloß ein Gläubiger“. (Ecce Homo, 6) Nun wären Komparatisten oder Wissenschaftler der interkulturellen Forschung davon begeistert: Schau, wie nah dem Orient Nietzsche steht! Wie er den Orient liebt…, aber: spricht Nietzsche nicht davon, „daß die Dichter des Veda Priester sind und nicht einmal würdig, die Schuhsohlen eines Zarathustra zu lösen“?

Anders als Jesus, der nur zu seinen Jüngern spricht, spricht Zarathustra ganz häufig mit sich selbst. Bevor er wieder „Mensch wird“, hat er seinen ersten Satz an die Sonne gerichtet. Die Sonne ist Zarathustra selbst. Spricht er zur Sonne, spricht er zu sich selbst. „Welche Sprache wird ein solcher Geist reden, wenn er mit sich allein redet? Die Sprache des Dithyrambus.“ (Ecce Homo, 7) Heißt das, dass Nietzsche in Also spricht Zarathustra mit sich selbst redet?

Das kann sein: „Viel von sich reden kann auch ein Mittel sein, sich zu verbergen“. (Jenseits von Gut und Böse,169) In seiner autobiographischen Schrift drückt Nietzsche dies im Klartext aus, dass er „der Erfinder des Dithyrambus“ (Ecce Homo, 7) sei. An einer anderen Stelle äußert er, dass kein richtiger Philosoph in der Geschichte „wahrhaftig genug“ (Jenseits von Gut und Böse, 177) gewesen sei. Stimmt dies, dann bleibt Nietzsche ein Philosoph. Nur dürfen wir auf keinen Fall das Ausgesprochene von Zarathustra als Nietzsches wahrhafte Worte verkennen. Hier kommt es nicht darauf an, wer diese Figur Zarathustra ist, sondern darauf, dass Zarathustras ausgesprochene Worte möglicherweise Lügen sind, durchmischt mit etwas Wahrhaftem:

„Wahrlich, ich rate euch: geht fort von mir und wehrt euch gegen Zarathustra! Und besser noch: schämt euch seiner! Vielleicht betrog er euch.“ (Also sprach Zarathustra. Von der schenkenden Tugend)

Spricht Zarathustra hier nur scherzhaft?

 

2. Keine Wahrheit, nur Interpretationen?

 

Lassen wir die Frage, ob Zarathustra von Anfang bis Ende bloß betrügt, vorerst beiseite und wenden uns nun den folgenden Fragen zu: Wovon redet Zarathustra eigentlich? Gibt es überhaupt eine Lehre von Zarathustra?

Nach Nietzsches Selbstbekenntnis sei die „Grundkonzeption“ von Also sprach Zarathustra „der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, die höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann“ (Ecce Homo, 1). In Anlehnung daran sieht K. Löwith im Ewigen-Wiederkunfts-Gedanken nicht nur die Grundkonzeption des Zarathustra-Buches, sondern auch die Hauptlehre von Nietzsche: „Ob töricht oder weise, die Lehre von der ewigen Wiederkehr ist der Schlüssel zu Nietzsches Philosophie und erhellt zugleich ihre geschichtliche Bedeutung, indem sie die Kontroverse zwischen dem frühen Christentum und dem klassischen Heidentum wieder aufleben lässt.“ Heidegger ist jedoch nicht von seinem ehemaligen Studenten überzeugt. In seinem Vortrag „Wer ist Nietzsches Zarathustra“ weist er Löwiths Feststellung zurück: obwohl der Gedanke über die ewige Wiederkunft tatsächlich, und zwar vor allen anderen in Also sprach Zarathustra erscheint, lässt er sich weder bestätigen, noch verfälschen, sondern stellt nur eine bedenkliche Frage dar: „das Gesicht des Rätsels“. Heidegger hat zwar die Rede von der ewigen Wiederkunft nicht als bloße Lüge verurteilt, aber er deutet zumindest an, dass diese Rede nicht Nietzsches wahrhaftigen Worten entspringt.

Die Lösung des Rätsels findet sich in dem Konzept des Willens zur Macht. Zwischen der ewigen Wiederkunft und dem Willen zur Macht besteht der „innerste Zusammenhang“ und die beiden Lehren sind „einheitlich als Umwertung zu begreifen“, so dass die ewige Wiederkunft als der offene Ausdruck (aber nicht als Lüge) und der Wille zur Macht als der verborgene Ausdruck erscheint. Wenn wir diesen „innersten Zusammenhang“ zwischen den beiden Ausdrücken nicht begreifen, „und wenn wir nicht dazu übergehen, diese Grundfragestellung zugleich in ihrem Gang als eine der abendländischen Metaphysik notwendige zu fassen, dann werden wir die Philosophie Nietzsches niemals fassen, und wir begreifen nichts vom 20. Jahrhundert und den künftigen Jahrhunderten“. Die Konzeption des Willens zur Macht stellt sowohl das wahrhafte Wort von Nietzsche als auch die historische Leistung seiner Gedanken dar. Sie verkehrt die Grundlehre vom Platonismus, nämlich das Verständnis vom Sein. Heidegger betritt also den ontologisch-epistemologischen (wenn man so sagen darf) Weg der Dekonstruktion, um Nietzsches „revolutionäres“ Unternehmen, nämlich den Umsturz der westlichen Metaphysik, zu erklären. Nietzsche ist der letzte in der Traditionslinie der westlichen Metaphysik und übernimmt eben durch die Zerstörung der Tradition die Quintessenz des Platonismus. Der Wille zur Macht ist nichts anderes als ein Ergebnis der Entwicklung der Ontologie des Willens, die bei Schelling ihren Höhepunkt erreichte, und er bildet die letzte Stufe der westlichen Metaphysik und kündigt das Zeitalter der Herrschaft der Technik an.

Einige postmoderne Denker nehmen keine Rücksicht auf Heideggers Genealogie der Metaphysik und fühlen sich trotzdem von Nietzsches Idee des Willens zur Macht bezaubert. Sie lesen darin eine Offenbarung der Biopower. So fasziniert Michel Foucault weder Also sprach Zarathustra, noch der Wille zur Macht, sondern Zur Genealogie der Moral. Aber „warum lehnt der Genealoge Nietzsche es zumindest bei bestimmten Gelegenheiten ab, nach dem Ursprung zu suchen?“ Die Antwort lautet: „Sie [Die Genealogie] soll zeigen, dass der Leib von der Geschichte geprägt und von ihr zerstört wird“. Der Wille zur Macht weist daher keine Spuren der platonischen Ontologie auf, sondern gilt als das Kennzeichen des aufgezeigten Leibes. Mit der Konzeption des Willens zur Macht weist Nietzsche auf das ursprüngliche Phänomen des Lebens hin. Davon inspiriert, stellt Gilles Deleuze fest: Jeder sich auf das Leben beziehende Gedanke teilt die Macht des Gegenstandes und stellt sich vor die Strategie der Macht. Nietzsches Gedanke über den Willen zur Macht regt Deleuze zu letzten Überlegen an. Das Ende der Abhandlung Was ist Philosophie? deutet an, dass Deleuze Nietzsche folgt und das Leben als die absolute Unmittelbarkeit neu definiert, „das reine Denken ohne Erkenntnisse“, die absolute Immanenz, also die von Foucault bis zu seinem Lebensende bedachte Biopower. Die Theorie der ewigen Wiederkunft ist sowohl eine kosmologische als auch eine biologische, eine generative Theorie der Biopower. Wenngleich Deleuze die metaphysikgeschichtliche Nietzsche-Deutung von Heidegger beiseitelegt, geht es in Deleuzes Nietzsche-Deutung immer noch um den Gegensatz zwischen Transzendenz und Immanenz in der modernen Philosophie, wobei Deleuze die von Spinoza imitierte und von Nietzsche wesentlich weiter entwickelte Linie der Immanenz fortzusetzen sucht. Während das Begreifen der Metaphysik in der Konzeption des Willens zur Macht bei Heidegger Relevanz für die „künftigen Jahrhunderte“ besitzt, bildet der Lebens-Begriff in der Biopower ebenfalls, „als Ideengut von Foucault und Deleuze[,] das Hauptthema der künftigen Philosophie“.

Bei Jacques Derrida wird diese Interpretation von Nietzsches Sprache des Dithyrambus, die sich auf die Existenz- und Biopower-Theorie richtet, einer nietzscheanischen Zerstörung unterzogen: Nietzsches Schriften bergen gar keine bestimmte Lehre, beziehen sich auch auf keine letztendliche Sinnbedeutung. Diejenigen, die Nietzsches Lehre suchen oder interpretieren, vergessen nur Nietzsches Ansage: Auf der Welt gibt es keine Wahrheit, nur Interpretationen. (Vgl. Jenseits von Gut und Böse, 34) Sucht man in der „Sprache des Dithyrambus“ eine bestimmte Lehre, verhält man sich wie jemand, der im Tageslicht mit der Laterne auf der Straße Gott sucht. In seinem Text spricht Nietzsche ständig mit zwei oder mehr Stimmen, da seine Bejahung der Welt ein Spiel mit dem Denken ist und eine stilistische Polyphonie benötigt. Der Stil wird somit selbst zum Gedanken und es gibt nicht mehr DEN Nietzsche, sondern DIE Nietzsches. Nietzsches stilistische Stärke besteht in kurzen Sätzen. Getrennt vom Grundstil würden sie unverständlich und häufig selbstwidersprüchlich sein. Deshalb ist die Deutungsmöglichkeit von Nietzsches Texten endlos, oder die Philosophie wird bei ihm zur endlosen Deutung. Derrida stellt nicht nur Heideggers Nietzsche-Deutung infrage, sondern er zerbricht auch Foucaults und Deleuzes Nietzsche-Interpretation. Diese Lesarten sind immer noch auf die traditionelle Wahrheitsproblematik und ein bestimmtes Gespenst der Metaphysik bezogen. Kein Wunder, dass sie die Vielfältigkeit in Nietzsches Schriften übersehen.

Dennoch lässt sich Derridas Nietzsche-Deutung auf Heideggers zurückführen, so wie diese eben Nietzsches Zerstörung der traditionellen Metaphysik zum Angelpunkt nimmt. Wenn Derrida Nietzsche als den Vorreiter der gründlichen Vernichtung der metaphysischen Logik, statt als Vorreiter der letzten Vollendung der Metaphysik betrachtet, schreibt er damit nicht genau die heideggerische Deutung fort? Außerdem steht Heidegger, wenn die der Immanenz entgegenstehende Transzendenz von Kant über Husserl bis auf Levinas überliefert wird, dann am Wendepunkt zwischen den beiden Systemen, also am Schnittpunkt zwischen Nietzsche und Husserl. In der Tat sehen Nietzsches Texte kaum „wissenschaftlichen“ Abhandlungen ähnlich, so dass man nur schwer den innerlichen Denkweg seiner Ideen in der Erzählform herausarbeiten kann. Dass man die Lehren vom Willen zur Macht, der Umwertung aller Werte, der Philosophie des Übermenschen, der ewigen Wiederkunft usw. zusammenfassen kann, setzt die Rekonstruktion von Nietzsches Aussagen voraus. Um Nietzsche zu interpretieren, wird jeder Interpret genötigt, seinen eigenen Interpretationsrahmen explizit vorzustellen. Er kann dies nicht so machen, wie wenn er andere Denker, wie Kant oder Hegel, interpretiert, nämlich die eigenen Erläuterungen einfach im von ihnen vorgegebenen Rahmen abzugeben. Beruht die Nietzsche-Deutung von Heidegger, Foucault, Deleuze und Derrida nicht jeweils auf dem philosophischen Modell des Interpreten? Löwith ist vielleicht rechtzugeben: Das Revolutionäre in Heideggers Nietzsche-Deutung besteht nicht darin, dass er, Nietzsche folgend, die metaphysische Tradition weiter untergräbt, sondern dass er selbst redet – Nietzsches Text zum Trotz.

Verneint man die innerliche Substanz der Schriften von Nietzsche, ersetzt man sie durch den polyphonischen Stil, ist Nietzsche nicht mehr da. Aber ist es wirklich nicht mehr möglich, den eigentlichen Nietzsche zu finden? Auf die Frage, wer Nietzsche ist, gibt es wirklich keine Antwort mehr? Auch der polyphonische Stil ist nicht Nietzsches originelle Erfindung. Dialoge von Platon sind ebenfalls erfüllt von verschiedenen Stimmen. Wer könnte mit Sicherheit behaupten, dass Sokrates‘ Stimme und Platons Stimme identisch sind? Kierkegaard hat ein Dutzend von Pseudonymen verwendet, welches davon ist tatsächlich seine eigene Stimme? Platon oder Kierkegaard verschwinden nicht in ihrem polyphonischen Stil, da sich immer etwas als platonischer oder kierkegaardischer Gedanken bezeichnen lässt. Figuren oder Pseudonyme sind dabei wahrscheinlich nur „Täuschungsmittel“. Eben um das eigene Ich zu verbergen, entwickelt man den Stil und das pseudonymische Schreiben. Nietzsche verbirgt sich hinter seinem Stil, das heißt aber noch nicht, dass es keinen Nietzsche gibt.

Nach dem Zarathustra-Buch hatte Nietzsche eigentlich vor, eine Autobiographie zu schreiben. Autobiographie bedeutet Reden über sich selbst. Aber wenn das Sprechen von Zarathustra ohnehin die Selbstrede von Nietzsche ist, wozu dann noch eine Autobiographie? Der Wunsch, eine Autobiographie zu schreiben, gibt zu erkennen, dass Nietzsche sich doch nicht wohl fühlt beim Sprechen mit Hilfe von Täuschungsmitteln. Dennoch gibt Nietzsche vorerst den Plan zu einer Autobiographie auf und schreibt stattdessen Jenseits von Gut und Böse; Zur Genealogie der Moral, Götzen-Dämmerung und Der Antichrist. Erst dann verfasst er ein Selbstbekenntnis in Ecco Homo, um anschließend „den Martertod am Kreuz des Gedankens“ zu sterben (Thomas Mann). Von Jenseits von Gut und Böse an zitiert Nietzsche immer mehr sich selbst. Ecco Homo weist passagenweise Selbstzitate auf. Wahrscheinlich wird Derrida doch von Nietzsches Behauptung „keine Tatsache, nur Interpretationen“ betrogen. Nicht, dass es keinen Nietzsche gäbe. Die Nietzsches sind nur Schattenbilder von DEM Nietzsche, so wie es der Buchtitel Der Wanderer und seine Schatten andeutet. Nietzsche ist kein postmoderner Anti-Logik-Denker. Er strebt nach der Wahrheit, nur dass er die Wahrheit nicht offen aussagt. Derrida fragt nicht danach, warum er die Wahrheit nicht offen aussagen will, sondern er geht davon aus, dass Nietzsches Rede nur die Abwesenheit der Wahrheit beweisen würde. Dies zeugt eben von der typischen Blasiertheit der Postmoderne.

 

3. Die „Schlange“ in Zarathustras Mund

 

Abgesehen von den veröffentlichten Werken sind die Briefe und Postkarten, die Nietzsche nie veröffentlichen wollte, Beweis dafür, dass die ewige Wiederkunft, der Wille zur Macht und die Umwertung der Werte tatsächlich die „Lehre“ sind, die er aussagen wollte. Ob sie nun die Wahrheit bilden, die Nietzsche ebenfalls lautbar machen will, kann man nicht ohne weiteres feststellen.

In Also sprach Zarathustra, dessen Hauptthema nach Nietzsche selbst der Gedanke der ewigen Wiederkunft sein soll, ist schon vom Willen zur Macht die Rede. Zarathustra unterscheidet zwischen zwei Menschengruppen: die eine ist die der Weisen, die andere die der Unweisen, das Volk. Den Weisen wohnt die Leidenschaft für den „Wille[n] zur Wahrheit“ inne, was im Wesentlichen bedeutet: „Alles Seiende“ „soll sich euch fügen und biegen!“ So ein Wille ist eben der Wille zur Macht: „Schaffen wollt ihr noch die Welt, vor der ihr knien könnt: so ist es eure letzte Hoffnung und Trunkenheit.“ Dennoch besitzt das Volk auch seinen Willen zur Macht, nämlich die Morallehre von Gut und Böse, an die es glaubt.

Da hier zwei unterschiedliche Willen zur Macht erscheinen, entsteht die Frage: Welchen meinen wir, wenn wir von der Lehre des Willens zur Macht sprechen? Aber die Worte, die Zarathustra anschließend ausspricht, machen die Frage mit einem Mal unwichtig. Zarathustra, der gut in Gleichnissen sprechen kann, spricht also weiter: „Die Unweisen freilich, das Volk – die sind gleich dem Flusse, auf dem ein Nachen weiter schwimmt: und im Nachen sitzen feierlich und vermummt die Wertschätzungen.“ (Also sprach Zarathustra: Von der Selbst-Überwindung). Der Abschnitt erinnert mich an den alten chinesischen Spruch der politischen Weisheit: der Fluss kann einen Nachen tragen, kann ihn aber auch umstürzen. Hier ist mit dem Fluss auf das Volk angespielt, und die Weisen sind als Nachen versinnbildlicht. Also geht es hier um Herrschaftsverhältnisse. Die Beziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten beruht auf Wertschätzungen. Warum? Was für eine Beziehung zwischen den zwei Willen zur Macht liegt also vor?

Wer strebt nach der Wahrheit? Weder der Souverän, noch das Volk, sondern der Philosoph. Der „Wille zur Wahrheit“ ist der Wille zur Macht des Weisen (d.h. des Philosophen) und er steht im Verfügungsverhältnis mit dem Willen zur Macht des Volkes, bei dem Gut als Gut und Böse als Böse angesehen wird. Der besagte Philosoph scheint auch nicht einer im allgemeinen Sinne zu sein, sondern der sogenannte Philosophenkönig aus der Politeia von Platon. Wer auf der Welt soll herrschen? Der, der den Willen zur Wahrheit hat. Warum? Weil man erst mit dem Willen zur Wahrheit die Wertordnungsfolge festzulegen vermag, die die Grundlage der Legitimierung der Herrschaft bereitet.

Da die höhere Macht von dem höheren Wert abgeleitet wird, und nicht umgekehrt, sollen die Weisen/Philosophen den eigenen erstrebten Wert vorzeigen. Warum sagt Zarathustra aber, dass die Weisen die eigenen „Wertschätzungen“ „vermummen“?

Nachdem Zarathustra darauf hingewiesen hat, dass der Wille zur Macht der Weisen eben der Willen der Machthaber, Herr zu sein, ist, wendet er sofort ein:

„Mit euren Werten und Worten von Gut und Böse übt ihr Gewalt, ihr Wertschätzenden; und dies ist eure verborgene Liebe und eurer Seele Glänzen, Zittern und Überwallen. Aber eine stärkere Gewalt wächst aus euren Werten und eine neue Überwindung: an der zerbricht Ei und Eierschale.“ (Also sprach Zarathustra: Von der Selbst-Überwindung)

Heißt das, dass die Weisen die eigenen „Wertschätzungen“ nur „vermummen“, damit „Ei und Eierschale“ nicht zerbrechen müssen?

Im oben genannten Abschnitt der Aussagen von Zarathustra zeigt sich in der Tat der enge innere Zusammenhang zwischen dem Willen zur Macht und der Umwertung der Werte. Obwohl die ewige Wiederkunft nicht wörtlich herangezogen wird, lässt sich ein eher natürlicher Beweggrund des Flusses, der nicht von sich selbst angetrieben werden kann, auf sie beziehen. Offensichtlich ist aber die Kernlinie der Aussagen nicht bis auf den von Heidegger ausgeführten, metaphysischen „innersten Zusammenhang“ zurückzuführen, sondern sie stellt die politischen Verhältnisse zwischen den Weisen und dem Volk dar, nämlich die Unmöglichkeit der öffentlichen Koexistenz der beiden Willen zur Macht. Während seiner Proklamierung des Willens zur Wahrheit gerät Zarathustra nach und nach in so einen Rausch, dass er in seiner Aufregung die vermummte Wahrheit beinahe offenbart hätte, dass er beinahe vergessen hätte, dass man die Wahrheit nicht auszusagen, sondern immer zu verbergen hat: „Reden wir nur davon, ihr Weisesten, ob es gleich schlimm ist. Schweigen ist schlimmer; alle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig.“ (Also sprach Zarathustra: Von der Selbst-Überwindung) Die hier genannte Selbst-Überwindung macht also nur den Anschein einer ethischen Thematik, sie bezieht sich doch eigentlich auf das Verbergen der Wahrheit vor dem Volk. Dabei gilt diese Selbst-Überwindung dem Philosophen, der seinen eigenen Trieb überwinden soll, den Menschen mit der Wahrheit bekanntzumachen. Wenn man den Begriff des Willens zur Macht bei Nietzsche als den Überrest der Metaphysik oder als das Recht des Körpers zu lesen versucht, dann scheint man von den anderen Worten Nietzsches irritiert zu werden.

Warum hat Nietzsche nach dem Zarathustra-Buch keine Autobiographie geschrieben? Man kann dies mit einem überzeugenden Grund erklären: Nietzsche findet noch nicht die richtige Zeit vor, die „vermummte“ Wahrheit offenzulegen. Also sprach Zarathustra ist „sprachlich ein wahrer tour de force, zu vergleichen nur etwa mit der wundervollen Analyse des Meistersinger-Vorspiels in Jenseits von Gut und Böse“. Tatsächlich folgt in Jenseits von Gut und Böse auf die Darlegung „von den Vorurteilen der Philosophen“ eine Rede vom Recht der Weisen auf den Willen zur Macht: das Recht, den in der Moral herrschenden Gott zu ermorden, d.h. die Macht, die das Gute und Böse bestimmende Ethik zu vernichten. Zum Schluss der Passage deklamiert Nietzsche noch einmal dezidiert: die Welt „wäre eben ‚Wille zur Macht‘ und nichts außerdem.“ (Jenseits von Gut und Böse, 36) Dies bedeutet nichts anderes als die Überzeugung, dass nur der Wille zur Wahrheit von den Weisen (Philosophen) die absolute und höchste Souveränität hat. - Im Anschluss daran lässt Nietzsche etwas Wunderliches von sich hören:

„Wie? Heißt das nicht, populär geredet: Gott ist widerlegt, der Teufel aber nicht –? Im Gegenteil! Im Gegenteil, meine Freunde! Und, zum Teufel auch, wer zwingt euch, populär zu reden!“ (Jenseits von Gut und Böse, 37)

In seinen unveröffentlichten Notizen listet Nietzsche einmal drei Bedingungen vom großen Menschen auf: neben der „Fähigkeit, über große Flächen seines Lebens hin seinen Willen auszuspannen“, und dem Mut, „ohne Furcht vor der Meinung“, die „Tugenden der Heerde“ zu verachten, findet sich noch eine Bedingung, die wichtigste: nichts von den eigenen Geheimnissen zu verraten. Dies entspricht dem Spruch im Tao Te King: „Immer verstehen nur wenige das Tiefste, darin liegt auch meine Würde. Der Weyse trägt nach außen ein unscheinbares Gewand, doch birgt er in seinem Inneren edelsten Schmuck.“

„Er weiß sich unmittheilbar: er findet es geschmacklos, wenn er vertraulich wird; und er ist es gewöhnlich nicht, wenn man ihn dafür hält. Wenn er nicht zu sich redet, hat er seine Maske. Er lügt lieber, als daß er die Wahrheit redet: es kostet mehr Geist und Willen.“ (Der Wille zur Macht, 962)

Einmal war Zarathustra mit einem Mann, „der von den glückseligen Inseln kam“, zusammen auf einer Schifffahrt auf dem Meer. In den ersten zwei Tagen schwieg Zarathustra nur, denn die meisten auf dem Schiff waren Zwerge, mit denen er keine gemeinsame Sprache teilte. Aus Langweile aber fing er doch an, den Zwergen die Lehre der ewigen Wiederkunft zu erklären, wurde aber vom Heulen eines Hundes unterbrochen: „Also redete ich, und immer leiser: denn ich fürchtete mich vor meinen eignen Gedanken und Hintergedanken. Da, plötzlich, hörte ich einen Hund nahe heulen.“ Danach geriet er in einen schrecklich wundersamen Tagtraum, wo er „gesträubt, den Kopf nach oben, zitternd, in stillster Mitternacht“ stand. Und „[e]inen jungen Hirten sah [er], sich windend, würgend, zuckend, verzerrten Antlitzes, dem eine schwarze schwere Schlange aus dem Munde hing.“ (Also sprach Zarathustra: Vom Gesicht und Rätsel)

Unter dem chinesischen Volk verbreitete sich einst eine esoterische daoistische ‚Zauberkunst‘, mit der man Gespenster wegjagen und andere Menschen verzaubern (mindestens die Schläge von einem anderen auf diesen zurück übertragen) könne. Um diese Kunst zu erwerben, solle man sich an einem ruhigen und abgelegten Ort üben und dürfe keinen Hund heulen hören und auf keine Frau stoßen (warum die Begegnung mit Frauen vermeiden? Steht nicht etwa im Buch der Urkunde: Hühner dürfen nicht Herr des Morgens werden; werden sie es, geht die Familie unter?), sonst wäre alle Übung umsonst. Das grundlegende Training für die Zauberkunst zielt darauf, die erkannte bzw. erfahrene Wahrheit streng geheim zu halten. Zarathustras Tagtraum drückt, so gesehen, nur seine eigene Angst beim Verraten der heimlichen Wahrheit aus, wenn er sieht, wie „dem [Hirten] eine schwarze schwere Schlange aus dem Munde hing.“ In Also sprach Zarathustra spricht Nietzsche zum ersten Mal in seinem Leben durch eine Gesichtsmaske, die offen gezeigt wird. Sonst spricht er stets mit verschiedenen unsichtbaren Masken. Der Schrecken gibt zu erkennen, wie bekümmert Nietzsche von der Frage ist, ob er seine wahre Weltanschauung aussagen soll oder nicht.

In seiner Jugend erschöpft er sich schon im Nachdenken über die Beziehung zwischen der Wahrheit und der Lüge. Der Nachweis davon ist ein zu Lebzeiten nicht publizierter Artikel: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. Die ersten drei Kapitel schreibt er ganz ordentlich, ohne irgendeine Übertreibung, Ungeduld und Ironie auf der sprachlichen Ebene aufscheinen zu lassen. Der Rest bleibt dagegen nur flüchtig aufgeschriebene Skizze, als ob er keine Geduld mehr hätte, das Thema durchzudenken. Ein Abschnitt im ersten Kapitel ist bemerkenswert:

„Soweit das Individuum sich gegenüber andern Individuen erhalten will, benutzt es in einem natürlichen Zustand der Dinge den Intellekt zumeist nur zur Verstellung: weil aber der Mensch zugleich aus Not und Langeweile gesellschaftlich und herdenweise existieren will, braucht er einen Friedensschluß und trachtet danach, daß wenigstens das allergrößte bellum omnium contra omnes aus seiner Welt verschwinde. Dieser Friedensschluß bringt etwas mit sich, was wie der erste Schritt zur Erlangung jenes rätselhaften Wahrheitstriebes aussieht. Jetzt wird nämlich das fixiert, was von nun an ‚Wahrheit‘ sein soll.“ (Notizen, 102)

Zarathustras Aussagen heben offensichtlich die Spannung zwischen Wahrheit und Lüge immer noch nicht auf, so dass Nietzsche sich immer noch im Dilemma zwischen dem Aussagen und dem Geheimhalten gefangen sieht. Erst mit dem Buch Der Antichrist wird die Spannung gelöst und die Zeit für eine Autobiographie angekündigt, was auch ein Zeichen von Nietzsches Vollendung ist. Über so ein Ende weiß aber Zarathustra schon früh Bescheid: „wahrlich, wo es Untergang gibt und Blätter fallen, siehe, da opfert sich Leben – um Macht!“ (Also sprach Zarathustra: Von der Selbst-Überwindung)

In Nietzsches Gedanken scheint ein wahrliches Spannungsverhältnis zu liegen – Spannung zwischen der Wahrheit und Lüge oder zwischen dem Philosophen und dem Volk. Ist es nicht der Nietzsche, den man beim Philosophieren ernst nehmen soll? Die von Nietzsche abgeleitete Grundlehre oder der Plural „Nietzsches“ sind wohl nur die „Vorurteile“ der schlechten Philosophen, wie Nietzsche sie selbst nennt. Kann es sein, dass wir, wenn wir diese Spannung zwischen Aussagen und Nicht-Aussagen nicht erfassen, „die Philosophie Nietzsches niemals fassen, und [...] nichts vom 20. Jahrhundert und den künftigen Jahrhunderten“ begreifen können, so Heidegger?


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(Alle Fußnoten in der pdf)

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