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Etgar Keret - Samuel Fischer-Gastprofessor im Wintersemester 2003/2004

Etgar Keret

Etgar Keret

Ein junger Mann auf Amerikatrip erinnert sich durch eine im ersten Moment alltäglich anmutende Begegnung an seinen wohl größten Lebenswunsch: »Ich persönlich habe immer davon geträumt, ein Drehbuchautor zu sein, schon von Kindheit an.« Im Wintersemester 2003/2004 konnte der Ich-Erzähler seinem Traum ein wenig näher kommen, indem er das Blockseminar From Idea to Plot besuchte, das sein Autor Etgar Keret als Samuel Fischer-Gastprofessor für Literatur im November 2003 gab.

In den zahlreichen Kurzgeschichten des 1967 in Tel Aviv geborenen und heute an der dortigen Filmakademie lehrenden Schriftstellers sind die plötzlich aus dem tristen Alltag fortgerissenen Menschen häufig anzutreffen. Sie vereinen sich gemeinsam mit den von der Liebe Enttäuschten, den vom Selbstmord Gefährdeten oder den vom Militär Gedrillten zu einem spannungsreichen Abbild einer israelischen Gesellschaft, in der die jüngere Autorengeneration zwischen der Vermittlung traditioneller Werte und dem Einfluß westlicher Popkultur aufgewachsen ist. Etgar Keret gestattet in seinen realistischen Erzählungen einen Blick auf ein Leben in alltäglicher Angst, versucht aber gleichzeitig, ein zukünftig friedliches Zusammenleben mit den Palästinensern zu entwerfen.

Die realistischen Beschreibungen des Alltags werden in vielen der Kurzgeschichten, die in Israel in hohen Auflagen erscheinen und bisher in drei deutschsprachigen Sammlungen vorliegen, durch ein phantastisches Moment gebrochen. Dieses Moment verleiht den meist nicht mehr als drei bis sieben Seiten umfassenden Erzählungen eine unerwartete und witzige, bisweilen makabere und tragische Wendung. Oder es wird, wie in dem Roman Pizzeria Kamikaze, eine vordergründig phantastische Unterwelt imaginiert, in der sich die (un)toten Gestalten an der Art ihres verübten Selbstmordes erkennen, dabei jedoch ein ebenso langweiliges Dasein fristen wie in ihrem lebendigen Vorleben – nur daß der Selbstmord als ein Ausweg nicht mehr möglich erscheint.

Es ist nicht verwunderlich, daß viele der Kurzgeschichten mittlerweile als Comic-Strip umgesetzt wurden, denn die Anlage der Geschichten erlaubt den Übergang ins Bildgenre geradezu. So ist beispielsweise der angesprochene Roman Pizzeria Kamikaze als vierteilge Fortsetzung in der Comic-Serie bipolar erschienen, fünf der Kurzgeschichten sind in dem Band Jetlag der israelischen Künstergruppe Actus Tragicus versammelt. Die bisher etwa 40 Kurzfilme, die auf der Grundlage seiner Erzählungen gedreht und zum Teil mit Preisen ausgezeichnet wurden, sind Ausdruck für die filmische Qualität von Etgar Kerets Prosa – und vielleicht schreibt Keret in naher Zukunft einmal darüber, wie er vor einer der Seminarsitzungen seinem Ich-Erzähler ein Exemplar des Buches übergab, das jenen jungen Mann aus der alltäglichen Bahn geworfen hat, nur weil es so einen vielversprechenden Titel hatte: HOW TO MAKE A GOOD SCRIPT GREAT.



Publikationen

Roman:
  • Hakajtana schel Kneller / Kneller’s Happy Campers.
    Tel Aviv (Keter & Zmora Bitan) 1998,
    deutsch: Pizzeria Kamikaze. Aus dem Hebräischen von Barbara Linner.
    München (Luchterhand) 2000.
 

Kurzgeschichten:
  • Gaguay le-Qisinger / Missing Kissinger.
    Tel Aviv (Zmora Bitan) 1994,
    deutsch: Gaza Blues. Aus dem Hebräischen von Barbara Linner.
    München (Luchterhand) 1996.

  • Sinnorot / Pipelines.
    Tel Aviv (Am Oved) 1992,
    deutsch: Der Busfahrer, der Gott sein wollte. Aus dem Hebräischen von Barbara Linner.
    München (Luchterhand) 2001.

  • Anihu / Cheap Moon.
    Tel Aviv (Zmora Bitan) 2002,
    deutsch: Mond im Sonderangebot. Aus dem Hebräischen von Barbara Linner.
    München (Luchterhand) August 2003.
 

Sammelbände:
  • Wüstenwind auf der Allee. Zeitgenössische israelische Autoren blicken auf Deutschland. Herausgegeben von Anat Feinberg. Mit Beiträgen von Uri Tzaig, Etgar Keret, Anat Feinberg, Aharon Megged, Aryeh Sivan, Nava Semel, Savyon Liebrecht, Yoram Kaniuk, Ruth Almog, Hanoch Bartov, Asher Reich, Leah Aini, Orly Castel-Bloom, Yossi Avni und Michal Peleg.
    Berlin (Aufbau) 1998.

  • Jetlag: 5 Graphic Novellas. Stories by Etgar Keret. Graphics by Actus Tragicus (Yirmi Pinkus, Mira Friedmann, Rutu Modan, Batia Kolton, Itzik Rennert).
    Easthampton, MA (Westhampton House) 1999.

  • Angst im eigenen Land. Israelische und palästinensische Schriftsteller im Gespräch. Herausgegeben von Rafik Schami. Mit Beiträgen von Batya Gur, Anton Shammas, Etgar Keret, Samir El-Youssef und anderen.
    Zürich (Nagel und Kimche) 2001.

 

Informationen im World Wide Web

 

Medienecho

 

Bericht

Der israelische Schriftsteller und Filmemacher Etgar Keret lehrte im Wintersemester 2003/2004 als zehnter Samuel Fischer-Gastprofessor für Literatur am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin. Seine Vorgänger waren: Vladimir Sorokin (Rußland), V. Y. Mudimbe (Congo), Kenzaburo Oe (Japan), Scott Bradfield (USA), Sergio Ramírez (Nicaragua), Marlene Streeruwitz (Österreich), Robert Hass (USA), Yann Martel (Kanada) und Alberto Manguel (Argentinien).

Etgar Keret (Jahrgang 1967) ist Autor zahlreicher Kurzgeschichten und eines Romans, von Comics, Kinderbüchern sowie Drehbüchern für Filme und Fernsehen. Vier Publikationen liegen beim Münchener Verlag Luchterhand (Bertelsmann, Random House) in deutscher Sprache vor, jeweils übersetzt von Barbara Linner: Mond im Sonderangebot. 33 Short Stories (2003), Der Busfahrer, der Gott sein wollte. Erzählungen (2001), Pizzeria Kamikaze. Roman (2000) und Gaza Blues. Erzählungen (1996).

Kerets Thema ist die zeitgenössische israelische Gesellschaft. Er setzt sich auseinander mit dem offiziellen Gedenken der Schoa und mit dem Zusammenleben zwischen Juden und Arabern. Seine Stile variiert Keret zwischen Realismus und Phantastik, zwischen Satire und Groteske.

Über seine literarische und filmische Arbeit hinaus beteiligt sich Keret als politischer Beobachter an öffentlichen Debatten mit ebenso differenzierten wie pointierten Stellungnahmen zur israelischen Innenpolitik, zum Nahost-Konflikt und zum Antisemitismus.

Etgar Kerets Seminar From Idea to Plot war der erste Workshop in ›kreativem Schreiben‹, der im Rahmen der Samuel Fischer-Gastprofessur für Literatur stattgefunden hat.

Von Beginn an hatte die Veranstaltung, die durchweg in englischer Sprache geführt wurde, etwa 50 Teilnehmer, die schon in der ersten Sitzung eigene Beiträge verfaßten und zur Diskussion stellten. Etgar Keret animierte seine Studenten gleich eingangs zu aktiver Mitarbeit. Der Kurs begann mit der Aufforderung, innerhalb von dreißig Minuten eine Geschichte zu verfassen, die das Motiv des Zeitdrucks reflektiert. Die fertigen Texte wurden von den jeweiligen Autoren verlesen und in der Gruppe diskutiert.

Analytisch wurde der »Plot« jeder Kurzgeschichte von deren »Subtext« differenziert, das heißt: die Handlung (was passiert?) vom Inhalt, den diese – scheinbar nebenbei und doch möglicherweise hauptsächlich – transportiert (worum geht es?). Die anschließende Übung bestand darin, den Subtext paarweise mit einem Kommilitonen zu tauschen und unter geänderten Vorgaben jeweils eine neue Geschichte zu entwickeln.

In einer weiteren Übung, die Etgar Keret mit seinen Studenten durchführte, waren die Teilnehmer aufgefordert, »Pub stories« zu erzählen, Geschichten, die man immer wieder zum besten gibt, weil sie im Freundeskreis oder bei neuen Bekannten als lustig, kurios oder interessant empfunden werden und daher ›gut ankommen‹. Warum, fragt Keret, ›funktionieren‹ diese Geschichten? Was macht ihren Reiz aus? Kurz: Was ist eine ›gute story‹?

Eine weitere Technik der Plot-Entwicklung ist der Bezug auf tradierte Muster, auf mythische Narrationen, sei es klassische (zum Beispiel Ödipus) oder popkulturelle (zum Beispiel Marilyn Monroe). Die Studenten schrieben Geschichten, in denen mythische Figuren eine Rolle spielen.

Anhand zweier Spielfilme, Niel Jordans The Crying Game und Miller’s Crossing von den Cohen-Brüdern, thematisierte Keret darüber hinaus die Plot-Strukturen im filmischen Erzählen.

Eigens für das Seminar von Etgar Keret entwickelte Matthias Grau, Studentische Hilfskraft am Institut für AVL, auf der Basis der Software TWiki eine Internet-Plattform, die das kollektive Publizieren, Redigieren und Kommentieren der im Seminar geschriebenen Texte im Internet möglich machte. Die Studierenden konnten ihre eigenen Beiträge digital präsentieren, Anregungen und Bemerkungen zu fremden Geschichten anfügen und gegebenenfalls Änderungen an ihren eigenen Arbeiten vornehmen, wobei jederzeit gewährleistet blieb, daß auf frühere Fassungen zurückgegriffen werden konnte. Das Seminar fand auf diese Weise nicht nur im Seminarraum im Hüttenweg 9, sondern überdies begleitend im Internet statt.

Und das Seminar erhält noch eine weitere Dimension: Als Ergebnis des Kurses erscheint eine Buch-Publikation, eine Anthologie aus den im Kurs entstandenen Geschichten. Aus etwa 150 Texten, welche die Teilnehmer verfaßten, versammelt Etgar Keret die herausragenden, die unter seiner Anleitung überarbeitet und schließlich sprachlich von einem englischen native speaker durchgesehen werden.

Nach dem Ende des Kurses setzten die Teilnehmer die gemeinsame Arbeit in einer studentischen Gruppe selbständig fort.

Das Seminar von Etgar Keret an der Freien Universität Berlin wurde ergänzt durch zahlreiche Veranstaltungen: durch eine öffentliche Lesung und Podiumsdiskussion am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft am 6. November 2003; im Deutschen Nationaltheater Weimar am 11. November; in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn am 13. November; und in der Schaubühne am Lehniner Platz am 18. November. Weitere Veranstaltungen fanden statt in Schwabach am 9. November, in Bochum am 14. November, in Hildesheim am 25. November und in München am 27. November. Am 6. Dezember kehrte Etgar Keret nach Berlin zurück, um auf Einladung der Bundeszentrale für Politische Bildung einen nicht öffentlichen Vortrag im Jüdischen Museum zu halten.

Am Institut für AVL wird die Samuel Fischer-Gastprofessur für Literatur von Etgar Keret durch eine Gastprofessur von Galili Shahar, Historiker und Literaturwissenschaftler an der Universität Jerusalem, ergänzt. Professor Shahar leitet ein Seminar mit dem Titel Die unheilige Sprache. Überblick über neue israelische Literatur, in dem auch Texte von Etgar Keret thematisiert werden. Beide Gastprofessuren bilden am Institut für AVL einen Schwerpunkt zur israelischen Literatur, der auch Studierenden anderer Fachrichtungen (zum Beispiel Judaistik) und anderer Hochschulen offensteht.

Oliver Lubrich,
Berlin, 5. Januar 2004