Springe direkt zu Inhalt

Chén Quán

HOME SCHEDULE ABSTRACTS ARTICLES LOCATIONS CONTACT

Chén Quán

(1943)

Über den Autor

Über den Text

 

 

 

Nietzsche und Der Traum der roten Kammer


I


1764 schrieb Cáo Xuěqín die ersten 80 Kapitel seines Romans Der Traum der roten Kammer fertig. 120 Jahre später verfasste Nietzsche sein Werk Also sprach Zarathustra. In ihren lebenslangen Arbeiten haben sich die beiden Philosophen intensiv mit der Welt und mit dem Leben auseinandergesetzt.

Beide Werke wurden nach und nach populär, und unzählige Menschen wurden von ihnen beeinflusst. Das eine Werk ist die Kristallisation östlicher Kultur, das andere der Widerstand gegen die westliche Kultur. Beide Autoren sind ungewöhnliche Genies. Sie haben unvergängliche Beiträge zur menschlichen Gesellschaft geleistet. Allerdings erlebten sie auch ein ähnliches Schicksal: Sie waren einsam, fanden zu ihren Lebzeiten keine große Resonanz und wurden von wenigen Leuten verstanden und geschätzt.

Die Philosophie des Autors des Traums der roten Kammer ähnelt in vielerlei Hinsicht der von Schopenhauer, wie ich bereits im letzten Kapitel Schopenhauer und Der Traum der roten Kammer detailliert dargestellt habe. Während die Philosophien von Schopenhauer und Cáo Xuěqín ähnlich sind und sie die Vernichtung des „Willens zum Dasein“ und die „Befreiung vom irdischen Leben“ befürworten, stellt die Philosophie und die Gedankenentwicklung von Nietzsche – der anfangs am deutlichsten und am meisten durch Schopenhauer geprägt wird, aber später am heftigsten gegen Schopenhauer gekämpft hat – den besten Ausgangspunkt dar, um den Traum der roten Kammer zu bewerten und zu kritisieren. Denn wenn wir Schopenhauer benutzen, können wir den Traum der roten Kammer lediglich interpretieren; aber wenn wir Nietzsche verwenden, dann können wir den Roman genauer und detaillierter kritisieren. Mit Hilfe von Schopenhauer können wir nur auf das „Recht“ bei Cáo Xuěqín hinweisen; mit Hilfe der Philosophie von Nietzsche können wir hingegen das „Unrecht“ bei Cáo Xuěqín finden. Nietzsche und Cáo Xuěqín vertreten zwei extrem gegensätzliche Richtungen der Lebenseinstellung. Ihr „Recht“ oder „Unrecht“ können wir keinesfalls unbegründet bewerten; jedoch in der Entwicklung der Zeit und im Zeitgeist lässt sich sicherlich ein Bewertungskriterium aufzeigen.

 

II

 

Zum Leben hat der Autor vom Traum der roten Kammer eine verneinende Auffassung. Die Philosophie der Weltentsagung des Buddhismus wird grundlegend verdeutlicht. Der Protagonist Jiǎ Bǎoyù legt überhaupt keinen Wert auf irdischen Ruhm und Reichtum. Der traditionelle Gedanke des Konfuzianers, sich dem irdischen Leben zu widmen, ist das Hindernis seiner Befreiung vom Leben. Um das Nirwana zu erreichen, stellt das erotische Begehren zwischen Mann und Frau das größte irdische Hindernis für die Menschen dar. Aber der Held hat es trotz aller Schwierigkeiten geschafft, sich von allen irdischen Begehren zu befreien und alle Hindernisse zu überwinden. Das höchste Ideal der buddhistischen und taoistischen Philosophie, nämlich sich von allem irdischen Begehren zu lösen, ein Herz wie vertrocknetes Holz und tote Asche zu haben, die Täuschung des Scheins der Welt zu vermeiden, die Wahrheit des Alls und des Lebens klar zu erkennen und die seelisch absolute Freiheit zu genießen, werden im Traum der roten Kammer in vollem Maße dargestellt.

Kurz bevor Schopenhauer stirbt, seufzt er, dass er keine Zeit gehabt habe, das Nirwana zu erreichen. Jiǎ Bǎoyù hat hingegen alles durchschaut, alles aufgegeben, die Familie verlassen und sich vom Leben befreit, was Schopenhauer nicht geschafft hat und auch nicht schaffen konnte. Schopenhauer träumte lebenslang von der Befreiung vom Leben. Aber weil er nach Ruhm strebt, wurde er verbittert mit der Welt. Er hasst Hegel und beschimpft heftig die zeitgenössischen Philosophen. In den letzten zehn Jahren seines Lebens wird er von aller Welt als Idol gekrönt. Jeden Tag möchte er nur die lobpreisenden Artikel in der Zeitung lesen und verbringt viel Zeit damit, Journalisten und Besucher aus der Ferne zu empfangen. Sein geistiger Horizont und seine Kühnheit sind nicht vergleichbar mit denen des Romanhelden Jiǎ Bǎoyù. Schopenhauer appelliert an die Menschen, sich vom Leben zu befreien, allerdings hat er es selbst nicht geschafft; Jiǎ Bǎoyù hingegen hat es versucht und es letzten Endes doch geschafft. Schopenhauers Werke genossen damals große Popularität, kamen jedoch schnell aus der Mode. Er beeinflusste Nietzsche, aber doch nur in begrenztem Maße. Der Traum der roten Kammer ist im Osten (sic.) hingegen immer populär geblieben. Die Einflüsse, die die Philosophie des Romans auf die Lebensauffassung der östlichen (sic.) Völker ausübt, sind überall zu bemerken.

Die Entwicklung der Menschheit geht entweder weiter nach vorn oder zurück. Wenn man die Kraft des Lebens nicht aktiv entwickelte, würde die passive Kraft die Lebenskraft beeinträchtigen. Nur in diesen zwei geraden Richtungen können die intellektuellsten Menschen ihren Platz im Leben finden. „Die Lehre vom Goldenen Mittelweg“ ist nicht das Prinzip des Genies. Es gibt zwar auch Philosophen, die Toleranz, Harmonie und Kompromiss befürworten, aber diejenigen, die sie beeinflussen, sind keine Genies, sondern meistens gewöhnliche Gelehrte oder Philister. Die Helden mit Charakter und die Weisen mit hervorragender Begabung gehen immer den extremen Weg.

Die Philosophien von Cáo Xuěqín und Nietzsche sind Nord- und Südpole des Lebens. Der Traum der roten Kammer und Also sprach Zarathustra richten sich immer auf das Genie. Genies sind die Essenz der Gesellschaft, die Triebkraft des Fortschritts der kulturellen Gesellschaft und der Befehlshaber des Volkes. Die Lebenseinstellungen von Cáo Xuěqín oder Nietzsche, verdeutlicht durch Jiǎ Bǎoyù und Zarathustra, dem passiven und befreiten Leben oder aktiven und brillanten Leben, für welches sich ein Genie entscheidet, ist jederzeit das Wichtigste in einer Gesellschaft.

 

III

 

Nietzsche ist „Kulturphilosoph“. Er interessiert sich am meisten dafür, wohin die Kultur geht. Dass die Kultur weiter nach vorne gehen muss, ist unumstritten sein lebenslanger Glaube. In der ersten Periode seiner Philosophie hat er zwar den Pessimismus Schopenhauers akzeptiert, jedoch ist der Ausgangspunkt seiner Philosophie anders als der der Philosophie von Schopenhauer. Er hasst den oberflächlichen Optimismus der normalen Europäer so sehr, weil dieser Optimismus die europäische Kultur verderben würde. Um das Ziel und das Ideal der Menschheit zu erhöhen, muss Nietzsche zunächst verbreiten, dass der Optimismus wie der von David Friedrich Strauß keine tiefe Grundlage und Basis hat. Das Leben ist miserabel und schmerzlich, deshalb müssen wir das Leben gut kennen und es mit Mut ertragen. Das ist der Geist der antiken griechischen Tragödie, den Nietzsche propagiert. Dies ist schon ein Unterschied zu den pessimistischen Gedanken von Schopenhauer.

In der zweiten Periode seiner Philosophie hat sich Nietzsche von Schopenhauer völlig verabschiedet. Auf den ersten Blick ist das erstaunlich, aber genauer überprüft, lässt es sich von selbst verstehen. Die Lebenseinstellung von Nietzsche ist von Anfang an aktiv. Mit dem Geist der griechischen Tragödie verschmolzen, ist Schopenhauers verneinende Lebenseinstellung bei Nietzsche bejahend geworden. Die dem Pessimismus entstammende bejahende Lebenseinstellung hat keine sichere Basis. Nietzsche entdeckt sofort, dass die Philosophie Schopenhauers nicht „gesund“ ist (sic.). Seine Philosophie der Weltentsagung ist nur Betäubungsmittel, und die Vernichtung des Willens ist nur eine vorübergehende Lösung. Sogar im Geist der von Nietzsche hoch gepriesenen griechischen Tragödie versucht man das zu machen, was verboten zu sein scheint. So ist nach dem Leben wirklich nicht zu streben. Der Mut zu streben ist ebenfalls naturwidrig.

Sowohl das Betäubungsmittel als auch den naturwidrigen Mut braucht Nietzsche nicht. Er will das Leben klar erkennen und es akzeptieren und ertragen. „Die fröhliche Wissenschaft“ ist Nietzsches leitende Idee in der zweiten Periode seiner Philosophie. Die „Wissenschaft“ ist die klare Beobachtung und „fröhlich“ ist die bejahende Gesinnung. Die Kultur muss sich entwickeln, was auf dem Optimismus als Grundlage basieren muss. Jedoch ist der Optimismus von Nietzsche nicht wie der von David Friedrich Strauß, weil der letztere oberflächlich und der erstere tiefsinnig ist; weil der letztere auf dem hohen Stand der Kultur basiert, der erstere hingegen auf der Wahrheit der Wissenschaft.

Allerdings ist die Wahrheit der Wissenschaft schwer zu erreichen, und wenn ermöglicht, muss sie noch nicht garantiert hilfreich fürs Leben sein. Ferner ist die Wissenschaft völlig von der Vernunft abhängig, und die Vernunft ist nicht der Ursprung des Lebens. Das Ziel der Untersuchung der Wissenschaft ist es, das Leben zu fördern. Nun vernichtet man aber das Leben um der Wissenschaft willen. So ist der Rationalismus so wenig zuverlässig wie der Pessimismus.

Die Lebenseinstellung Nietzsches ist immer bejahend und aktiv. Was er will, ist das Leben; die Wahrheit darf geopfert werden, aber das Leben nicht. Die wichtigste Frage des Lebens besteht nicht darin, was die Wahrheit ist, sondern eher darin, wie man das Leben entwickeln soll. Falls die Wahrheit das Problem löst, wird sie dann akzeptiert; falls sie sich dieser Aufgabe nicht annehmen kann, ist sie nutzlos. Im letzteren Fall ist es gar nicht mehr wichtig, ob die Wahrheit da zur Verfügung steht.

Die Quelle des Lebens ist nicht die Vernunft, sondern der Wille; die Vernunft ist der Diener, der Wille ist der Herr; die Vernunft ist das Mittel, der Wille aber die schicksalsbestimmende Kraft. Das wird schon mehrmals im schopenhauerschen philosophischen System erläutert. Das Wichtigste des menschlichen Willens ist der Wille zum Dasein. Die Menschen müssen nicht nur für ihr eigenes Dasein kämpfen, sondern auch für das der Nation. Die Befreiung vom Willen zum Dasein ist die schwerste Aufgabe.

Der Wille ist die Triebkraft von allem im Leben. Diese Auffassung von Schopenhauer wird von Nietzsche in der dritten Periode seiner Philosophie akzeptiert. Jedoch nimmt der Wille zum Dasein nach Nietzsche nicht den wichtigsten Platz im Leben ein. Die wichtigste Frage in der schopenhauerschen Philosophie ist, wie man sich vom Willen zum Dasein befreit; die der Philosophie von Nietzsche besteht hingegen darin, wie man diesen Willen ermutigt. Nietzsche entdeckt, dass es außer dem Willen zum Dasein noch die größte Kraft des Lebens gibt, nämlich „den Willen zur Macht“. Die Menschen verlangen nicht nur das Dasein, sondern auch die Macht. Ohne Macht ist das Dasein nicht brillant. Falls der Wille zur Macht ihren Höhepunkt erreicht, kann man damit den Tod in die Knie zwingen. In diesem Fall kann der Wille zum Dasein einen nicht mehr beherrschen. Wenn man sich von den Beschränkungen im Leben freikämpfen möchte, soll man sich nicht naturwidrig vom Willen zum Dasein befreien, sondern den Willen zur Macht ermutigen.

Die Kultur muss fortschreiten und die Menschheit muss die Vorgänger übertreffen. Um das zu schaffen, muss man sich auf den Willen zur Macht einstellen. Diese Welt ist ein Schlachtfeld und das Leben ist ein Kampf. Nur im Kampf entwickelt sich die Kraft des Lebens am besten. Alle Philister werden von der Natur vernichtet oder aussortiert. Die Kultur wird ihren Höhepunkt erreichen und der Übermensch wird diese Welt beherrschen.

Nietzsche hasst sieben Dinge: den Pessimismus, die Moral, das Christentum, den Sozialismus, die Demokratie, den Rationalismus sowie den Feminismus (sic.). Das sind die „sieben Gifte“ der Menschheit. Wenn sie nicht vernichtet werden, wird die Kultur trivial, sie wird verderben oder sogar aussterben. Die Krise der europäischen Kultur hat Nietzsche klar durchschaut. Als Folge der Industrialisierung, der hohen Entwicklung des materiellen Lebens sowie der „Mode“ des Hedonismus sind die Europäer nicht mehr diejenigen, die sich mühen und zielstrebig sind, sondern Müßiggänger. Alles ist anspruchslos, alles ist hedonistisch, alle Menschen sind gleich, die Welt ist friedlich, das Leben ist miserabel, das Streben ist nicht vernünftig. So eine langweilige Welt ist nicht eine, die Nietzsches Ideal entspricht.

Er tut alles Mögliche, um seine „neue Religion“ zu propagieren. Seine neue Lehre und sein neues Ideal ist der Gedanke des „Übermenschen“. Sein Übermensch soll das Leben bejahend akzeptieren; eine optimistische Auffassung vertreten; eine aktive Lebenseinstellung haben und die eigene Lebenskraft in vollem Maße entwickeln. Er soll seinen Willen zur Macht expandieren; sich von den traditionellen Beschränkungen befreien; weise sein und wissen, wie man in der Welt herrschen soll und wie man eine neue Seite der Welt der Menschheit öffnet. Er soll den Krieg mögen und jederzeit als braver Soldat für den Krieg bereit sein. Er braucht keine Angst vor dem Tod zu haben, weil er den Tod in die Knie zwingen kann. Er soll ein Symbol für die gesamte Menschheit und das Kennzeichen für den Fortschritt der Weltkultur sein.

 

IV

 

Die absolut optimistische und aktive Lebenseinstellung von Nietzsche und das Lebensideal im Traum der roten Kammer sind auf derselben Erde gesehen wie Nord- und Südpol. Die leitende Idee im Traum der roten Kammer besteht darin, sich vom Willen zum Dasein wie bei Schopenhauer zu befreien. Unter zahlreichen Erzählsträngen des Romans wird diese leitende Idee hervorgehoben. Jiǎ Bǎoyù sollte der Repräsentant der Menschheit aller Welten in den Augen des Autors sein. Sein Befreiungsprozess ist das, was Cáo Xuěqín andeuten möchte. Wie hat Jiǎ Bǎoyù das Nirwana erreicht? Durch die gründliche Vernichtung seines Willens zum Dasein. Das Leben, der Wille sowie der Kummer sind drei verschlungene Ringe in einer unlösbaren Kette. Durch zahllose Mühen hat Jiǎ Bǎoyù sie mit einem Hammer durch einen sanften Schlag, nämlich durch seine Flucht, endgültig vom Leben abgekuppelt.

Die Kette wird gelöst, aber auch zerstört. Jiǎ Bǎoyù flüchtet vom Leben und befreit sich von den irdischen Leiden, aber zugleich geht sein Leben dem Untergang zu. Er hat alle Brücken hinter sich abgebrochen. Diese Methode ist naturwidrig. Das Leben ist wie ein Theaterstück: Solange man im Kostüm und geschminkt die Bühne betritt, ist es nicht mehr leicht, die Bühne wieder zu verlassen, ohne zu singen und zu spielen. Damit wären sowohl die Theatermanager als auch das Publikum nicht einverstanden. Denn warum singst du nicht oder spielst du nicht deine Rolle? Nach Cáo Xuěqín soll man die Rolle nicht spielen. Nietzsche vertritt hingegen eine andere Auffassung: Man muss nicht nur spielen, sondern auch gut und voller Leidenschaft.

Vom Standpunkt des Spielers ist es gleichgültig, ob der Spieler die Rolle seines Lebenstheaterstücks spielt, weil es im Grunde die eigene Wahl ist; aber Theatermanager und Publikum würden höchstwahrscheinlich Nietzsche befürworten und Cáo Xuěqíns Kämpfen strikt ablehnen. Der Theatermanager ist die „Natur“, das Publikum ist die „Gesellschaft“. Die Natur verleiht der Menschheit die Kraft des Lebens, das Cáo Xuěqín unterdrücken möchte; die Gesellschaft soll vom Genie geleitet werden, das Cáo Xuěqín vernichten würde. Wie können die Natur und die Gesellschaft in diesem Fall zufrieden sein?

In der friedlichen Zeit der Welt ist es für ein Land wohl nicht wichtig, ein paar mehr Jiǎ Bǎoyù zu erlauben; aber in der ernsten Gefahr der Nation und vor der Entscheidung zwischen Leben und Tod, wenn die meisten Weisen und Philosophen das weltliche Leben aufgeben und sich der Verantwortung entziehen und das Sklaven-Leben bald kommen wird, falls die Nation im Augenblick noch nicht zugrunde geht, wie kann das schwere Leben weitergeführt werden?

Seit tausend Jahren wird die chinesische Nation vom Buddhismus geprägt und damit die Lebenskraft der Nation zerstört. Das ist giftiger als die sieben Gifte, die Nietzsche kritisiert. Der Roman Der Traum der roten Kammer ist die Kristallisation der buddhistischen und taoistischen Philosophie, und mit seiner gesamten Kunstform dringen die Gedanken der Weltentsagung und des extremen Individualismus tief in das Herz der Leser. Im gegenwärtigen China, falls wir noch nicht völlig entsagt haben, falls wir der Überzeugung sind, dass man die Rolle des Lebenstheaterstücks spielen muss, falls wir klar erkennen, dass das Leben nicht vernichtet werden darf, dann sind wir nicht mehr einverstanden mit der Lebenseinstellung und der Weltauffassung des Autors vom Traum der roten Kammer.

Mit dem Gedanken, dass die Kultur fortschreiten und die Menschheit sich entwickeln müsse, hat Nietzsche vor sechzig Jahren an die Menschheit appelliert. Für die gegenwärtige chinesische Nation ist dieser Appell sehr sinnvoll. Man findet zwar viele extreme Gedanken in Nietzsches Philosophie, aber seine aktive Lebenseinstellung und -philosophie sind genau das richtige Heilmittel für die Probleme Chinas.

Jiǎ Bǎoyù flüchtet sich letzten Endes als Einsiedler in ein buddhistisches Kloster, während Zarathustra die Berge verlässt und in die Welt geht. Sie gehen auf einem völlig unterschiedlichen und gegensätzlichen Weg.

Und auf welchem Weg gehen wir denn? Haben wir es uns überlegt?

 

Übersetzung von Lin Chen



Über den Text: Chinesisch: „尼采和红楼梦” (ní cǎi hé hóng lóu mèng). In: Friedrich Nietzsche in China („尼采在中国”, ní cǎi zài zhōng guó), hrsg. von郜元宝 (Gào Yuánbǎo). Shanghai. 2001: 345-350. Der Autor Chén Quán (陈铨) hat diesen Artikel mindestens zweimal veröffentlicht: einmal in den 30er Jahren, einmal 1943. Hier wird die letztere Version übersetzt. In diesem Artikel greift er die Unterschiede der Lebenswahlen des Protagonisten in Also sprach Zarathustra von Nietzsche und im Traum der roten Kammer („红楼梦”, hóng lóu mèng) von Cáo Xuěqín (曹雪芹, 1715/1724 – 1763/1764) auf. Inhaltlich beschäftigt sich der Autor wenig mit den beiden Prosawerken, vielmehr interessiert er sich für die Philosophie von Nietzsche und dafür, was für eine Rolle die Philosophie von Nietzsche im damaligen China gespielt haben kann. Er appelliert an die chinesischen Intellektuellen der 1940er Jahre, eine Entscheidung angesichts des damaligen Zeitgeists zu treffen. In der Krönung der Philosophie von Nietzsche nach Chén Quán wird aber auch ein der nazistischen Ideologie ähnelnder Gedanke zum Ausdruck gebracht (vgl. III), obwohl Chén Quán durchaus versucht, den hitlerschen Nazismus von der von ihm geschätzten deutschen Kultur zu trennen.

Über den Autor: Chén Quán (1903-1969), geboren in Fùshùn (富顺), Provinz Sìchuān (四川). 1933 promoviert er mit seiner Doktorarbeit Die chinesische schöne Literatur im deutschen Schrifttum an der Christian-Albrecht-Universität zu Kiel. In China ist er Universitätsprofessor, Schriftsteller und vor allem wichtiger Forscher der deutschen Literatur und Philosophie sowie der chinesisch-deutschen vergleichenden Literatur. Er gründet mit Kollegen die Schule der Strategie der Streitenden Reiche („战国策派“, zhàn ɡuó cè pài), die von der deutschen Kultur tief geprägt wurde. Politisch engagiert streben er und seine Schule mit der Einführung und der Propaganda der deutschen Kultur und vor allem der Philosophie Nietzsches u.a. nach dem chinesischen „Sturm und Drang“ und nach den chinesischen Übermenschen. Für sein Ziel, die aktive politische Philosophie zu progagieren, scheint die Übermensch-Philosophie Nietzsches passend zu sein. In seiner Dichtung werden die Spuren von Nietzsche ebenfalls zu sehen. Seine intensive Nietzsche-Rezeption nimmt eine wichtige Stellung in der Nietzsche-Rezeptionsgeschichte in China ein.


NACH OBEN

 

download as pdf

Chinese original

 

(Alle Fußnoten in der pdf)