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Vladimir Sorokin - Samuel Fischer-Gastprofessor für Literatur im Sommersemester 1998

Der russische Autor Vladimir Sorokin ist im Sommersemester 1998 als erster Lehrbeauftragter im Rahmen der Samuel Fischer-Gastprofessur für Literatur an das Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin eingeladen worden und leitete das Seminar Moskauer Konzeptualismus.

Vladimir Sorokin gehört seit Anfang der Achtziger zu den Moskauer Konzeptualisten, die Traditionen der Avantgarde radikalisieren. Sie richten sich nicht nur gegen die offizielle Sowjetliteratur, sondern auch gegen den Klassikerkult, gegen die neonationalistische Dorfprosa, gegen die moralisierende Dissidenten-Literatur. Für die Konzeptualisten waren sie alle Teil eines Systems, dem man nicht entkommen konnte. Sorokin wurde im Westen mit Werken wie Die Schlange, Herzen der Vier und Obelisk bekannt und gilt als Experte für Kannibalismus, Sadismus, Kot, Folter und Mord.


Kurzvita

  • geboren am 7. August 1955 in Moskau
  • 70er Jahre Studium als Ingenieur für Petrochemie und Gasindustrie
  • danach Arbeit als Buchillustrator
  • 80er Jahre Zusammenschluß mit Dmitrij A. Prigow, Lew Rubinstein, Andrej Monastyrskij und den ›Medizinischen Hermeneuten‹ zu den Moskauer Konzeptualisten


Publikationen (Auswahl)

Romane:
  • Norma. 1979/1980,
    deutsch: Die Norm. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg.
    Köln (DuMont) 1999.

  • Roman. 1984-1989.

  • Tridcataja Ljubov Mariny. Moskau 1993,
    deutsch: Marinas dreißigste Liebe. Zürich 1993.

 

Medienecho

 

Bericht

»Ich vertraue mehr den Künstlern als den Wissenschaftlern.« Mit diesen Worten charakterisierte Vladimir Sorokin sein Verhältnis zu den exakten Wissenschaften und wohl auch das zur strengen Philologie. Mit einem deutlichen Gewinn an Vertrauen zu Kunst und Künstlern läßt sich ebenfalls der Ertrag des Seminars beschreiben, das Sorokin als erster Inhaber der Samuel Fischer-Gastprofessur für Literatur von April bis Juli 1998 geleitet hat.

Auf dem Programm stand der Moskauer Konzeptualismus, eine Kunstrichtung, der mit stiller Lektüre nicht beizukommen ist. Sorokin gewann sein Publikum für die Gründer dieser Schule, von Andrej Monastyrskij über Viktor Nekrasov bis zu Dmitrij Prigov, indem er Videoaufnahmen von den frühen Aktionen der Konzeptualisten vorführte. Erst über den Umweg der ›Aktionen‹ der 80er Jahre gelangte die Gruppe von Studenten und Studentinnen um Sorokin, denen auch Übersetzerinnen und Übersetzer sowie Musik- und Kunstwissenschafter angehörten, zu den Texten selbst, die häufig in Abwechslung mit Tonbandaufnahmen von Lesungen die recht ungewöhnliche Materialbasis der Diskussion bildeten.

Ungewöhnlich war auch die Schule der Konzeptualisten, und sie ist es bis heute geblieben. Sorokin hat die Multimedialität des Konzeptualismus zur pädagogischen Strategie erhoben; sie forderte, ja sie erzwang in penetranter Indifferenz zur Textversessenheit der herkömmlichen Philologie eine unentwegte Sensibilisierung für die performativen und anthropologischen Grundlagen der Kunsterfahrung – und zwar Kunsterfahrung vor den Verteilungskämpfen der Einzelwissenschaften. Der im Seminar methodisch geforderte Durchgang durch raumbezogene Horizonte der Plastik oder durch inszenierte Vertonungen und Lesungen, ehe man zu den Texten gelangte, hat wohl auch in der Entstehung des Moskauer Konstruktivismus sowie in Sorokins Werdegang als Autor eine biographische Grundlage.

Sorokin chronologisiert seine eigene Entwicklung als Romanschriftsteller, indem er erst von seiner Beschäftigung mit der Musik, mit Zeichnen und mit der Choreographie berichtet, bevor er von seiner ersten literarischen Begegnung mit Kabakov, Bulatov, Prigov und Monastyrskij zu sprechen kommt. Ein nahezu flächendeckendes Kunstverständnis war dem Moskauer Konstruktivismus seit seiner Entstehung eigen. Auch die literarischen Werke der Konstruktivisten, die im sowjetischen Untergrund zirkulierten, waren nicht selten mit Illustrationen und Fotos versehen; bei den Lesungen der Konzeptualisten traten die Kompetenzen der Rhapsoden in den Vordergrund. Im Seminar selbst ergänzte Sorokin die Reihe der Medien durch Ausschnitte aus seinem seinerzeit noch nicht fertiggestellten Film Moskau.

Sorokin hat es verstanden, seinem innovativen Vorhaben eine akademische Form zu verleihen. Nach einer einleitenden Sitzung begann die Arbeit im Seminar mit zwei bislang unveröffentlichten Texten von Andrej Monastyrskij aus den 70er Jahren, die Sorokin vom Autor ausgeliehen hatte; mit Videoaufnahmen von Monastyrskijs Aktionen wurde indes deutlich, daß Monastyrskij nicht zuerst und nicht nur als Dichter, sondern eher als spiritus rector der Konstruktivisten galt. Es folgten Sitzungen, die der klangmalerischen Poesie Dmitrij Prigovs gewidmet waren. Und hier wieder begleiteten rare (zumal illegale) Video- und Tonbandaufnahmen die Lektüre und Diskussion im Seminar. Wie Monastyrskijs Lyrik verfolgt Prigovs Dichtung keine narrative Strategie, die in eine nacherzählbare Handlung mündet. Prigov ist wie kein zweiter in der russischen Gegenwartsliteratur ein Performance-Künstler.

Sorokins Einleitung in Prigovs Œuvre lenkte die Diskussion auf die phonetische Phantasie, die Stilvielfalt und die oratorischen Elemente seiner Dichtung. Wie bei Allen Ginsberg, mit dem Sorokin den russischen Avantgardisten vergleicht, kommen Elemente des Buddhismus sowie eine verblüffende virtuose Fähigkeit, den Stil anderer Dichter nachzuahmen, in Prigovs Lyrik dicht nebeneinander vor. Es folgten Sitzungen zu Lev Rubenstein, und spätestens hier gewann Sorokin sein Publikum auch für den Stil seiner Seminarleitung. Die Sitzungen begannen stets mit einer klassischen biographischen Einleitung zum Autor, bei der Sorokin auf eine über Jahrzehnte währende Freundschaft mit allen Autoren zurückgreifen konnte. Es entstand ein Psychogramm des jeweiligen Künstlers mit Andeutungen auf Verbindungen zur Textpoetik. Dies entspricht einerseits der Auffassung Sorokins vom traumatischen Ursprung der Kunst (die Kindheitserlebnisse mehrerer Autoren waren traumatischer Natur), andererseits aber dem Lebensstil und der Schreibpraxis einiger der behandelten Autoren, die an der Grenze zwischen Avantgardismus und Irrsinn lebten.

So Lev Rubinstein, den Sorokin seit Ende der 70er Jahre kennt und der – wie auch Dmitrij Prigov – jahrelang unter dem Verdacht der Graphomanie stand. Rubenstein war bis 1990 ein Bibliotheksangestellter; seine Dichtung brachte er selten zu Papier, denn sein Format war durch seine Berufspraxis bedingt: er schuf Sprüche, Verse, Aphorismen und zyklische Gedichte ausschließlich auf Karteikarten, die wie in der Bibliothek, wo er arbeitete, ihre spezifischen Einordnungsprinzipien hatten. Die durch Rubenstein geprägte Karteigattung erschwerte die Verbreitung seiner Dichtung. Das ungewöhliche Format behagt nicht jedem Leser: die Erfahrung im Seminar mit dem Material, das Sorokin zur Verfügung stellte, bestätigte eher dieses Vorurteil.

Anders erging es den Teilnehmern in den Sitzungen zur Dichtung von Jurij Mamleev, der kaum schulältrig in der Bibliothek seines Vaters (ein Psychiater) die Kehrseite des Menschen kennenlernte und kurz nach Abschluß eines Physikstudiums in die sowjetische Bohéme untertauchte: eine ›Gesellschaft sexueller Mystiker‹ war mitunter eine seiner Gründungen.

Sorokins Exkurse in die Pop-Kultur (›Love Parade‹, ›Aliens II‹) verdeutlichten die historischen und kulturellen Themen und Fragestellungen, die ihn wie andere ehemalige oder gegenwärtige Konstruktivisten interessierten: Wie agiert der kollektive Körper? Und welches Verhältnis hat er zur Ästhetik der Stalinzeit? Wird der biologische Körper des Individuums das dritte Jahrtausend überstehen?

Brian Poole