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In memoriam Sebastian Neumeister (5.4.1938 – 10.8.2023)

News vom 22.09.2023

Mit Sebastian Neumeister (Chemnitz 1938 – Berlin 2023) hat die deutsche Romanistik ein Inbild dessen verloren, wofür dieses Fach seit seinem Anbeginn steht. Mit einem beeindruckend breiten geistigen Horizont, mit Vielsprachigkeit und einem komparatistischen Ansatz stand Sebastian Neumeister für das hermeneutische Arbeiten am literarischen Text im Bewusstsein für die gesellschaftliche Relevanz der Philologie.

Sebastian Neumeister war nach Stationen als wissenschaftlicher Assistent und Assistenzprofessor in Saarbrücken (1966-1975), einer Lehrstuhlvertretung in Trier und einer ersten Professur an der Universität Siegen (1976-1980) über mehr als vier Jahrzehnte seit 1980 Professor für Literaturwissenschaft am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin.

Seine wissenschaftliche Karriere hatte er mit seiner von Hans Robert Jauß betreuten Dissertation Das Spiel mit der höfischen Liebe begonnen, die 1966 als erste Dissertation überhaupt an der damals neu gegründeten Universität Konstanz angenommen wurde: eine wegweisende Arbeit über das Streitgedicht in der provenzalischen Troubadourlyrik des Mittelalters, in der das Korpus der erhaltenen partimens vorgestellt, im Übrigen auch ins Deutsche übersetzt, insbesondere aber in mehrerlei Hinsicht grundlegend verortet wurde, nämlich in den agonalen Denkstrukturen der Zeit, der Liebestheorie und Liebeskasuistik sowie in der spielerischen höfischen Gesprächskultur. Neumeister hat dabei den Blick besonders darauf gerichtet, wie in den Partimenten im Dialog zweier Autoren Argumentationen entfaltet wurden, in poetischer Wechselrede und auch in der künstlerischen Improvisation.

Dieses dialogische Miteinander im direkten intellektuellen Austausch und die unmittelbare, die spontane Auseinandersetzung mit dem Text sind zwei Haltungen und Fähigkeiten, die Sebastian Neumeister auch als Menschen und akademischen Lehrer geprägt haben. Er war ein Meister der Präsenz. Romanistisch vergleichender Blick, offener Gesprächsstil und Wertschätzung der Textarbeit machten ihn zu einem gefragten Gesprächspartner. Immer ging es um die gemeinsame Arbeit an der Interpretation: Jeder Leser, jede Leserin sollte den eigenen Verständnishorizont in dieses Arbeiten einbringen; unterschiedliche Auffassungen konnten dabei nebeneinander bestehen, denn aus der historischen Reihe der unterschiedlichen, vielleicht auch gegenläufigen Interpretationen entstand für ihn wieder ein eigener historischer Sinn, der auch abweichende Lektüren im Gesamtblick Erkenntnis stiftend macht. Es prägte ihn mithin ein methodischer Pluralismus, der nicht eine bestimmte theoretische Linie verfolgte, sondern die Forschungen je nach der Fragestellung methodisch ausrichtete. Wenn es einen Autor gibt, der ihn in seiner theoretischen Ausrichtung geprägt hat, dürfte das Hans Georg Gadamer und die Hermeneutik von Wahrheit und Methode sein. Unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Text hieß für Neumeister aber nicht voraussetzungsloses Spekulieren, denn die Leserschaft sollte, wie es für ihn selber galt, über einen Bildungskanon verfügen, der die Seriosität der Lektüren absichert und das Interessensspektrum breit hält. Literatur sollte für gebildete, aber dennoch möglichst breite Kreise lebendig gehalten und zugänglich gemacht werden, im Bewusstsein ihrer Relevanz für die ganze Gesellschaft – und dies im Sprachen übergreifenden Dialog, bei dem die Kulturbeziehungen zwischen der romanischen und der germanischen Welt immer wieder im Mittelpunkt standen.

Der Dialog und die intellektuelle Auseinandersetzung haben Sebastian Neumeister von seinem ersten Buch bis zu einer seiner letzten Veröffentlichungen begleitet und sie zeigen sich ganz besonders in seinen Arbeiten zum romanischen Mittelalter. Noch im Jahre 2019 war er Mitautor der Anthologie Das Streitgedicht im Mittelalter zusammen mit Anglisten, Latinisten und Germanisten, eines Buches ganz in seinem Sinne des Arbeitens an der Interpretation, an der Übersetzung komplexer Texte und des Erkennens von Bedeutung im Dialog – Ziele, die er über sechs Jahrzehnte seines Arbeitens verfolgt hat. Im Jahr 2021 erschien schließlich Neumeisters Summa zu den Dichtungen der Staufer, von ihm eingeführt, aus dem Altitalienischen und Mittelhochdeutschen übersetzt und sachkundig kommentiert in einer ansprechenden Ausgabe beim Winter-Verlag.

Die Forschungen Sebastian Neumeisters zeichnen sich durch eine in der gegenwärtigen Forschungslandschaft kaum noch vorstellbare thematische Vielfalt aus. Er war ein Vollromanist der alten Schule, der die Literaturen der romanischen Hauptsprachen vom Mittelalter bis in die Moderne behandelte und auch die unmittelbare Gegenwartsliteratur wahrnahm und in urteilsstarken Studien untersuchte.

Aufs Ganze gesehen war die Hispanistik inklusive der Lateinamerikanistik das wichtigste Forschungsfeld Sebastian Neumeisters. Er begann seine hispanistischen Studien mit der Habilitationsschrift zu den mythologischen Festspielen von Pedro Calderón de la Barca, die seinerzeit in der Forschung kaum beachtet wurden. Sie galten als pompöses Hoftheater: Stücke, die Calderón als Auftragsarbeiten für höfische Feste geschrieben hatte und die ent­sprechend ideologisch verdächtig waren. Aber Neumeister zeigte, dass es sich um hochkomplexe Dramen handelt, die literarisch sehr anspruchsvoll sind und deren Gehalt die okkasionellen Feste in einen politisch-theologischen Kontext einbindet. Die Habilitationsschrift Mythos und Repräsentation. Die mythologischen Festspiele Calderóns (1978) hat diesen Teil des Werks von Calderón zu einem festen Posten der Calderón-Forschung gemacht. In seiner Nachfolge sind viele weitere Arbeiten zu den Festspielen entstanden. In zahlreichen Aufsätzen zu Calderón und zum Theater des spanischen Barock, aber auch zu Cervantes oder zur Lyrik hat Neumeister diese Studien ergänzt. Zudem war er Mitarbeiter der großen spanischen Klassiker-Ausgabe der Dramen Calderóns.

Das zweite große Forschungsfeld Neumeisters in der Hispanistik war Baltasar Gracián. Er hat in Berlin 1988, 2004 und 2010 drei internationale Kolloquien zu Gracián veranstaltet, die das Gesamtwerk des Jesuiten erschließen, der allerdings vor allem als Analytiker der höfischen „Verhaltenslehren der Kälte“ (H. Lethen) und der barocken Lebenskunst und nicht als religiöser Autor hervorgetreten ist. Auch diesen „anderen Gracián“, der ein Meditationsbuch über das Mysterium der Eucharistie verfasst hat, untersuchte Neumeister im Kontext des jesuitischen Schrifttums. Von Gracián, der in Deutschland hauptsächlich durch Schopenhauers Übersetzung des Oráculo manual y arte de prudencia – Handorakel und Kunst der Weltklugheit bekannt war, hat er auch ein Werk ins Deutsche übersetzt: El discreto – Der kluge Weltmann (1996). Für die Übersetzung hat er den Übersetzerpreis der spanischen Botschaft erhalten. Seitdem sind weitere Übersetzungen von Schriften Graciáns erschienen, sodass inzwischen fast das gesamte Werk des Spaniers auf Deutsch zugänglich ist.

Daneben war er über viele Jahrzehnte, seit den Anfängen der jungen spanischen Demokratie, ein diskreter und beständiger Netzwerker. Bereits im Rahmen seiner Arbeit über das mythologische Festspiel war Neumeister Mitte der 1970er Jahre zur Gruppe der calderonistas der «Hamburger Schule» gestoßen. Im März 1978 nahm er an einem ersten deutsch-spanischen coloquio in Madrid teil und wurde von da an für zwei Jahrzehnte eine gewichtige Stimme auf den Coloquios anglo-germanos. Er zählte zu denen, die das Fach Hispanistik aufwerten wollten und die Gründung eines eigenständigen Hispanistenverbandes vorantrieben. Als im Sommer 1981 zum 300. Geburtstag von Calderón ein wegweisender internationaler Kongress in Madrid organisiert wurde, an dem etwa 160 Forscher teilnahmen, war unter den wenigen deutschsprachigen calderonistas Sebastian Neumeister. Viele seiner Forschungsvorhaben, Kontakte und Freundschaften nahmen auf diesem Kongress ihren Anfang. In den folgenden Jahren engagierte sich Sebastian Neumeister auf vielfältige Weise, u.a. in der Asociación Internacional de Hispanistas (AIH) oder der Asociación Internacional „Siglo de Oro“ (AISO); zudem war er seit der Verlagsgründung wissenschaftlicher Berater der Edition Reichenberger.

Als Professor an der Freien Universität Berlin richtete Neumeister im Sommer 1986 den neunten, bis dahin größten Kongress der Asociación Internacional de Hispanistas mit 388 aktiven Teilnehmern in Berlin aus. Im Sommer 1990 hielt er einen Vortrag in Almagro — bei den XIII Jornadas de Teatro Clásico Espacios teatrales del barroco español im Rahmen des mehrwöchigen Theaterfestivals, einer der Schnittstellen zwischen akademischer Forschung und praktischer Theaterarbeit. Ein weiterer seiner Meilensteine war der dritte internationale Kongress der AISO in Toulouse 1993 mit ca. 100 Teilnehmern. Um diese Zeit waren zwei große Editionsprojekte zum Werk Calderóns in Vorbereitung, zu comedias und zu den autos sacramentales. In diesem Zusammenhang wurde 1994 an der Universidad de Santiago de Compostela die internationale Forschungsgruppe «Grupo de Investigación Calderón de la Barca» (GIC) unter der Leitung von Luis Iglesias Feijoo und Santiago de Mosquera gegründet, mit dem Ziel, sämtliche zweiundsechzig comedias von Calderón in einer systematischen, dem aktuellen Forschungsstand entsprechenden Edition herauszugeben. Nach Jahren der Forschung erschienen die sechs Partes des Dramatikers, darunter der von Sebastian Neumeister herausgegebene Band P. Calderón de la Barca, 'Cuarta parte de comedias' in Madrid in der bekannten Klassiker-Reihe «Biblioteca de Castro» (Madrid 2010). Im Jahre 2000, bei den internationalen Feierlichkeiten und Veranstaltungen zum 400. Geburtstag von Calderón, war Sebastian Neumeister auf zahlreichen Kongressen und mesas redondas präsent; vorgestellt wurde ein «neuer» Calderón, Calderón als dramaturgo polifacético, mithin eine Erweiterung des Calderón-Bildes, zu der Neumeister wesentlich beigetragen hatte. Im gleichen Jahr erschien Neumeisters Habilitationsschrift zum mythologischen Drama in spanischer Übersetzung als Mito clásico y ostentación. Los dramas mitológicos de Calderón, wodurch er sich einmal mehr als Pionier darin erwies, den Dialog mit den spanischsprachigen Kollegen auf sprachlich unmittelbarem Wege zu suchen und nicht auf dem Umweg für alle — über das Englische.

Es ist auch den Forschungsarbeiten von Sebastian Neumeister zum Siglo de Oro und der seiner Schüler und Enkelschüler zu verdanken, dass sich die deutschsprachige Siglo de Oro-Forschung mittlerweile über mehrere Zentren im ganzen deutschen Sprachgebiet erstreckt. Im Juni 2016 wurde Sebastian Neumeister für seine herausragenden Verdienste um die spanische Sprache und Literatur von der Real Academia Española ausgezeichnet und zum Académico correspondiente extranjero gewählt.

Ein weiteres Forschungsfeld Neumeisters war die Lateinamerikanistik. Er war einer der ersten in Deutschland, die sich wissenschaftlich mit der Literatur Lateinamerikas beschäftigten. Sein Habilitationsvortrag 1974 behandelte die Erzählung „Deutsches Requiem“ von Jorge Luis Borges. Es wird kolportiert, die Kollegen in der Fakultät hätten sich seinerzeit über den Beitrag zu dem in Deutschland noch kaum bekannten Autor gewundert und gefragt, ob das denn wohl seriös sei. Auch zu Gabriel García Márquez, Octavio Paz und Mario Vargas Llosa arbeitete Neumeister schon in den Siebzigerjahren. Im Kontext seiner Barockforschungen wurde dann vor allem auch die mexikanische Nonne Sor Juana Inés de la Cruz zu einer Autorin, mit der er sich mehrfach auseinandersetzte.

Im Bereich der französischen Literatur gibt es praktisch keine Epoche, für die sich Sebastian Neumeister nicht interessiert hätte. Dabei lassen sich einige Themen ausmachen, die ihn während seiner gesamten Karriere beschäftigt haben. Dazu gehört die Figur des Enzyklopädisten Pierre Bayle, der mit seinem Dictionnaire historique et critique (1669) Fehler und Irrtümer in den Wissenschaften und Künsten korrigieren wollte. In dem von Neumeister herausgegebenen Band Frühaufklärung (1994) interpretiert er den protestantischen Querdenker als postmodernen Kritiker avant la lettre, der für einen aufgeklärten Polytheismus steht und mit seiner historisch-vergleichenden Bibelkritik den Weg für Voltaires Dictionnaire philosophique gebahnt hat. Aber auch in späteren Aufsätzen kam Neumeister immer wieder auf Bayle zurück, indem er ihm in der Geschichte der Enzyklopädie einen Platz als unsystematischen Systematiker zuweist, eine Idee, die wohl ebenfalls erst in einem postmodernen Rezeptionshorizont reifen konnte. In diesem frühneuzeitlichen Kontext sind auch Neumeisters wissenschaftshistorische Überlegungen zum Begriff der enzyklopädischen Sichtbarkeit entstanden, mit dem Sammlungen von Objekten theoretisch überdacht werden, darunter Kirchenschätze, barocke Kunst- und Wunderkammern, moralistische Emblematik, Stammbäume und nicht zuletzt die Tortendiagramme heutiger Meinungsforschung. Dass die noch von Bayle vertretene Idee der perfectibilité, so Neumeister im Historischen Wörterbuch der Philosophie, im Zeitalter der Gleichheit bei Alexis de Tocqueville und bei Charles Baudelaire an ihre Grenzen stößt, kann man in der Monographie Der Dichter als Dandy. Kafka – Baudelaire – Thomas Bernhard (1973) in schönstem Deutsch nachlesen. Dabei wird auch klar, dass Neumeister stets über den romanistischen Tellerrand blickte, was ihn zum Mitherausgeber der renommierten Zeitschrift Germanisch-Romanische Monatsschrift prädestinierte, die er über viele Jahre herausgab.

Auch im Bereich der italienischen Literatur- und Geistesgeschichte gab es nichts, was nicht irgendwann Neumeisters Neugierde weckte: von Aufsätzen über die tre corone, über den Petrarkismus des Cinquecento, über die italienische Enzyklopädik, Torquato Tasso, Emanuele Tesauro und die barocke Festkultur bis hin zur modernen Lyrik war ihm nichts fremd. Wenn man einen Forschungsbereich benennen wollte, der sich für immer mit seinem Namen verknüpfen wird, dann wäre das ohne Frage das Werk Giacomo Leopardis. Als Gründer und jahrelanger Präsident der ersten und einzigen ausländischen Leopardi-Gesellschaft hat Neumeister nicht nur mehrere Tagungen zu dem Dichter aus Recanati organisiert, sondern darüber hinaus auch immer wieder den wissenschaftlichen Nachwuchs zur Auseinandersetzung mit dem wohl wichtigsten modernen Dichter italienischer Sprache ermuntert und herausgefordert. Davon zeugen seine eigenen Aufsätze und Sammelbände, darunter die stark rezipierten Bände Leopardi. Poeta e pensatore (1997) und Leopardi und die europäische Romantik (2015), sowie mehrere Dissertationen aus dem Kreis seiner Schülerinnen und Schüler; und wenn Leopardis letzte Wirkungsstätte, die Villa delle Ginestre bei Neapel, heute im alten Glanz erstrahlt, dann ist das Sebastian Neumeister zu verdanken, der im Jahr 1996 aus Anlass einer Leopardi-Tagung vor Ort gemeinsam mit italienischen Leopardiforschern energisch gegen den Verfall der Villa protestierte.

Zu Sebastian Neumeisters 60. Geburtstag erschien 1998 eine erste Sammlung von Aufsätzen unter dem Titel Europa in Amerika. Annäherungen und Perspektiven. Und zum 65. Geburtstag erschien eine weitere Sammlung von einigen seiner repräsentativsten Aufsätze als Literarische Wegzeichen. Vom Minnesang bis zur Generation X. Zum 70. Geburtstag schließlich wurde er mit einem Band zur arkadischen Literatur in den romanischen Sprachen gefeiert. Bis zuletzt war Neumeister forschend tätig. Über der Arbeit an einer zusammen mit Thomas Rahn besorgten Neuedition von Graciáns El Político Don Fernando el Católico (1646), die Daniel Caspar von Lohenstein als Gratians Staats=kluger Catholischer Ferdinand (1676) publiziert hat, ist er am 10. August 2023 in Berlin-Zehlendorf gestorben.

Roger Friedlein (Bochum)
Gerhard Poppenberg (Berlin)
Eva Reichenberger (Kassel)
Dietrich Scholler (Mainz)

Dieser Nachruf erscheint in PhiN 96/2023.